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Das Auditorium

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23.02.2005
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Das Auditorium

Es steht auf einem Stuhl, prosaisch, heroisch und würdevoll. Es trägt einen schicken Anzug, eine Kombination aus Jackett und Hose, dazu eine schwarze Krawatte, welche mit einem einfachen Windsorknoten gebunden wurde. Seine feinen Lackschuhe bilden einen derben Kontrast zu dem alten und abgenutzten Holzstuhl, auf dem es steht. Doch dem Auditorium fällt dies weiter gar nicht auf. Eine bizarre Szenerie bietet sich dem Spektator. Es macht sich bereit, greift in die linke Jacketttasche, erschaudert kurz und zieht dann, sichtlich erleichtert, einige Blätter daraus empor. Nachdem es sich die Zeit genommen hat, sie noch einmal kritisch zu überfliegen, zu ordnen und, da es sie vergessen hatte, zu paginieren, befeuchtet es hastig seine Lippen mit der Zunge, schaut in das breite, fast gespenstisch wirkende Publikum, holt tief Luft, hält sie an, blickt, sieht, ganz konzentriert, nach vorn, stößt die angehaltene Luft wieder aus und beginnt zu sprechen:
„Verehrte Damen und Herren, liebe Zuhörer und Kollegen, liebe Mütter und Väter, ich freue mich ganz außerordentlich, dass Sie heute alle gekommen sind, um meinem Vortrag, nein, ich muss es doch eher einen biographisch-versetzten Aufsatz nennen, zuzuhören und sich danach jeder für sich selbst zu diesem Thema, diesem Block, diesem Gebiet, welches für mich eine ganz eigene Prägnanz nunmehr aufweißt, seine Gedanken zu machen. – Doch ich warne Sie im vorneherein, die Wissenschaft wird zu kurz kommen, das Gefühl einen glibberigen Abklatsch zersetzter Romantik mit sich tragen und die Vernunft, ja die - “ Weiter ist es nicht gekommen, es hat die strengen Einzelblicke nicht ertragen können, rückt seine Krawatte zurecht, denkt sich nichts weiter, es kann auch anders gehen, formloser, wenn es denn gewünscht wird.
„Ich bin mir darüber im klaren,“, krächzt es stimmbrüchig aus ihm heraus, „dass“, es räuspert sich, „dass es keinen interessieren wird. Meine Mutter war eine gute Frau. Wieso ich in der Vergangenheit spreche? Ist das nicht offensichtlich? Ihr Primaner, discipuli, wollet schon domini genannt werden? Ad memoriam, meine Mutter. Was ist an dieser Frau, dass ich jetzt in solitudine auf diesem Stuhle stehe?“ Schweißausbruch. Es überlegt kurz, den Vortrag abzubrechen. Das Auditorium tobt. Fratzen mischen sich zur Unkenntlichkeit. Aus einstigen Freunden, Kollegen und Eltern ist ein Brei der Burleske geworden, um sich zischelnd, um sich brüllend, um sich fragend, verzerrt, abstoßend, angsteinjagend und nur für es. Nur für es.
„So fahre ich fort. Keiner kann was dafür, dass meine Mutter mich liebte und wie sehr, sehr ich an diesem einen Rockzipfel immer nur an diesem einem das Glück der Welt, und sollte es vergänglich bis in alle Tage bleiben, vermutete, so sehr ist der Drang geworden, von ihm loszukommen, um das Elend, das Nichtige, meine eigenen Tiere, meine Schlange und meinen Adler zu finden, -geworden. Und was ist alles andere geworden? Heute ist Muttertag. Vor etlicher Zeit an diesem selbigen Tag war er es auch. Ein Tag, schöner, weihrauchgeschwängerter als jeder derer, die die Kirche propagiert von einem Paradiese. Ich war frei. Nein – ich fühlte mich frei, frei, weil ich ein Kind war, das geliebt wurde. Und dieser enttäuschende Blick, der sich im mein Mark gebohrt und mir die Freiheit alsbald geraubt – kann ich widerstehen zu sagen, ich hätte eines der Tiere in eben diesem Augenblicke schon entdeckt? Kann ich behaupten, kühn und tapfer, mein Leben ging nun in den seinigen Bahnen, von einem, ja einem Augenblick abhängig gemacht? Und meiner Mutter Liebe? – Doch, zurück zum Wesentlichen.“
Eine Figur des Auditoriums, welches sich nun wieder beruhigt hatte und angeregt dem Sinnen des Sprechenden, Singenden, Krächzendem und Phantasierendem gelauscht hatte, welches so sehr an es gebunden war, an Schmerz und Verlust, eine dieser Figur des ganz besonderen Auditoriums stand auf und zeigte auf es. Stand stumm da und zeigte auf es. Streckte den linken Arm aus, den linken Zeigefinger aus, ballte den Rest der Hand zusammen und zeigte auf es. „Und das, wo heute Muttertag ist!“ Eine weitere Figur aus dem Auditorium tat es der ersten gleich. Keine Anklage, kein Schmerz, kein Gefühl. Bei jeder weiteren Figur, die sich in dieses sonderbare Schauspiel einfügte, zuckte es leicht zusammen, doch es reichte nicht, das es sein Gleichgewicht verlor, taumelte oder gar fiel. „Ich falle mit euch. Ihr wart mir ein gutes Publikum, meine treuen Zuhörer, die wussten, und ich nichts. Und unter euch meine Eltern. Wie sehr ich sie liebte, was käme meinen Gedanken doch gleich? Eine saubere, formulierte, bedachte und anständige Rede hatte ich für euch vorbereitet. Aber kann ich mich dem entziehen? Muss eure Gunst mein Zögern verlieren? Bedarf es meiner statistisch sicherlich über dem Durchschnitt liegenden solchen Rede wie ich sie formulierte überhaupt noch an diesem Punkte, der mich euch zugesichert, der mich euch hingibt, der mich euch zu euch macht? Meine Freunde, ich alle hier, haltet die Laterne hoch, lasst mich das Licht sehen, welches ihr mir weist. Mehr Holz, mehr Öl, mehr Strom. Freunde wie euch, die ihr mich liebt, wie ich meine Eltern, wie wir uns und alle mich. Ich kann nicht mehr den strukturierten, formulierten und zurechgelegten Gedanken preisgeben. Dazu ist es nun nicht mehr.“ Es pausiert, faltet ordentlich die Blätter, steckt sie zurück in die Tasche des Jacketts und richtet seinen Blick wiederum starr nach vorn, sieht die Luft tanzen, sieht die Schatten spielen, sieht die Wand. Das Auditorium steht immer noch, ungerührt solcher Worte, doch der Gerührte selber schürzt die Lippen und artikuliert fast vergessen: „Und dieser Punkt ist zu erreichen. Kollegen es ist mal wieder soweit, das Auditorium wird aufgelöst, das Symposium beigelegt, und diesmal kommt ein Deckel drauf. Mehr nicht. Kennt ihr das Land, wo das Publikum klatscht? Wo es sich meiner annimmt und auf einer Woge der Freude trägt, wo es sich meiner annimmt? Nehmt die Hände beisammen und schneidet den Faden, der über eurer aller Köpfe hängt. Ich habe längst verstanden, bin nicht müde, bin nicht weise. Nehmt doch bitte die Hände beisammen.“ Das Auditorium wird an die Wand gedrängt, alle auf einmal, alle zusammen und keiner fasst den anderen bei der Hand. Es zieht seinen Anzug zurrecht und lockert seinen Krawattenknoten ein wenig. „Und ich hoffe, dass Sie beim nächsten Mal wieder dabei sein werden. Der Vortrag wird dann in gewohnter Weise fortgesetzt und ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“
Nachdem es diese Worte gesprochen hat, löst sich das Auditorium von der Wand, das Publikum applaudiert, figurenhafte Schemen werden deutlicher und kristallisieren sich zu Personen, zu Eltern, Freunden und Kollegen. Alle klatschen sie, während es schon nicht mehr auf dem Stuhle steht und die Schlappen Lackschuhe andeuten, dass die Rede vor diesem Auditorium schon zu Ende war, bevor sie begonnen hatte.

 
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Seien Sie mir unendlichst gegrüßt, El Unico!

Deine Geschichte ist seltsam, aber gut. Sehr gut, möchte ich fast sagen. Ganz verstanden habe ich sie nicht, aber die Sprache beflügelt den Geist. Respekt! Ich meine aber die Pointe verstanden zu haben, hoffe aber gleichzeitig, dass die Pointe, die ich sehe, auch eine ist. Ich sage einfach mal, ich habe im Großen und Ganzen den Text gerafft, werde jedoch jedem noch kommenden Leser den Clou selber entdecken lassen (Kurz gesagt, ich habe Angst davor, in Deiner Geschichte etwas anderes zu sehen als Du).
Ich finde den Text sprachlich genial und höchst interpretierbar, was heutzutage sehr selten ist.

Ein Toast auf Shakespeare und einen Gruß zu Hunter S. Thompson, der im Himmel auf einem Meskalintrip ist, oder auf Äther.

Bis dann und so.

Pei Mei (Muck the huck)

 

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