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Das Auge des Betrachters
Ich sitze in einem Café am Marktplatz und esse Apfelstrudel mit warmer Vanille-Sauce und Erdbeeren. Neben mir liegt ein Schulheft. Weil ich mir keinen richtigen Block leisten kann. Ich finde, der steht mir nicht zu. Es wäre anmaßend von mir, einen Block zu benutzen. Ein Diktiergerät wäre zwar okay, aber so was lehne ich aus professionellen Gründen ab. Denn das gesprochene Wort ist, seien wir mal ehrlich, ziemlich peinlich.
Ich sitze also mit Apfelstrudel und Schulheft und Kugelschreiber – kein sehr teurer, aber er funktioniert – in einem Café am Marktplatz. Ich bin hier nicht sehr oft. Die Stadt ist klein und Menschen erschöpfen sich. Wenn der Bürgermeister mir etwas zu sagen hat, dann schreibt er eine Pressemitteilung. Wenn der Direktor der Schule in den Ruhestand geht, dann gibt es eine Feier. Es reißt sich keiner um ein Interview. Wirklich, niemand. Die paar lokalen Bands, die es gibt, denen ist das peinlich. Die gehen dann in eine Kneipe rein und werden damit aufgezogen, dass sie Interviews geben, so als wären sie irgendwelche Rockstars. Es gab hier mal eine kleine Combo, die habe ich wirklich gerne interviewt, drei, vier Mann, Sozialarbeiter, die meisten. Aber nach einer Weile erschöpft sich das und man schreibt halt wieder das Übliche.
Aber heute Morgen kam ein Anruf und jetzt sitze ich hier mit Kugelschreiber, Apfelstrudel und einem Schulheft und knoble im Kopf schon den kleinen Kasten neben dem Interview zusammen. Die Biographie, Eckdaten. Wurde geboren, wuchs auf, studierte, lebte, machte. Fast wie ein Nachruf. Der Apfelstrudel ist gut. Ich mag es, wenn sich das alles im Mund vermischt. Vanille, Erdbeeren, Strudel. Kalt und warm, fest und flüssig. Es ist ein schöner Ort, um seine Geschichte zu erzählen. Er lädt dazu ein, sich Zeit zu nehmen und zu plaudern. In so ein Café geht man nicht mit einem Fremden, nur mit einem guten Freund. Und ein Fremder würde auch kein Schulheft mit sich rumschleppen wie ein Vierzehnjähriger. Er würde es sich nicht trauen. Es würde seine Glaubwürdigkeit beflecken, seine Seriosität.
Ich beobachte die Eingangstür, schon länger. Niemand kommt. Es ist ein ruhiger Tag, und nicht gerade die Saison für Touristen und wer sonst geht schon in Cafés? Nur Verliebte, Rentner und Stadtfremde. Es ist November. Niemand ist im November verliebt. Und Rentner sterben im November. Ich weiß nicht, wieso.
Die Tür öffnet sich. Ein Mann schaut herein, er hat weißblondes Haar, also Haar, bei dem man nicht weiß, ob es noch blond oder schon weiß ist. Jetzt schiebt er sich ganz hinein, er trägt eine schwarze Sonnenbrille und einen weißen Anzug, so wie ein Dirigent. Er schaut sich um, seine Hände sind frei, keine Aktentasche oder eine Mappe, oder so was. Ich frage mich, wo er das Foto versteckt hat. Denn das gestehe ich den Leuten zu, sie sollen ihr eigenes Bild mitbringen. Ich hebe meine rechte Hand und hoffe, dass ich mich jetzt nicht lächerlich mache. Er nickt zur Begrüßung, steht immer noch in der Tür, und geht mit langen Schritten auf mich zu. Er ist schlank und sehnig. Seine Bewegungen haben etwas von einem Athleten. Aber kein hoch gezüchteter Athlet, wie man sie heute sieht, sondern viel natürlicher. Ein antiker Athlet. Einer der alten Olympioniken.
Er setzt sich zu mir an den Tisch mit einer fließenden Bewegung und sagt: „Dorian Gray hatte es gut.“
Ich frage ihn, ob ich gleich mitschreiben solle. Er hätte sich wohl schon alles zusammengelegt. Das sei wirklich eine tolle Überschrift.
„Ach“, sagt er. „Machen Sie, wie Sie meinen. Sie sind der Experte.“
Ich bin ihm dankbar, dass er nicht auf mein Schulheft sieht.
„Aber eine Bitte habe ich an Sie. Könnten Sie bitte mit dem Essen aufhören. Es unterbricht meine Konzentration.“
Ja, sage ich. Natürlich. Sei ohnehin gerade fertig geworden. Und schiebe den Teller mit den letzten fünf, sechs Bissen Apfelstrudel zur Seite.
„Nein, ich meine: Stellen Sie es doch bitte ganz weg. Fräulein? Ja, Fräulein?“
Die Inhaberin kommt. Sie ist fünfzig, Witwe und hat graues Haar. Ich glaube, niemand hat sie je Fräulein genannt.
„Nehmen Sie doch bitte den Strudel mit, ja?“
„Wollen’s was trinken, die Herrn?“
„Nein, danke. Das ist nicht nötig“, sagt der Mann. Und mir fällt auf, dass die Brille wie fest geschweißt auf seiner Nase sitzt. Es ist kein Kokettieren, sie rutscht nicht und man sieht auch seine Augen nie. Und ich frage mich jetzt, ob es einfach ein Blinder ist. Das wäre nicht schlecht. Was fürs Herz. Blinder in der Kleinstadt.
Das Fräulein räumt meinen Teller weg, ich schlage mein Schulheft auf, zücke den Kugelschreiber und frage, ob er blind sei.
„Das Gegenteil“, sagt er. „Ich sehe zu gut.“
Ich frage ihn, wie er das meine.
„Lassen Sie mich von vorne anfangen, wenn es Ihnen nichts ausmacht, ja?“
Ich sage, dass der Kunde König sei.
Er lächelt dünn. Und jetzt sehe ich, dass seine Haare hellblond sind. So wie Licht, das auf eine beige Wand fällt.
„In den Sechzigern war ich verliebt“, sagt er. „Claudia Melleschinski. Eine herrliche Frau. Ein richtiges Weib.“
Hm, Altersgeilheit, denke ich mir, als ich sehe, wie er mit seinen Händen zwei große, runde Formen andeutet. Wirklich nichts für den Lokalteil.
„Ich sage Ihnen, ich wäre für sie gestorben, so hab ich sie geliebt. Ein Prachtweib. Nett, freundlich, und gelacht hat sie, da ist einem das Herz aufgegangen und man wollte dem Herrgott auf Knien dafür danken, dass es die Welt gibt. Aber, ich war damals nur ein kleiner Maurer-Lehrling und sie war schon ein Weib, sag ich Ihnen. Und da hab ich ein bisschen geflunkert immer und erzählt, dass ich der Sohn von einem Banker bin und hab ihr Geschenke gemacht. Sie verstehen das doch, oder? Ist doch rechtens gewesen?“
Ja, sage ich. Sei kaum was dagegen zu sagen.
„Nur irgendwann, da war’s vorbei, ich hab ja gemerkt, wie das Konto immer leerer wurde. Und dann hab ich es vorbereitet, um mir sicher zu sein und hab sie gefragt, wie es wohl wär, wenn ich kein Geld hätte und nichts.“ Seine Stimme wird leiser und ich ahne, was jetzt kommt. Irgendwas fürs Taschentuch. Aber natürlich frage ich mich auch, was das alles mit mir zu tun hat und mit meinen Lesern. „Und sie hat gesagt: Benno, ich hab dich so lieb, auch wenn du in Sack und Asche laufen tätst.“
Ich schreibe das erste Wort in mein Schulheft: Benno. Es fällt ihm gar nicht auf.
„Einen Tag später hab ich einen Kredit aufgenommen, und von dem Geld hab ich ihr einen Ring gekauft, mit einem echten Stein, und bin zu ihr gefahren mit dem Bus und hab an ihrer Tür geklingelt. Aber ihr Vater hat aufgetan und gesagt, dass er sich erkundigt hätte über mich und dass ich machen solle, dass ich Land gewinn. Scher dich zum Teufel, hat er zu mir gesagt. Und da wusst ich’s, es war alles nur eine Lüge.“
Moment, sage ich. Sie habe also seine Frage vom Vorabend zum Anlass genommen, ihn durchleuchten zu lassen.
„Ja“, sagt er. „Aber darum geht’s ja nicht. Sie hat mir doch noch gesagt, dass sie mich liebt.“
Aber er hätte sie doch angelogen.
„Darum geht’s nicht“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Darum geht es wirklich nicht“, sagt er nun lauter. „Darum geht es ganz und gar nicht!“, schreit er. Er schlägt mit einer Hand auf den Tisch und der wippt nach. Mein Schulheft macht einen Sprung nach oben. Die Sonnenbrille sitzt immer noch auf seiner Nase.
Gut, sage ich. Also darum gehe es nicht. Ich lasse meinen Blick zur Tür gleiten.
„Ich bin ihr aufgesessen, der falschen Schlange. Also das dachte ich damals. Ich war ja noch jung.“ Er spricht wieder moderat und milde. Ein wenig wie Peter Lustig.
„Aber Sie sind selbst ja noch in dem Alter? Nicht wahr? Sie haben so eine junge Stimme.“
Danke, sage ich.
Er lächelt dünn. „Da nimmt man sich das zu Herzen. Ich lief tagelang durch die Stadt und hab gedacht, ich könnte nie wieder jemandem vertrauen, weil mich alle anlügen. Das ist so, wir waren uns ja ganz nahe. Innig. Aber das sagt man heute nicht mehr. Aber Sie wissen, was ich meine, oder?“
Ich sage, ja. Aber … Und dann mache ich kurz eine Pause. Ich sei ja kein Biograph und ob er sich auch wirklich sicher sei, dass er mir diese Geschichte erzählen wolle.
„Innig, ja. Das ist ein gutes Wort. Und wenn das fehlt, und auf einmal weg ist, da ist’s so, als springt dir das Herz entzwei. Weil irgendwas fehlt. Ich hab ja mit der Christina über alles reden können.“
Claudia, sage ich.
„Und wie ich da laufe, da komm ich an einem Brunnen vorbei und ich greif in meine Hosentasche und es ist alles leer. Also keine Brieftasche, kein Groschen, nichts. Und Sie kennen das ja, was man über Brunnen sagt, wenn du da einen Groschen reinwirfst, dann geht ein Wunsch in Erfüllung.“
Ich greife nach dem Mantel, der hinter mir über der Lehne hängt und schlüpfe mit den Armen schon hinein. Das Schulheft klappe ich zu. Er kriegt es gar nicht mit, er starrt mit den verspiegelten Augen auf den Tisch und redet weiter, einfach weiter.
„Ich hatte nur noch den Ring, den ich der Claudia eigentlich schenken wollte. Also hab ich den reingeworfen und mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen.“
Das freue mich, sage ich. Hätte er sie ja doch noch bekommen. Mit einer Hand winke ich das Fräulein heran, das keins mehr ist.
„Das hab ich mir aber nicht gewünscht“, sagt er und schluchzt.
Hm, mache ich. Er hätte sich doch nicht etwa den Tod der guten Claudia gewünscht, oder?
„Schlimmer“, sagt er.
Ich gebe mit der Hand ein Zeichen, dass das Fräulein noch warten soll.
Wir warten gemeinsam. Der Mann schweigt. Ich habe den Mantel schon an. Das gibt hier nichts. Das weiß ich schon lange. Er sucht nur jemanden zum reden. Und dachte, mich müsse es interessieren. Aber ich bin kein Pfarrer. Ich muss gar nichts.
Was denn nun?, frage ich ihn. Was hätte er sich denn nun gewünscht?
„Die Wahrheit zu sehen“, sagt er.
Und das sei also in Erfüllung gegangen. Also Gratulation, aber er müsse mich nun wirklich entschuldigen. Ich stehe auf.
Er greift mit einer Hand nach meinem Arm. Sein Griff ist hart und fest. „Die Wahrheit ist der Tod. Alles verfällt. Verstehen Sie nicht? Das Wasser im Brunnen ist schal und trüb geworden, die Steine auf dem Boden sind verwittert, die Gebäude um mich herum zerbröckelt und die Menschen, die sind vor meinen Augen zu Staub zerfallen.“
Ich sehe auf seine Hand, die mich am Arm festhält und schaue ihn an. Sage, er bräuchte wohl Hilfe.
„Ich dachte“, sagt er. „Dass wenn ich Claudia wiederseh, dass sie dann noch so schön ist wie am ersten Tag. Wissen’s? Dass die Liebe nicht vergeht.“
Bricht nicht, sage ich. Wie Marmor, Stein und Eisen. Sein Griff wird fester und ich schweige.
„Aber auch sie.“ Er schüttelt den Kopf. „Zerfällt vor meinen Augen. Wissen Sie, wie das ist, wenn ein Mensch zerfällt? Wenn sich die Haut zusammenzieht? Wenn sich Hautlappen aus seinem Gesicht lösen? Wenn die Augen rausquellen, wenn die Haare immer länger werden, wenn man die Äderchen am Hals sieht und wie alles vertrocknet und verwelkt. Wissen Sie, wie das ist? Wenn Sie über eine Wiese gehen und die Blumen ihre Köpfe neigen. Und alles verdorrt.“
Nein, sage ich. Es interessiere mich auch nicht. Sage es mit kalter Stimme. Seriös.
„Marmor ist erträglich“, sagt er. „Das verwittert nur. Das altert gut, hat einen eigenen Charme.“
Ich packe das Schulheft fester und sage ihm klipp und klar, dass er meine Hand loslassen solle. Dass ich jetzt gehen möchte.
„Die Wahrheit interessiert Sie wohl nicht?“, fragt er.
Kaum, antworte ich. Sonst wäre ich wohl kaum Journalist geworden. Und lächle dabei. Dünn.
Er greift zu der Brille auf seiner Nase und zieht sie ab. Ich schaue in zwei schwarze Augen und weiße Sanduhren rotieren in ihnen. Stundengläser.
Ich schaue über seine Schulter und sehe das Fräulein. Ihr Gesicht erblüht in allen Farben, so als scheine die Sonne in ihrem Rücken und blende mich mit vollkommener, warmer Schönheit. Ihre Augen blitzen wie zwei Opale, die Haare werden lang und warm, wie ein roter Schal an einem kalten Wintertag. Neben ihr steht der Teller mit dem Apfelstrudel und den Erdbeeren und der Vanillesauce. Er strahlt leuchtend, so wie Nektar und Ambrosia einst gestrahlt haben mochten. So als hätte man alles mit Lack besprüht. Die Erdbeeren sind roter und praller als alles, was ich je gesehen habe; die Sauce goldener und kräftiger und dicker. Sie könnte einen Goldrausch auslösen. Und der Strudel – ein Kunstwerk, filigran verschlungenes Gebäck mit köstlichster Füllung.
Ich sehe dem Mann in die Augen, in die Stundenglas-Augen. Doch die Stundengläser sind verschwunden.
Ich lächle und nehme ihm die Sonnenbrille aus der kalten Hand, setze sie mir auf und fühle mit zwei Fingern nach dem Puls an seiner Halsschlagader.