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Das Böse in uns
Mit nacktem Oberkörper und schwitzenden Händen sitzt Mirko vor seinem Computer.
Seine Augen brennen, der Körper glüht.
Nervös blickt er hinter sich und kontrolliert zum wiederholten Mal, ob der Rollladen geschlossen ist. Die einzige Lichtquelle im Zimmer ist der Monitor.
Als Mirko den Whisky zum Mund führt, klirren die Eiswürfel. Der Alkohol schürt das Feuer in ihm, es lodert und treibt ihn nah an eine Grenze, so nah.
Die Datei trägt den schlichten Namen Archiv. Mirko fährt langsam mit der Maus drüber, zögert, klickt einmal, hält inne – spielt mit ihr, liebkost sie beinahe.
Für einen Teil seines Bewusstseins ist dies das Vorspiel – jenen Teil, der die Hitze genießt und das Adrenalin dazu verwendet, sie am Brennen zu halten. Es ist der Teil, den Mirko seit beinahe zwanzig Jahren unterdrückt, doch seit ihn Karolin verlassen hat, kommt er wieder und wieder als dunkler Trieb zum Vorschein. Immerzu flüstert er, quält ihn, lässt ihn nachts nicht schlafen und bringt ihn dazu, sich im Internet von Leuten, die sich Der Gönner nennen, Dateien senden zu lassen.
Der andere Teil seines Bewusstseins drängt ihn, ins Badezimmer zu gehen und den einzigen vernünftigen Weg zu wählen, das Feuer zu löschen. Doch je länger Mirko wartet, umso mehr wird dieses Drängen zu einem leisen Flehen, während jener Teil zunehmend im Alkohol versinkt.
Einmal nur, sagt er sich. Vielleicht ist dann endlich Ruhe. Nur am Rande nimmt er wahr, dass hier bereits das Böse spricht, der Hexenmeister, der dieses Mal gewinnt und das Feuer entfacht.
Er öffnet die Datei. Sie enthält eine Liste von etwa zwanzig Bildern, und ohne weiteres Nachdenken klickt Mirko auf das erste. Es zeigt zwei Jungen im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren, die auf einem Bett sitzen. Sie sehen wie Geschwister aus, und beide sind bis auf ihre Unterhosen nackt. Die Hitze in Mirkos Körper explodiert, wie ein Tsunami breitet sie sich aus, erreicht sein Herz, seinen Kopf und seinen Schritt.
Mit zitternden Fingern öffnet er den Reißverschluss seiner Hose und greift hinein. Sein Blick fällt auf die Gesichter, ihre jungen, unschuldigen Gesichter, ihr dichtes blondes Haar, und seine Augen gleiten hinab auf ihre Arme und Brüste, wieder zurück in die Gesichter, Klick auf das nächste Bild, Blick bis zum Bauchnabel hinunter, er fährt sich mit der Zunge über die Lippen, nächstes Bild, endlich, endlich wandert sein Blick noch tiefer, tiefer, sein Griff wird fester, wieder zurück in die Gesichter, nach unten, oben, unten, oben, und im selben Rhythmus bewegt sich nun seine Hand, nächster Klick, er sieht ihre glatte Haut, ihre schmalen Lippen, und er –
Er krampft und zuckt, während klebrige Flüssigkeit bis in sein Gesicht spritzt und sich auf seinem Bauch verteilt.
Einen Augenblick keucht er, dann reißt er seine Hand von der Maus, als sei sie eine glühende Herdplatte. Auf dem letzten Bild sieht er zwei traurige Kinder, die sich vor einem schäbigen Bett fotografieren lassen mussten. Wie immer in diesem Moment, wenn das Böse seine Befriedigung bekommen hat und verschwindet, empfindet er Ekel vor sich selbst. Dieses Mal ist es schlimmer, denn dieses Mal waren die Bilder nicht nur in seinem Kopf. Der Geschmack nach Whisky und sein eigener Geruch lassen ihn würgen.
Mirko schlägt die Hände vor sein Gesicht, und während das Sperma auf seinem Körper trocknet, beginnt er laut zu schluchzen.
„Oh Gott“, ruft er. „Hilf mir, hilf mir bitte. Hilf mir!“
Für den Augenblick ist das Feuer erloschen, doch er weiß, dass der Hexenmeister irgendwann zurückkehren und es aufs Neue entfachen wird.
„Du Dreckschwein also hast Timo getötet.“
Es ist der Moment, in dem der Mann aus Davids Träumen endlich ein Gesicht bekommt. Unzählige Male wurde er nachts von seinem Sohn an die Hand genommen und eine unbekannte Straße hinunter geführt. Schau, Papa, sagte Timo und blickte mit großen Augen zu ihm auf, da vorne sitzt der Mann, der mich mitgenommen hat. Doch David sah stets nur eine Gestalt in der Ferne, die schwarz gekleidet am Straßenrand saß und das Gesicht abwendete. Und je näher er diesem Unbekannten kam, umso weiter entfernte sich dieser, ohne auch nur die kleinste Bewegung zu machen.
Jetzt sitzt er direkt vor ihm, unfähig, sich zu bewegen.
Er windet sich, doch die Fesseln halten ihn auf dem Stuhl. Durch das Klebeband hindurch hört David das Wimmern.
Die Luft im alten Wasserturm ist stickig, und David hat das Gefühl, als laste ein großes Gewicht auf seinem Brustkorb. Er beugt sich zu dem Mann hinunter, dessen Augen weit aufgerissen sind. Sein Gesicht ist schweißüberströmt, und David riecht seine Ausdünstungen, hört den keuchenden Atem.
Den ersten Schlag bohrt er in den Magen des Mannes, spürt, wie sämtliche Luft aus dessen Körper entweicht und er zusammensinkt. Panisch atmet er durch die Nase und richtet sich wieder auf. Auch wenn seine Schreie den Körper nicht verlassen, kann David sie hören. Er ballt erneut die Faust und trifft die Schläfe des Mannes. Der festgeschraubte Stuhl bewegt sich keinen Millimeter. Die Vorbereitungen sind perfekt, wie es David versprochen wurde.
Durch den Schlag wird der Mann zur Seite gerissen, seine Schreie verwandeln sich in ein gleichmäßiges Stöhnen, und David befürchtet einen Augenblick, er könne das Bewusstsein verlieren.
Er richtet sich wieder auf. Auf einem Tisch liegen zwei Gegenstände, einer davon ist der Personalausweis des Mannes. Er nimmt ihn und liest vor: „Mirko Desche, sechsunddreißig Jahre alt. Wohnhaft in Berlin.“ Er wirft ihn dem Mann ins Gesicht.
„Zwei Sachen. Ich möchte nur zwei Sachen von dir wissen.“ Er greift in seine Tasche, zieht das Foto eines blonden Jungen mit Brille heraus und hält es Desche vor die Augen. Erkenntnis blitzt in ihnen auf, doch das genügt David nicht.
Du musst dir sicher sein.
„Das ist Timo. Mein Sohn. Mein Sohn, verstehst du? Hast du ihn mir genommen?“
Desche heult, ein farbloser Rotzfaden hängt an seiner Nasenspitze.
David reißt ihm das Klebeband vom Mund, und Desche krümmt sich, hustet. David packt ihn an den Haaren, zieht sein Gesicht wieder hoch. „Antworte mir, du verdammter Bastard. Hast du ihn mir genommen?“
Desche wird von einem Weinkrampf geschüttelt. Er nickt. „Es tut mir so leid“, bringt er hervor. „Es – es tut mir so Leid. Bitte –“
„Elender Bastard“, antwortet David. „Warum? Warum?“ Er schreit es ihm ins Gesicht, bedeckt es mit feinen Speicheltropfen. Dann greift er sich den zweiten Gegenstand auf dem Tisch, eine Pistole, und presst den Lauf auf Desches Stirn.
Die Kinder befinden sich etwa fünfzig Meter vor Mirkos Auto.
Der Morgen ist ungewöhnlich warm, und Mirko hat das Wagenfenster heruntergekurbelt. Er trägt eine Sonnenbrille und eine Schirmmütze. Es ist zwar nicht wahrscheinlich, dass ein Bekannter vorbeikommt, doch er möchte kein Risiko eingehen.
Er lässt seine Blicke über die Kinder schweifen. Für ihn sind sie Verderben und Erlösung zugleich, tauchen sowohl in seinen guten als auch in den schlechten Träumen auf. Er bemerkt einen kleinen, rundlichen Jungen, der gelangweilt in Richtung Schule geht und einen Turnbeutel in der Hand schwenkt. Er ist dem Jungen nicht unähnlich, dem Mirko vor mehr als zwanzig Jahren in der Dusche des Schwimmbades begegnete. Damals ertappte er sich, wie er die Augen nicht mehr von dem kleinen Körper nehmen konnte.
Seitdem fürchtet und begehrt er sie.
Das Verlangen ist immer da, manchmal offen und direkt, manchmal wie durch eine Flut überspült. Einzig in den Jahren, als er es endlich schaffte, eine erwachsene Frau zu lieben, verschonte es ihn – oder kauerte vielleicht auch nur hungrig in einer Ecke, denn als Karolin ihn verließ, fiel es umso wilder über ihn her; erschreckend nicht aufgrund seiner Bösartigkeit, sondern wegen seiner Vertrautheit.
Ein leichter Wind weht die Stimmen und das Lachen der Schulkinder in den Wagen, und Mirko muss wieder an die Kinder auf den Fotos denken.
Vor zwei Tagen meldete sich Der Gönner bei ihm und fragte, ob er weiteres Material wolle. Mirko löschte daraufhin den Email-Account, den er eigens für diese Kommunikation eingerichtet hatte, ebenso wie die Bilder.
Er kaut an seinen Nägeln, reißt manche ein und hinterlässt blutige Fingerkuppen. Die Schmerzen lenken ihn ab.
Er sollte nicht hier sein. Gestern noch beschloss er, endlich die Kontaktstelle in der Luisenstraße aufzusuchen oder wenigstens dort anzurufen, doch stattdessen ist er wieder hier gelandet. Vor der Schule. In erster Linie interessieren ihn die Jungen. Er fragt sich, ob -
„Hallo.“
Die helle Stimme neben seinem Wagen lässt ihn aufschrecken. Er dreht sich zur Seite und sieht einen kleinen Jungen, vielleicht zehn Jahre alt, mit blondem Haar.
„Hallo“, antwortet Mirko unsicher.
„Können Sie mir helfen?“
Wo kommt der auf einmal her?, fragt sich Mirko. „Was ist denn?“
Der Junge schaut ihn mit verlegenen Augen an. Die Brillengläser lassen sie größer erscheinen, und Mirko vermutet, dass er dadurch zur Zielscheibe von Spott in seiner Klasse wird. Vermutlich ist er deshalb allein unterwegs.
„Mir ist mein Schlüssel in den Gully da hinten gefallen. Ich komm einfach nicht an ihn ran.“ Tränen schießen in seine Augen.
Mirko wirft einen letzten Blick auf die Gruppe von Kindern, dann nickt er und steigt aus. Seine Handflächen werden feucht, und er versucht, keine bösen Gedanken in sich aufkommen zu lassen.
„Es ist da hinten“, sagt der Junge.
Er kämpft dagegen an, wehrt sich.
„Alles klar. Kein Problem. Wir holen ihn da raus.“
Der Junge lächelt schüchtern; Mirko kennt dieses Lächeln und weiß, was es bedeutet.
Er beginnt, Vertrauen zu fassen.
David findet sich zur verabredeten Zeit am verabredeten Ort ein. Der Mann, der sich Herr J. nennt, ist pünktlich. Er fährt in einem grauen Lieferwagen ohne Aufschrift vor, und David steigt auf den Beifahrersitz.
„Hallo David. Schön, dass Sie gekommen sind“, sagt Herr J.
David antwortet nichts. Sie fahren eine Weile schweigend durch Berlin, immer wieder wirft er flüchtige Blicke auf den Fahrer. Der Mann ist noch sehr jung, vielleicht Anfang zwanzig. Quer über sein Kinn zieht sich eine weiße Narbe. Er macht auf David nicht den Eindruck, als könne er seinen Teil der Abmachung einhalten, doch er ist der berühmte letzte Strohhalm, an den man sich klammert.
„Wo fahren wir hin?“, fragt David schließlich.
„An einen Ort, den ich kenne“, lautet die knappe Antwort.
„Und dort treffe ich ihn?“
„Das habe ich Ihnen versprochen, nicht wahr? Ich verabscheue Leute, die nicht ehrlich sind. Ich bin es in jedem Fall, darauf können Sie sich verlassen.“
„Und dann? Was passiert dann?“
Der Mann lächelt. „Das liegt ganz bei Ihnen. Sie können entscheiden.“
Sie fahren weiter, aus Berlin heraus, die Gegend wird ländlicher.
Die Stille macht David verrückt. „Wer ist es?“, will er wissen.
Herr J. antwortet nicht.
„Sagen Sie mir, wer es ist.“
„Das erfahren Sie gleich, David. Gedulden Sie sich noch ein paar Minuten, dann bekommen Sie alle Antworten. Wir haben alles vorbereitet.“
„Ich fasse es nicht, dass Sie ihn gefunden haben.“
„Nun, auf noch etwas können Sie sich verlassen: Wir finden alle.“
Herr J. steuert den Lieferwagen auf einen schmalen Feldweg, und kurze Zeit später erreichen sie ein graues, zylinderförmiges Gebäude.
Herr J. stoppt den Wagen. „Ein alter Wasserturm“, sagt er. „Er wird heute nicht mehr verwendet. Wir haben innen alles für Sie vorbereitet, David. Perfekt vorbereitet. Sie erfahren seine Identität, und Sie werden eine Waffe vorfinden. Sie enthält genau einen Schuss.“
Der Mann – der Junge, es ist noch ein Junge, sagt sich David – lächelt ihn an. „Falls Sie Gebrauch davon machen möchten.“
David zögert. Bei ausgeschaltetem Motor wirkt die Stille noch drückender. Tränen schießen in seine Augen, und plötzlich fühlt er sich müde.
„Was erwarten Sie von mir? Was soll ich tun?“
„David“, antwortet Herr J. und legt ihm eine Hand auf den Arm, „bleiben Sie ruhig. Sie sind hier das Opfer, vergessen Sie das nicht. Es liegt bei Ihnen, wie Sie den Täter bestrafen.“
„Aber – aber ich meine, ich kann da nicht einfach hingehen. Ich brauche einen Beweis, verstehen Sie? Dass Sie den Richtigen haben.“
Herr J. schüttelt den Kopf. „Ich kann Ihnen keinen Beweis geben. Aber fragen Sie ihn. Er wird gestehen.“
„Wird er das?“
„Da bin ich sicher.“
David steigt aus und geht mit langsamen Schritten auf den Wasserturm zu. Er denkt an Timo, an sein seltenes Lachen. Es verblasst von Tag zu Tag mehr, und David fürchtet den Tag, an dem er es nicht mehr vor sich sieht.
Er zieht ein Foto aus der Tasche. Es zeigt Timo vor dem Eurosat im Europapark. Schnelle Autos und Achterbahnen haben ihn immer begeistert. Einen Monat später war diese Aufnahme in der Tagesschau zu sehen.
Durch eine enge Tür betritt David den Turm. Innen ist es dunkler und deutlich kühler. In der Mitte sieht er einen Mann auf einem Stuhl sitzen. Er ist daran gefesselt, und sein Mund ist mit Klebeband überklebt. Er schaut David mit großen Augen an.
David geht auf ihn zu. Endlich hat er ein Gesicht, endlich.
Als er spricht, zittert seine Stimme, und mit ihrem Klang kommt die Wut: „Du Dreckschwein also hast Timo getötet.“
Es ist bereits spät am Abend, als das Telefon klingelt.
Mirko lässt es klingeln. Er starrt in die Dunkelheit seiner Wohnung und beobachtet, wie das letzte Licht der Abenddämmerung verschwindet. So muss es in seinem Herz ausgesehen haben, als die Dunkelheit darin Einzug fand.
Einmal nur. Vielleicht ist dann endlich Ruhe.
Was für ein schrecklicher Fehler. Dies war seine Rechtfertigung, um die verbotenen Bilder zu öffnen, und er dachte, damit den Hexenmeister vertreiben zu können.
Im Gegenteil. Im Gegenteil.
In seiner Vorstellung ist es ein alter, ausgemergelter Mann. Er flüstert immerzu, ohne dass Mirko jemals ein Wort verstehen kann. Es ist eine fremde Sprache, doch der Klang reicht aus, um zu wissen, was er möchte. Versuchen. Er möchte Mirko versuchen und ihn an Orte locken, die jenseits einer Grenze liegen. Seine Stimme ist böse und gleichzeitig anziehend, so anziehend. Mit dem Öffnen der Bilder hat er jene Grenze überschritten und befindet sich nun auf der Seite des Hexenmeisters, der nicht mehr flüstert.
Jetzt brüllt er, ohne Unterlass.
Das Telefon hört nicht auf zu klingeln, und irgendwann nimmt Mirko ab.
„Hallo?“ In der Stille der Wohnung klingt seine eigene Stimme fremd.
„Desche? Mirko Desche?“
„Ja. Wer ist da?“
Stille. Mirko hört noch nicht einmal ein Atmen. „Wer ist da?“ Ein dummer Spaß, war ja klar, wer sollte auch zu dieser Zeit –
„Ein Gönner.“
Mirkos Herz gefriert, das Blut stockt in seinen Adern, für einen Augenblick bleibt die Zeit stehen.
„Wer?“
„Sie haben schon verstanden. Wir wissen Bescheid. Über alles.“
Wir?
Mirko sinkt in sich zusammen. Plötzlich sieht er seinen eigenen Tod vor sich; er weiß, dass er diesen Schlag nicht überleben kann.
„Sind Sie – von der Polizei?“
„Machen Sie sich nicht lächerlich. Wenn wir von der Polizei wären, würden wir nicht anrufen. Hören Sie zu, Desche. Wenn Sie unsere Anweisungen befolgen, wird die Polizei nichts von Ihnen und Ihren Taten erfahren. Sind Sie interessiert?“
„Ja“, antwortet Mirko sofort, doch er keucht so stark, dass es kaum zu verstehen ist.
„Das ist gut. Sehr gut sogar. Es ist klug, zu kooperieren.“
Mirko spürt Schmerzen, als sich seine Hand um den Hörer krampft, doch er kann die Finger nicht entspannen.
„Passen Sie auf. Sie steigen jetzt in Ihren Wagen und fahren an folgenden Ort.“
Es war ihr Lächeln, in das er sich sofort verliebte, als er sie vor über fünfzehn Jahren das erste Mal traf. Seitdem begleitet ihn dieses Lächeln durch sein Leben und ist fester Bestandteil sowohl der großen Ereignisse – ihrer Hochzeit, der Geburt von Timo – als auch der kleinen, intimen Momente.
Heute sieht David dieses Lächeln nur noch auf Fotos. Er erinnert sich sogar an den Moment, als er es zum letzten Mal in der Wirklichkeit sah: Das war vor fünf Monaten, als sie von einem Ausflug mit ihrer Schulklasse zurückkam.
Sie sagte: „Oh Mann, du glaubst nicht, was das für ein schöner Tag war, wir haben –“
Er sagte: „Timo ist nicht nach Hause gekommen.“
Sie sagte: „Was?“
Er sagte: „Timo ist nicht nach Hause gekommen.“
Und dann verschwand das Lächeln und ist seitdem nicht zurückgekehrt. Manchmal denkt David, sie habe es zu Timo in den Sarg gelegt, um ihm ein wenig Hoffnung zu schenken.
Jetzt blickt ihn Kerstin mit aufgequollenem Gesicht an. Ihre Augen sind verweint, die ungepflegten Haare stehen zu allen Seiten vom Kopf ab.
„Du hast ihn gehen lassen?“, schreit sie. „Bist du wahnsinnig?“
„Kerstin, beruhige dich“, sagt er im Bewusstsein, vielleicht einen Fehler begangen zu haben.
Sagen Sie es niemandem, hat Herr J. gewarnt. Das muss Ihr Geheimnis bleiben. Doch welcher Mensch kann ein solches Geheimnis beherbergen?
„Wer ist es?“, fragt sie, die Stimme scharf wie ein Rasiermesser.
„Das hat er nicht gesagt -“
„Sag mir wer es ist!“ Sie steht vor ihm, nur ein Schatten aus alten Tagen, und schlägt mit ihren Fäusten auf seine Brust, schwach, so erschreckend schwach.
David lässt es über sich ergehen. Irgendwann sinkt sie vor ihm auf den Boden, beinahe zu erschöpft zum Weinen.
„Er hat nicht gesagt, wer es ist. Er hat nur gesagt, er kennt den Mann.“
Immer ist es der Mann. Niemals der Täter. Oder gar Timos Mörder.
„Wie kann er das?“, schluchzt Kerstin zu seinen Füßen. „Wie kann er ihn kennen?“
David zittert am ganzen Körper. Dieses Zittern setzte sofort nach der Begegnung mit Herr J. ein und hält bis jetzt an.
„Er hat gemeint, er arbeitet für eine privat finanzierte Organisation. Offiziell kennt man sie nicht, doch sie haben wohl starke Sponsoren. Sie ermitteln bei Verbrechen, keine Ahnung, sie finden die Täter, wo die Polizei schon aufgibt.“
Natürlich hat die Polizei nicht aufgegeben, doch es kann nur eine Frage der Zeit sein, bis sie die SOKO Timo irgendwann von ihrer heutigen Stärke von fünfzig Mann reduzieren – und eines Tages ganz auflösen.
Kerstin blickt zu ihm hoch. „Wir müssen zur Polizei. Wir müssen das der Polizei sagen.“
David leckt sich über die Lippen. „Warte, Kerstin. Warte mal. Dieser Mann hat gesagt, dass wir das auf keinen Fall dürfen, ansonsten wird er uns nicht mehr kontaktieren. Er sagt, die Gefahr ist zu groß, dass ihre ganze Organisation auffliegt. Aber er hat mir versprochen, mich zum Täter zu bringen. Das hat er mir versprochen! Verstehst du?“
Sie sieht nicht aus, als ob sie versteht. „Warum -?“
„Er sagt, er will Gerechtigkeit. Deshalb geht er auch nicht zur Polizei. Er sagt, die kann nicht für Gerechtigkeit sorgen. Er will mir selbst die Möglichkeit geben, den Täter zu bestrafen. Nur mir. Er will mich zu einer Gegenüberstellung bringen. Dann sehe ich ihn. Verstehst du?“
Ihr Blick klart ein wenig auf. „Du sollst den Täter bestrafen?“
David nickt. „Ja, das hat er gesagt.“
„Aber wie?“
„Das weiß ich auch nicht. Er hat nur gemeint, er meldet sich wieder. Mehr hat er nicht gesagt.“
Wieder beginnt Kerstin zu weinen. „Warum hast du ihn nur gehen lassen? Was, wenn er sich nicht mehr meldet? Was dann?“
David beugt sich zu ihr hinunter, nimmt ihr Gesicht in seine Hände und dreht es zu sich. „Das wird er. Weshalb hätte er sonst überhaupt zu mir kommen sollen? Hör zu, es ist wichtig, dass du das niemandem erzählst. Niemandem, verstehst du? Das ist jetzt unser Geheimnis, und wir schauen, wie es sich entwickelt.“
Er erinnert sich an seine Geschichte, sein Märchen, das er Kerstin erst vor kurzem erzählte. Ein Schauder ergreift seinen Körper und lässt ihn frösteln.
„Vor allem“, sagt er, „müssen wir jetzt ganz genau überlegen, was wir tun.“
Über die dampfenden Schüsseln mit Mais und Nudeln fällt sein Blick immer wieder auf den neuen Freund der Schwester. Ihm wird schlecht bei diesem aufgesetzten Grinsen, doch die Eltern lassen sich täuschen. Wie dumm sie doch sind.
Er hält sich zurück und spricht nur das Nötigste. Auch wenn die Wut in ihm rüttelt wie ein Gefangener an den Stangen seines Käfigs, bleibt er nach außen ruhig, wie immer.
„Die Frage ist jetzt“, sagt der Schönling und tupft sich mit einer Serviette über die Lippen, „ob es eine Legitimation dafür gab. Und nicht nur das, man muss hier zwei Aspekte berücksichtigen.“ Er spricht über Politik und begeht damit einen Fehler, den man beim ersten Besuch bei den Eltern der Freundin vermeiden sollte. Doch es ist seit einiger Zeit das beherrschende Thema. „Zum Einen stellt sich die Frage nach der rechtlichen Legitimation. Hier muss man nicht lange diskutieren, der Fall ist klar: Es gab keine. Der andere Punkt ist die moralische Betrachtung. Darf ein Land, das sich selbst Rechtsstaatlichkeit auferlegt, in ein anderes Land marschieren und einen Bürger dieses Landes rechtswidrig exekutieren? Auch hier ist die Antwort klar: Sie dürfen es nicht, ganz gleich, unter welchen Umständen. Daher ist diese Aktion mit Nachdruck zu verurteilen.“
Die Mutter lächelt, der Vater nickt. Schwächlinge, allesamt. Fallen auf diese gestelzten Worte rein. Er kann nicht verstehen, dass sie –
„Es ist doch das Natürlichste auf der Welt.“ Er ist überrascht, als er sich sprechen hört. Vier Augenpaare richten sich auf ihn.
„Bitte?“
„Ich sage, dass es ganz natürlich war, was die Amis gemacht haben. Es war ihr gutes Recht.“
Die Schwester verdreht die Augen. „Jetzt geht das wieder los.“
„Einen Augenblick“, sagt der Freund, als gebe es hier etwas zu regeln. „Recht sprechen darf nur die Judikative. Die Gesetze – insbesondere die Verfassung und die Menschenrechte – erlauben keine Ausnahme. Wenn man beginnt, dies zu missachten, ganz gleich aus welchem Grund, wird man das immer wieder tun.“ Er blickt in die Runde, setzt ein schuldbewusstes Lächeln auf. „Und gerade unsere eigene Geschichte hat uns ja gezeigt, wo so etwas endet.“
Das kleine Gefängnis, in das er seine Wut pfercht, droht zu bersten.
„Kennst du Mike Godwin?“
„Wen?“
„Nicht so wichtig. Vergiss es. Es macht überhaupt keinen Sinn, dass die Judikative“ - auf dieses Wort legt er eine spöttische Betonung - „irgendwelche Urteile fällt. Das hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun, weil ein Verbrechen immer etwas Persönliches zwischen Opfer und Täter ist. Und nur das Opfer kann den Täter der Gerechtigkeit nach richten.“
„Er lebt in seiner eigenen Welt“, sagt die Schwester. „Er hat mal eine Schularbeit geschrieben mit dem Titel Die gerechte Gesellschaft. Da steht so Stuss drin. Sein Gemeinschaftskundelehrer hat ihm dafür eine Fünf gegeben. Wahrscheinlich hat er darüber gelacht.“
Er hätte gute Lust, ihr die Gabel ins Auge zu rammen. Weshalb muss sie das jetzt erwähnen?
„Soll das heißen, in einer 'gerechten' Gesellschaft herrscht Selbstjustiz?“ Der Schönling sieht aus, als wurde er gebeten, einem Erwachsenen die Uhr zu erklären.
„Ganz und gar nicht. Selbstjustiz besagt, dass der Bürger das Recht selbst in die Hand nimmt und eigenverantwortlich handelt, abseits staatlicher Kontrolle und Gesetze. In einer gerechten Gesellschaft“ - hier straft er die Schwester mit einem bösen Blick - „sorgt der Staat selbst dafür, dass das Opfer den Täter bestrafen kann. Die Strafverfolgung liegt in staatlicher Hand, doch statt vor ein Gericht wird der Täter zu seinem Opfer geführt, und dieses entscheidet – unter staatlicher Aufsicht – über die Strafe, und führt diese auch gleich selbst aus. Dies ist das einzige Gesetz. Das ist genau das Gegenteil von Selbstjustiz.“
„Eine etwas seltsame Philosophie, die du da vertrittst.“
„Warum? Menschen wie Marianne Bachmeier oder Witali Kalojew haben das verstanden.“
Die Mutter seufzt und nennt vorwurfsvoll seinen Namen, doch er lässt sich jetzt nicht mehr bremsen. „Kalojew, kennst du den?“
Kopfschütteln auf der anderen Seite des Tisches.
„Das ist der Russe, der bei dem Flugzeugunglück von Überlingen seine Frau und zwei Kinder verloren und später den verantwortlichen Lotsen erstochen hat. Weil die ach so tolle Judikative überhaupt nichts getan hat. Der Lotse hat über siebzig Menschenleben auf dem Gewissen und wurde nicht einmal offiziell schuldig gesprochen. Was ist das für eine Judikative? Was hättest du getan, wenn es deine Kinder gewesen wären? Schlaue Sprüche geklopft?“
Schweigen zieht über den Tisch, wie immer, wenn die Argumente ausgehen.
„Du musst darauf nicht eingehen“, sagt die Schwester irgendwann. „Er redet immer so wirres Zeug.“
Doch der Schönling lässt das nicht auf sich sitzen. Vermutlich ist er gewohnt, dass jeder bewundernd zu ihm aufschaut und ihm nach dem Mund redet. Eine andere Meinung zu hören scheint ihn zu irritieren. „Und was geschieht in deiner gerechten Gesellschaft, wenn das Opfer – oder einer der Angehörigen im Falle eines Mordes – den Täter nicht bestrafen möchte? Käme der dann ungestraft davon?“
„Ausgeschlossen. Im Gegenteil, es gäbe keine Mörder mehr in unserer Gesellschaft, weil sie alle ihrer gerechten Strafe zugeführt würden. Sie würden alle sterben für ihre Tat.“
„Bitte entschuldigen Sie sein Verhalten“, sagt die Mutter. „Er meint es nicht so.“
Auch der Vater raunzt etwas in seine Richtung. Sie fallen ihm in den Rücken, halten zur Ignoranz. Wie immer lachen sie über ihn.
„Du glaubst wirklich, dass alle Hinterbliebenen die Täter tot sehen wollen? Und sie auch noch selbst umbringen?“
„Ich bin überzeugt davon.“
Die Schwester schüttelt den Kopf. „Das ist so dumm. Das funktioniert nur in einer Welt, in der in jedem von uns etwas Böses steckt. Und so ist es einfach nicht.“
„Es ist nichts Böses. Nur der Instinkt nach Gerechtigkeit, und ja, der steckt in jedem von uns.“
„Rache ist immer etwas Böses. Und um nichts anderes geht es hier, nicht um Gesetze und nicht um Gerechtigkeit. Merk dir das, Bruderherz.“
Rache. Sie versteht noch nicht einmal das Grundsätzliche. In diesem Moment wird ihm klar, dass er sie nicht überzeugen kann.
Vielleicht hat er genug über seine These nachgedacht, geschrieben und gesprochen.
Vielleicht ist es endlich an der Zeit, sie zu beweisen.
Die Schnur schneidet scharf in Mirkos Handgelenke.
Er wimmert, möchte sprechen, traut sich nicht. Natürlich war es ein Fehler, sich ins Auto zu setzen und zu dem alten Wasserturm zu fahren. Er erinnert sich, wie ihn während des Telefonats das Gefühl beschlich, bald zu sterben. Und vielleicht würde er das, hier, an diesem dunklen Ort.
Vielleicht ist er nur deshalb gekommen.
„Ist er fest?“, fragt der Mann mit der Narbe am Kinn. Er ist jung, so jung. Wie kann er nur so jung sein, fragt sich Mirko.
Der andere steht hinter dem Stuhl und gibt keine Antwort, hat vielleicht nur genickt. Mirko spürt, dass er fest ist.
Er will fragen, was sie wollen. Er will wissen, wie sie an seine Telefonnummer kamen. Er möchte so vieles erfahren, aber Schweigen ist die bessere Alternative. Das haben sie ihm klar gemacht.
Der Mann mit der Narbe – offenbar der Anführer – legt seinen Personalausweis auf einen Tisch.
„Er hat das Recht, zu wissen, mit wem er es hier zu tun hat“, sagt er zu seinem Kumpel.
Dann zieht er eine Pistole aus der Tasche, und Mirko spürt, wie seine Blase nachlässt. Er fährt damit über Mirkos Gesicht. „Hör zu, Kinderficker. Das hier ist ein Spiel, verstehst du? So etwas wie ein Experiment. Dir passiert nichts, wenn du mitspielst. Wenn du dich weigerst, bist du dran. Verstanden?“
Mirko nickt, er weiß, dass er so oder so dran ist.
„Also. Wie du weißt, kenne ich deine Vorlieben, du perverses Stück Dreck. Du hast dir von mir und Gott weiß von wem noch diese Bilder schicken lassen. Wer weiß, was du sonst noch alles gemacht hast, Kinderficker.“
Mirko laufen Tränen über das Gesicht. Und jetzt spricht er doch, weil die Wahrheit hier so wichtig ist. „Ich habe nie – ich habe nie ein Kind angerührt. Niemals! Das mit den Bildern, ja, das geb ich zu, und es war ein dummer dummer Fehler. Aber ich habe nie ein Kind angerührt!“
Der Mann mit der Narbe zuckt mit den Schultern. „Vielleicht stimmt das, vielleicht auch nicht. Ist vielleicht auch egal, weil wenn du es noch nicht getan hast, tust du es demnächst, wie alle Pädos. Was macht das für einen Unterschied?“
„Ich habe es nie getan und werde es nie tun. Das macht einen Unterschied.“
„Wie auch immer. Hör mir jetzt zu. In etwa zwei Stunden wird ein Mann hier sein, dem du noch nie begegnet bist. Er wird – vermutlich nicht ganz nett sein. Er wird denken, du hast seinen Sohn ermordet.“
„Was?“
„Was auch immer er dich fragt, du wirst zustimmen. Und wenn er dich beschuldigt, den Heiland persönlich ans Kreuz genagelt zu haben, wirst du auch das gestehen. Das sind die Regeln. Wenn du sie befolgst, kommst du davon. Wenn nicht, wird alle Welt erfahren, was für ein perverses Stück Scheiße du bist, als erstes einmal Karolin. Also, hast du das verstanden?“
Mirko versteht überhaupt nichts. Der Mann vor ihm wedelt erneut mit der Waffe. „Mach dir keine Sorgen deswegen. Die ist nur ein Requisit. Nicht geladen. Also Mirko, spiel mit, und dir passiert nichts. Es liegt bei dir.“
Dann verschließen sie seinen Mund mit Klebeband, und die Worte fliegen durch Mirkos Kopf wie ein Komet.
Wenn nicht, wird alle Welt erfahren, was für ein perverses Stück Scheiße du bist.
Als erstes einmal Karolin.
„Du Dreckschwein also hast Timo getötet.“
Die Stimme ist klar, doch das Bild könnte besser sein. Sie sitzen im hinteren Teil des Lieferwagens und blicken auf das Notebook.
„Ich fasse es nicht, dass wir das durchziehen. Ich fasse es nicht“, sagt Dirk.
Jan ignoriert ihn, er klebt mit seinen Augen nur wenige Zentimeter vor dem Bildschirm. Es sind diese Momente, derentwegen Dirk seine Gesellschaft sucht und seine durchaus eigentümlichen Wege mit ihm geht. Hier vermischt sich ein freidenkerischer Geist mit zielgerichtetem Tatendrang, und er ist überzeugt, dass Jan eines Tages Großes vollbringen wird. Er ist Vordenker und Macher zugleich.
„Das Bild ist nicht gut“, sagt Jan.
„Ich weiß. Schlechte Lichtverhältnisse da drin. Aber es reicht, oder?“
Keine Antwort.
Sie haben Monate in die Vorbereitung investiert. Als Jan die Geschichte des kleinen Timo hörte, sprang er sofort darauf an.
Genau das ist es, so ein Verbrechen brauchen wir. Das ist ein emotional, das ist grausam, schau doch nur, wie manche Leute hier gleich wieder nach der Todesstrafe schreien. Das ist perfekt.
Sie beobachten, wie das Opfer dem Täter in den Bauch schlägt – noch bevor er die erste Frage gestellt hat. Jan klatscht in die Hände. „Jawohl, mach ihn fertig!“ Seine Augen glänzen.
Als nach drei Monaten noch immer kein Täter präsentiert wurde, nahm eine vage Idee langsam Gestalt an.
Wir nehmen den Vater. Die Mutter ist zu labil. Wir liefern ihm, was er will, und weil wir ihm das liefern, stellt er nicht zu viele Fragen. Wir behaupten, so etwas öfter zu tun, behaupten, wir kommen von einer Organisation oder so. Es klingt vielleicht nicht glaubwürdig, aber in diesem Moment wird er uns glauben, weil wir diejenigen sind, die ihm geben, was er braucht. Und Menschen glauben immer denen, die ihnen das geben, was sie brauchen.
Ein zweiter Schlag geht in das Gesicht des Täters, und Jan ballt eine Hand zur Faust. „Hast du gesehen?“, kreischt er. „Hast du das gesehen? Es ist noch besser, als ich dachte. Mann, Mann, ich habe Recht. Ich habe Recht! Er bestraft ihn!“
Dann brauchen wir einen Täter. Er muss eine Vorliebe für Kinder haben, so wird es kein großer Verlust für die Gesellschaft, und wir kommen der Wahrheit zumindest nahe. Aber er muss gleichzeitig auch ein normales Leben führen, denn er muss etwas zu verlieren haben. So jemanden finden wir im Internet, und wir schicken ihm einen Trojaner. Dann finden wir heraus, wo er wohnt, und kontaktieren ihn. Und er wird für uns den Täter spielen, eben weil er etwas zu verlieren hat.
Erst jetzt beginnt das Opfer zu sprechen und entlockt dem Täter das falsche Geständnis.
Weil er etwas zu verlieren hat.
Dirks Arme überziehen sich mit einer Gänsehaut angesichts der Perfektion, mit der Jans Plan aufgeht. Keine Frage, hier sitzt ein großer Geist.
Und dann schauen wir, ob das Opfer bereit ist, den Täter zu bestrafen. Wir beweisen meine Theorie, denn ich bin überzeugt, das Opfer wird den Täter hinrichten. Und das Opfer ist in diesem Fall kein Wahnsinniger, kein Psychopath, und es lauert auch nichts Böses in ihm. Er ist ein normaler Mensch, wie du und ich, und genauso wie er würden auch wir in einer gerechten Gesellschaft den Täter hinrichten. Wir alle würden das tun.
Jetzt nimmt das Opfer die Pistole und hält sie dem Täter an den Kopf.
„Scheiße, er drückt ab. Er drückt ab, wetten?“
Dirk hat sich noch vor wenigen Minuten selbst überzeugt, dass genau ein Schuss im Magazin ist.
Und wenn er ihn tötet, haben wir nur Gutes getan. Das Opfer wird seinen Frieden finden, es gibt einen Kinderficker weniger auf der Welt, und das Wichtigste – ich habe einen Beweis, dass ich im Recht bin. Dass meine Gesellschaft funktioniert.
Das Opfer drückt den Lauf der Waffe fest auf den Kopf des Täters. Selbst bei den schwachen Lichtverhältnissen ist das Zittern seiner Hand nicht zu übersehen. Dirk spürt, wie seine Knie weich werden. Er blickt kurz zu Jan; dieser scheint kaum mehr zu atmen.
Plötzlich beugt sich das Opfer erneut zu dem Täter hinunter und flüstert etwas in dessen Ohr.
„Was sagt er da?“, kreischt Jan. „Was hat er gesagt? Ich will das hören!“
Dirk fummelt am Lautstärkeregler, doch dieser ist bereits voll aufgedreht.
„Ich hab es nicht hören können. Aber wir haben es ja aufgezeichnet. Vielleicht können wir nachher -“
Doch er spricht den Satz nicht zu Ende, denn in diesem Augenblick passiert zum ersten Mal an diesem Nachmittag etwas völlig Unerwartetes.
„Hör mir zu, Kerstin, ich möchte dir eine Geschichte erzählen. Ein Märchen. Ich habe davon geträumt.“
Im Dunkel des Wohnzimmers kann David nicht einmal Kerstins Gesicht sehen, doch anhand ihrer Körperhaltung vermutet er, dass sie noch wach ist. Als sich vor etwas mehr als einer halben Stunde das letzte Tageslicht zurückzog, waren ihre Augen wenigstens halb offen. Mehr kann er bei den Tabletten und dem Alkohol nicht erwarten.
Es ist ihre Art, damit umzugehen. Ihre Flucht aus der Realität.
Nach Timos Tod begann sie, überall in der Wohnung seine Sachen zu verteilen. Modellflugzeuge, Kuscheltiere, Raumfähren. Inzwischen wirkt die Wohnung wie ein übergroßes Kinderzimmer und beherbergt in jeder Ecke eine Erinnerung. Hin und wieder wird sie durch einen Autoscheinwerfer erhellt, und in diesen Momenten spiegelt sich das Licht in den Augen der Kuscheltiere und lässt sie beinahe lebendig wirken.
„Es war einmal ein Ehepaar, das hatte einen Sohn“, beginnt David, ohne zu wissen, ob Kerstin ihm zuhört. „Es waren arme, aber sehr gerechte Leute. Eines Tages wird ihr Sohn in einen dunklen Wald verschleppt und dort getötet.“
Von Kerstin kommt keine Reaktion.
„Das Ehepaar ist untröstlich, sie wissen nicht, ob sie über den Verlust des geliebten Kindes jemals hinwegkommen. Sie wenden sich an den König und bitten um Hilfe, er möge doch seine Soldaten zur Verfügung stellen, um das schreckliche Verbrechen aufzuklären, doch der König schickt sie weg. Weil sie arm sind, schenkt man ihnen keine Beachtung und lässt sie mit ihrer Trauer allein. Doch weil es gerechte Leute sind, hat Gott Mitleid und schickt ihnen eines Tages einen Engel. Der Engel sagt: 'Ich kann euren Sohn nicht wieder lebendig machen, aber Gott hat Erbarmen und will euch helfen.' Er stellt sie vor zwei Alternativen: Entweder werden sie von Gott viel Kraft und weitere Kinder geschenkt bekommen; sie werden wieder eine richtige Familie und eines Tages sogar glücklich sein, doch der Mord an ihrem Sohn bleibt ungesühnt. 'Oder', sagt der Engel, 'Gott lässt den Täter Höllenqualen leiden und schickt ihn in die ewige Verdammnis. Dort wird er bis an das Ende aller Zeiten im Fegefeuer schmoren, ihr jedoch werdet an der Trauer über den verlorenen Sohn zerbrechen.'“
David wartet auf eine Reaktion von Kerstin, doch sie bleibt aus.
Der Scheinwerfer eines Autos zuckt durch die Dunkelheit und erhellt eines von Timos geliebten Modellflugzeugen.
Wenn ich groß bin, Papa, fliege ich bis über die Wolken. Doch diese Pläne durchkreuzte jemand und stieß ihn stattdessen in ein dunkles Grab.
„Wie würdest du entscheiden?“, fragt David.
Kerstin antwortet; ihre Stimme klingt monoton und schläfrig, gleichzeitig aber auch bestimmt.
Im Grunde seines Herzens war David die Antwort klar. In seinem Traum hat er ebenso entschieden.
„Wie kann er ihn gehen lassen? Wie kann er das tun?“
Jan ist außer sich. Er ist aufgesprungen und läuft im Heck des Lieferwagens hin und her.
„Vielleicht ist er nicht überzeugt“, antwortete Dirk. „Oder er hat gerochen, dass was nicht stimmt.“
„Er verschont den Täter? Er spaziert einfach so davon und verschont den Täter? Wie kann er das?“ Jans Stimme überschlägt sich, er packt Dirk am Kragen und zieht ihn nach oben. „Wie kann er das?“
„Ich – ich weiß nicht –“, stammelt Dirk.
Jan lässt von ihm ab, sinkt auf seinen Stuhl und fährt sich mit der Hand durch die verschwitzten Haare. Er lacht. „Unglaublich. Ich fasse es nicht. Da präsentieren wir ihm den Mörder seines Kindes, und er haut einfach ab. Wie kann er nur?“
Dirk schweigt. Schlauer Junge. Er kann jetzt ohnehin nichts Richtiges sagen.
„Das spricht nicht gegen meine Theorie. Das besagt nur, dass wir es hier mit einem Geisteskranken zu tun haben. Die sind natürlich ausgenommen. Nur gesunden Opfern wird erlaubt, die Täter zu bestrafen. Verstehst du?“ Wieder lacht er.
Dirk nickt, doch Jan sieht die Zweifel in seinen Augen.
Die Worte der Schwester hallen in seinem Kopf, und zum ersten Mal rütteln sie am Grundgerüst seiner Anschauung.
Das funktioniert nur in einer Welt, in der in jedem von uns etwas Böses steckt. Und so ist es einfach nicht.
Lange nachdem Mirkos Zeitgefühl ihn verlassen hat, betritt einer der beiden Jungen den Wasserturm. Nicht der Anführer, zum Glück nicht.
Mirko weint. Seine Handgelenke schmerzen, die Muskeln in seinen Unterarmen brennen. Er weiß, was jetzt kommt. Nie hat er geglaubt, diese Sache lebend zu überstehen.
Er sieht, wie der Junge ein Messer zückt. Nein, will Mirko schreien, doch im nächsten Moment steht der Junge bereits hinter ihm und durchtrennt die Fesseln. Mirko zieht die Arme nach vorne und blickt ungläubig auf seine Hände. Das Seil hat tiefe Abdrücke in der Haut hinterlassen.
„Hau ab“, sagt der Junge.
Mirko blickt auf. „Was?“
„Hau ab. Mach, dass du verschwindest. Du hast es hinter dir.“
„Ihr – ihr lasst mich gehen?“
Der Junge nickt.
Mirko kann seine Tränen nicht mehr halten, er schluchzt wie ein kleines Kind. „Warum habt ihr das getan? Was sollte das?“
Der Junge sieht sich um, er scheint verlegen zu sein. „Es sollte dir eine Lehre sein“, sagt er schließlich. „Es sollte dir eine Lehre sein, in Zukunft die Hände von Kindern zu lassen. Wenn du auch nur ein Wort von dem erzählst, was hier vorgefallen ist, kommt alles raus. Hast du verstanden?“
Mirko nickt und steht langsam auf. „Ich erzähle es niemandem. Ich schwöre das. Ich werde mich bessern. Ich mach eine Therapie, das wollte ich sowieso schon seit langem machen. Ich – ich hab mich nur nie getraut, wegen Karolin und Tim – wenn sie etwas davon mitbekommen, wird sie mich ihn nie wieder sehen lassen, das weiß ich. Schon jetzt sehe ich ihn praktisch nie.“
„Schon gut. Verschwinde jetzt.“
„Aber jetzt, jetzt mache ich die Therapie. Ich fang von vorne an. Das verspreche ich.“
Obwohl Mirko weiterhin das Bedürfnis hat, seine Einsicht in Worte zu packen und sie so realistischer werden zu lassen, geht er schließlich mit unsicheren Schritten aus dem Turm. Die untergehende Sonne taucht den Himmel in ein tiefes Rot, und Mirko nimmt jede Farbe, jedes Geräusch viel intensiver wahr. Es riecht nach Blumen und frisch gemähtem Gras. Es riecht nach Sommer, nach Leben.
Es ist vorbei, denkt er. Er kann diese Wahrheit kaum fassen, da er seit dem Anruf gestern Abend davon ausgegangen war, den nächsten Abend nicht mehr zu erleben.
Es ist vorbei, und ich habe es überstanden.
Während er sich dies immer wieder sagt, breitet sich eine Wärme der Zuversicht in seinem Körper aus – nicht zu vergleichen mit jenem drängenden Brennen des Hexenmeisters. In diesem Augenblick, als die Sonne in der realen Welt untergeht, erscheint sie in seinem Inneren in neuem Licht. Er ist überzeugt, jedes Problem zu lösen. Für einen Mann, der dem Tod ins Auge gesehen hat, ist keine Hürde zu hoch.
Er wird die lang aufgeschobene Therapie angehen.
Er wird aufhören zu trinken.
Er wird wieder einen Arbeitsplatz finden.
Und vielleicht, ja vielleicht kann er eines Tages auch mit Karolin eine Übereinkunft treffen und erreichen, dass er mehr Zeit mit Tim verbringen darf als ihn nur ein Mal alle vierzehn Tage zu sich zu holen. Vielleicht hört er dann auch endlich auf, sich morgens vor die Schule zu stellen, um einen kurzen Blick auf seinen Sohn zu werfen, den er so sehr vermisst.
Nur einen Augenblick denkt er zurück an die letzten Worte des verzweifelten Mannes; wie ein Schatten legen sich diese über seine innere Sonne, begleitet von einem fernen Grollen.
Jetzt weiß ich, wer du bist.
„Da kommt jemand.“
„Sind sie es? Kannst du sie erkennen?“
„Noch nicht. Moment.“
David sitzt im Keller seines Hauses und trommelt ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch. Seine Hand zittert so stark, dass ihm beinahe der Hörer herunter fällt. Gleich wird Kerstin den einen Satz sagen.
Gleich.
Vor ihm liegt angekettet und geknebelt ein spindeldürrer Mirko Desche. Nachdem sie ihn erwischt hatten, war es nicht schwer, sämtliche Einzelheiten über sein Leben in Erfahrung zu bringen. Er gab ihnen sehr bereitwillig Auskunft, vor allem dann, als sie drohten, ihn mit kochendem Wasser zu übergießen.
Er lebt getrennt von seiner Partnerin, das gemeinsame Kind – ein zehnjähriger Junge namens Tim – wohnt bei ihr. Zunächst waren sie skeptisch, ob es sich bei Desche wirklich um diesen Mann handelte, vor allem auch weil er das Verbrechen mit einem Mal vehement abstritt, doch nachdem sie in seiner Wohnung waren, verschwand auch der letzte Zweifel. Er war offensichtlich Alkoholiker und hatte die Kontaktdaten des Präventionsprojekts Dunkelfeld der Charité sowohl in seinem Geldbeutel als auch auf seinem PC. Dort konnte David gelöschte Dateien wiederherstellen, die jeden Zweifel aus der Welt räumten.
Mirko Desche ist pädophil, er hatte die Gelegenheit, und schließlich hatte er den Mord gegenüber David bereits gestanden. Das genügte. Er war Timos Mörder.
„Erkennst du sie jetzt?“
„Noch nicht. Sieht aber so aus, als ob sie es sind.“
Über die Lautsprecher hört David, wie Kerstin den Motor des Geländewagens startet. Ein tiefes, schweres Geräusch. Sein Herz rennt und rennt.
Vor vier Wochen erfuhr Desche zum ersten Mal, was wahre Schmerzen sind – seine Eltern kamen bei einem tragischen Autounfall ums Leben. Mitten in der Nacht fuhren sie bei Regen auf einer Landstraße. Es gab keine Zeugen, wenn man einmal davon absieht, dass David mit dem Telefon und dem Lautsprecher in Desches engem Verlies saß und sie alles mitanhörten.
„Sie sind es.“
Das ist die Nachricht, auf die David wartete. „Bist du sicher?“
„Klar. Desches Partnerin. Karolin. Und Tim. Kein Zweifel.“
Sie würden ins Gefängnis gehen, das war ihnen klar. Doch welche Rolle spielt es, ein Leben in Gefangenschaft zu verbringen, wenn die innere Welt längst in sich zusammengefallen ist?
Nur noch eine Sache ist entscheidend.
Der Tod wäre zu gut für ihn. Er soll leiden, so wie wir. Wir nehmen ihm nach und nach alles, was er liebt. Ihn aber lassen wir am Leben, damit er erfährt, was wirkliches Leid bedeutet.
David lächelt, er fühlt sich losgelöst von sich selbst, fern seines Körpers, fern seines Gewissens, ein Zustand, in dem nichts mehr eine Rolle spielt. Wie kann ihn noch irgendetwas berühren, wo ihn sein Sohn doch für immer losgelassen hat?
Er blickt in das eingefallene Gesicht von Desche, der nackt vor ihm liegt und panisch in seinen Knebel schreit.
„Dann los“, sagt er und schließt die Augen.
Durch die Lautsprecher hört er, wie der Motor aufheult, immer lauter wird und irgendwann selbst die erstickten Schreie Desches übertönt.