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Das Bild im Fernsehen

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28.12.2020
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Das Bild im Fernsehen

Viktor
Ich hole mein letztes Abendbier aus dem Kühlschrank und lasse mich auf der Couch nieder. Füße auf den Tisch, Anneke ist sowieso ins Bett gegangen und wer nicht da ist, kann auch nichts sagen. Ich rülpse.
Keiner hört es, nicht einmal ich. Meine Hörgeräte sind ausgeschaltet und, abgesehen von dem Rauschen und Piepsen in meinem Kopf, ist es ruhig.
Es ist sowieso sehr ruhig, seit Ad mich aus unserer Firma rausgeschmissen hat.
"Du machst zu viele Fehler, Viktor. Damit ruinierst du meinen guten Namen und den Ruf meiner Firma."
Seine Firma? Und wer hat sie mit aufgebaut? Ohne mich hätte es seine Firma nie gegeben! Kann ich etwas dafür, dass ich einige A´s und O's nicht verstehe?

"Kein Problem, Viktor. Wir werden das gemeinsam lösen. Dafür sind Freunde doch da, oder?", meinte Ad, als ich vor eineinhalb Jahren mit einem weiteren schlechten Ergebnis meines Hörtests vom HNO-Arzt zurückkam.
Ich bekam stärkere Hörgeräte und weitere Hilfsmittel. Das alles sollte mir helfen, besser zu funktionieren.
Mein Vorschlag, bei Besprechungen oder Beratungen einen Schreibdolmetscher hinzuzuziehen, wird jedoch schnell beiseitegeschoben.
"Ja, wir besprechen natürlich vertrauliche Informationen, das verstehst du doch, Viktor, oder? So jemand kann alles Mögliche weiterleiten."
"Ein Dolmetscher hat eine Schweigepflicht, genau wie ein Arzt", wende ich ein.
Das weiß ich von einem Sozialarbeiter, bei dem ich ein paar Mal war.
"Vielleicht ja, aber ich gehe kein Risiko ein."

Ja, ja, ein Freund, der dich nach nur einem Jahr entlässt, weil du einige Fehler gemacht hast. Nun, der Fehler mit dem Auftrag vom Gemeinderat war nicht ideal. Auf der Konstruktionszeichnung für den Gemeinderat habe ich eine Kreuzung statt einer Siedlung gezeichnet. Natürlich hätte ich das besser überprüfen sollen, aber die Deadline war streng und eine Überprüfung braucht Zeit. Außerdem erschien mir die Kreuzung an dieser Stelle logischer.
Die Planungsabteilung der Gemeinde war wütend. Ad hat versucht, die Lage zu beruhigen, aber er war sauer auf mich.
"Wie kannst du nur so einen Fehler machen, Viktor? Warst du besoffen, oder was? Deine Arbeit ist in letzter Zeit ziemlich schlampig, und es sind unnötige Fehler drin. Ich habe keine Lust, deine Arbeit ständig zu überprüfen, das solltest Du selbst tun! Du kannst von Glück reden, wenn wir jemals wieder einen Auftrag vom Gemeinderat erhalten."
In diesem Punkt hat Ad natürlich Recht: Aufträge fallen nicht wie reife Äpfel vom Baum. Aber die Gemeinde ist nicht unser größter Kunde. Das ist Van Buuren, ein renommiertes Bauunternehmen.
Als Direktor Van Buuren ein paar Monate später einen kleinen Fehler in meinem Bauplan für sein Unternehmen entdeckte, hat Ad mich gnadenlos gefeuert. Netter Freund!

Ach, jetzt rege ich mich schon wieder auf, das ist nicht gut für mein Herz, sagte mir neulich der Hausarzt. Er meinte auch, ich solle weniger trinken. Anneke stimmt ihm in diesem Punkt vollkommen zu.
"Würdest du nicht auch trinken, wenn dein bester Freund dich auf die Straße schmeisst?"
Nein, Anneke würde das nicht tun, dafür ist sie viel zu vernünftig.
"Du musst wieder Arbeit finden, Viktor. Es sind sechs Monate vergangen und du suchst immer noch nicht nach einem neuen Job. Wenn nötig, mach dich selbstständig, nimm selbst Aufträge entgegen, aber tu was! So geht das wirklich nicht."

Anneke, immer die perfekte Mitarbeiterin, Kollegin und meine Ehefrau. Leider können wir keine Kinder bekommen, sonst wäre sie bestimmt auch eine perfekte Mutter gewesen.
Wir haben es versucht, aber anscheinend war ich nicht potent genug. Das konnte sie mir nicht verzeihen. Seitdem schlafen wir getrennt. Nach meiner Meinung hat sie nie gefragt, hat nie meine Traurigkeit gesehen. Manchmal gehe ich am Abend in ihr Zimmer. Wenn sie gut gelaunt ist, kann ich sie überreden. Aber meistens wehrt sie mich ab. Sie ist zu müde, sagt sie dann.

Mit der Fernbedienung zappe ich durch alle Kanäle. Tonlose Bilder huschen vorbei. Zu dieser Stunde ist das Fernsehangebot wirklich extrem schlecht.
Ein Nachrichtensprecher bewegt leise seine Lippen, um eine letzte Zusammenfassung des Tages zu geben. Wie auch immer, ich versuche gar nicht mehr, seinen Lippen zu folgen.
Ich trinke den Rest vom Bier aus der Flasche. Zeit, ins Bett zu gehen. Ich stehe auf und stelle die Bierflasche in die Speisekammer. Morgen früh bringe ich das Altglas direkt zum Glascontainer. Anneke braucht ja nicht genau zu wissen, wie viele leere Bierflaschen es gibt.
Als ich zurückkomme, will ich den Fernseher ausschalten, aber mein Blick verweilt auf dem Bild einer Frau, die mich vom Bildschirm aus anschaut.
Nein, das kann nicht sein! Das ist sogar unmöglich!

Ich starre weiter auf den Bildschirm. Das Foto hat nun Platz gemacht für eine polizeiliche Telefonnummer. Jeder, der weiß, wer diese Frau ist und wo sie sich aufhält, wird gebeten, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen.
Meine Anneke? Wird von der Polizei gesucht? Dazu ist sie viel zu ehrlich und aufrichtig!
Das muss ich Anneke morgen sofort erzählen! Allein der Gedanke daran verschafft mir einen Lachanfall. Das wird sie mir nie glauben.
"Du warst bestimmt betrunken", wird sie sagen und ich sehe in Gedanken, wie sie missbilligend den Kopf schüttelt.
"Höchste Zeit, dass du schlafen gehst, Viktor!" rufe ich mich wieder zur Ordnung.
Noch immer lachend, gehe ich in mein Schlafzimmer und stelle meinen Wecker auf 7:00 Uhr, um Anneke noch rechtzeitig zu erwischen.

Am nächsten Morgen stehe ich entgegen meiner Gewohnheit sofort auf, als der Wecker unter meinem Kopfkissen vibriert. Einen gewöhnlichen Wecker kann ich nicht hören und die starken Vibrationen sind für mich eine effiziente Art und Weise aufzuwachen.
Anneke ist bereits in der Küche und kocht sich einen Kaffee.
"Du bist früh dran." Sie sieht mich fragend an.
"Magst du auch einen Kaffee?"
Ohne meine Antwort abzuwarten, holt sie eine Tasse aus dem Küchenschrank.
"Ich muss dir was erzählen. Du wirst es mir nicht glauben, aber ich habe gestern etwas Merkwürdiges im Fernsehen gesehen. Die Polizei hat das Bild einer Frau gezeigt und die Öffentlichkeit um weitere Informationen über sie gebeten. Und weißt du, wer auf diesem Bild war?"
"Nein, das weiß ich natürlich nicht, weil ich das Bild nicht gesehen habe."
Anneke reicht mir meinen Kaffee.
"Viktor, mach es doch nicht so spannend! Immerhin bist du deswegen extra früh aufgestanden Also ...?"
"Du! Auf dem Bild warst du!"
Gespannt beobachte ich ihre Reaktion. Täusche ich mich oder wird sie ein wenig blass? Einen Moment lang denke ich sogar, sie sei erschrocken.
Dann dreht sie sich um und schüttelt den Kopf.
"Du hast wohl wieder zu viel getrunken. Und du solltest wirklich weniger fernsehen! Davon bekommt man nur Halluzinationen!"
Abrupt stellt sie ihren Kaffeebecher ab und geht zur Küchentür.
"Ich muss los. Hab Spaß heute."
Bevor ich antworten kann, ist sie weg.

Anneke
"Mist! Echt jetzt?" Meine zitternden Finger kriegen den Autoschlüssel nicht ins Schloss. Ich versuche so zu tun, als sei alles normal und einfach das Auto starten.
"Komm schon An, du schaffst das!"
Ich halte meine zitternde Hand mit der anderen fest, dann funktioniert es endlich. Mein Auto startet und ich fahre los, unsere Straße hinunter. Ohne es zu sehen, weiß ich, dass Viktor mich vom Küchenfenster aus beobachtet hat.
Auf dem Parkplatz eines Supermarktes stelle ich das Auto ab, um mich zu erholen.
Ich glaube nicht, dass Viktor etwas bemerkt hat. Warum auch? Er hat ja keine Ahnung!
Ich habe mich nie getraut, es ihm zu sagen. Er hätte sie vielleicht aufgespürt und Kontakt zu ihr aufgenommen, um uns zu versöhnen; und das ist das Letzte was ich will!

Sie muss es sein, auf dem Bild. Unsere letzte Begegnung endete in einem großen Streit. Danach habe ich jeden Kontakt abgebrochen. Dass sie jetzt von der Polizei gesucht wird, überrascht mich nicht. Sie war schon immer die Frechere von uns beiden. Und sie kann auch lügen wie gedruckt. Das kann ich nicht.
Als ich Viktor kennenlernte, habe ich sie vor ihm verschwiegen. Meine Eltern waren zu dem Zeitpunkt schon tot und konnten nichts mehr verraten. Aber das ist nicht wirklich lügen, oder?
Jetzt, wo Viktor mehr trinkt, als er sollte, vertraue ich ihm gar keine Geheimnisse mehr an. Ich verstehe ihn, er macht eine schwere Zeit durch, aber sein Selbstmitleid stößt mich ab.
Von ihm hatte ich mehr erwartet. Er trug seine Traurigkeit, keine Kinder zeugen zu können, mit Fassung. Akzeptierte danach auch meine Ablehnungen. Ich weiß, ihn deswegen abzuweisen ist gemein von mir. Er kann nichts dafür, aber im Bett kann ich ihn nicht mehr dulden; in seinem jetzigen Zustand noch weniger.
Wenn er sich in den Griff bekommt und anfängt, sich Arbeit zu suchen, wer weiß, vielleicht klappt es dann wieder mal zwischen uns.

Das Zittern hat aufgehört und mit Entsetzen stelle ich fest, dass ich schon viel zu lange auf meinem Parkplatz stehe. Mein Termin! Ich starte das Auto und fahre ins Büro.
Als ich hereinkomme und einige Kollegen begrüße, bemerke ich, dass Steven mich spöttisch mustert.
"Hey, solltest du nicht auf der Polizeiwache sein?", fragt er mit einem breiten Grinsen. Ich mag ihn nicht. Er hat ein paar Mal über Henk und seine Sekretärin Mia geklatscht. Hinter deren Rücken, selbstverständlich.
Ohne ein Wort zu sagen, gehe ich an ihm vorbei.
Erleichtert schließe ich die Tür meines Arbeitszimmers und lehne mich vorsichtig dagegen.
"Niemand weiß etwas!" Wie eine Art Mantra murmle ich die Worte einen Moment lang leise vor mich hin.

Ein Klopfen an der Tür holt mich in die Realität zurück. Es ist Henk, mein Chef und auch guter Freund.
"Anneke, die Polizei will mit dir sprechen. Ich habe ihnen bereits gesagt, dass ich davon überzeugt bin, dass du nicht die Person bist, die sie suchen. Bitte sag mir, ich habe Recht."
Unauffällig atme ich tief ein.
"Diese Person bin ich ganz sicher nicht, Henk. Es ist alles ein Missverständnis. Danke für dein Vertrauen, ich weiß es mehr zu schätzen, als du ahnen kannst. Lass die Polizei rein, ich werde mit ihnen reden."
Henk lächelt mich erleichtert an und wendet sich dem Flur zu.
"Bitte gehen Sie hinein. Wenn ich Ihnen weiter behilflich sein kann, wissen Sie, wo Sie mich finden."
Ein Mann und eine Frau in Uniform betreten mein Arbeitszimmer und Henk schließt die Tür.
"Bitte, setzen Sie sich", sage ich leise.
"Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?"
"Nein, danke. Wir werden nicht lange bleiben. Wenn es Ihnen recht ist, komme ich gleich zur Sache. Wie Sie bestimmt schon wissen, sind wir auf der Suche nach der Frau auf diesem Bild."
Die Polizistin ist offenbar für das Gespräch zuständig und zeigt das Foto, das gestern Abend im Fernsehen gezeigt wurde. Viktor hat recht, sie sieht genauso aus wie ich.
"Sind Sie diese Person?"
Aufmerksam schauen mich die Beamten an.
"Nein, bin ich nicht", sage ich mit fester Stimme und schaue ihnen direkt in die Augen. Das kann ich, weil es die Wahrheit ist.
"Wo waren Sie am 19. August diesen Jahres, nachmittags gegen vier Uhr?"
Darüber brauche ich nicht lange nachzudenken.
"Genau hier, im Büro. Und es gibt eine Menge Leute, die das bestätigen können, einschließlich mein Chef Henk, der Sie gerade reingelassen hat."
Die Agenten nicken.
"Das haben wir natürlich überprüft und auch bestätigt bekommen. Dennoch müssen wir Ihnen diese Frage stellen. Haben Sie eine Ahnung, wer diese Person auf dem Bild sein könnte? Sie sehen sich so ähnlich. Ist es eine Verwandte?"
Ich beschließe, die Wahrheit zu sagen. Wenn sie es nicht schon wissen, werden sie es sowieso bald herausfinden.
"Es könnte meine Schwester sein. Ich habe seit unserem letzten Streit vor ungefähr zehn Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr und weiß nicht, wo sie ist. Was ist denn passiert?"
"Wir können nur sagen, dass es sich um einen bewaffneten Raubüberfall handelt. Wir dürfen aufgrund der laufenden Ermittlungen keine weiteren Informationen geben."
"Das verstehe ich. Wie schrecklich!"
"Können Sie uns ein wenig mehr über Ihre Schwester und Ihre Beziehung zu ihr sagen?"
Ich erzähle ihnen alles, was ich weiß, außer von meinem Verdacht. Das sollen sie selbst herausfinden, ich will damit nichts zu tun haben, oder mit ihr.
Wenn ich fertig bin, stehen die Agenten auf.
"Gut, dann wollen wir Sie nicht länger stören. Wir möchten Sie aber bitten, sich bis auf weiteres für Rückfragen der Polizei zur Verfügung zu stellen. Und sollte sich Ihre Schwester bei Ihnen melden, kontaktieren Sie uns bitte."
"Natürlich! Sie wissen, wo Sie mich erreichen. Das sind die Telefonnummern, unter denen Sie mich anrufen können."
Wir tauschen unsere Visitenkarten aus. Dann schütteln sie mir die Hand und gehen.

Mein Körper beginnt gewaltig zu zittern und ich bin kurz davor, meinen Hefter, der auf meinem Schreibtisch liegt, gegen die Wand zu werfen.
"Ich hasse dich!"
Erschreckt stelle ich fest, dass ich diese Worte laut ausgesprochen habe. Hoffentlich hat sie niemand gehört. Mühsam raffe ich mich wieder auf und schnappe mir die Akte der Firma Bos & Co. Ich versuche, mich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren.

Als ich am Abend nach Hause komme, bin ich erschöpft. Glücklicherweise verlief das Treffen mit dem Kunden gut und wir haben den Auftrag erhalten.
Steven habe ich den ganzen Tag so viel wie möglich vermieden. Als ich mich beim Mittagessen zu den anderen an den Tisch setzte, verstummte das Gespräch für einen Moment, niemand schaute mich an, aber sie trauten sich auch nicht, das Polizeifoto anzusprechen. Ich habe einfach so getan, als ob nichts wäre.

Im Wohnzimmer sitzt Viktor auf der Couch und schaut von seinem Laptop auf.
"Hi, wie war dein Tag?"
"Anstrengend, aber der Auftrag haben wir inne."
Ich erzähle ihm nicht, dass ich Besuch von der Polizei hatte. Das würde nur noch mehr Fragen aufwerfen und dafür bin ich jetzt zu müde.
"Herzlichen Glückwunsch! Ich bin stolz auf dich."
Überrascht sehe ich ihn an.
"Danke. Das habe ich schon lange nicht mehr gehört."
"Willst du essen? Ich habe heute gekocht."
Ich fühle mich ein wenig gerührt. Sicherlich hat er auch seine guten Momente.
Natürlich tat er mir leid, als sein Gehör sich verschlechterte. Es war eine schwierige Zeit für uns beide. Emotional für ihn, anstrengend für mich. Immer wieder wiederholen, erklären, ihn in Gespräche miteinbeziehen. In letzter Zeit haben wir uns gegenseitig zusehends isoliert. Viktor will nicht mehr mitkommen, weil er nicht viel versteht. Ab und zu gehe ich noch irgendwo hin oder mit meiner Freundin ins Kino. Er bleibt dann lieber zu Hause. Sein Rückzug tut unserer Beziehung nicht gerade gut. Aber er hat ein gutes Herz.

Es riecht gut in der Küche. Viktor hat sich selbst übertroffen. Boeuf Stroganoff, mein Lieblingsgericht.
"Womit habe ich das verdient?", frage ich erstaunt, als ich mich an den gedeckten Tisch setze.
"Heute Morgen wurde mir klar, dass ich dich schon lange nicht mehr verwöhnt habe. Deshalb dachte ich, es wäre an der Zeit, genau das wieder mal zu tun."
"Ich gehe kurz auf die Toilette und bin gleich wieder da."
Viktor soll meine Tränen nicht sehen.
Als ich mich wieder gefasst habe, gehe ich zurück in die Küche und Viktor stellt das Essen auf die Teller. Auf dem Tisch stehen nun auch eine brennende Kerze und zwei gefüllte Weingläser. Das Rot des Weins leuchtet im Kerzenlicht.
Wie lange ist es her, dass wir beide so romantisch am Tisch gesessen haben?
Wir essen schweigend.
Plötzlich stört das laute Geräusch der Türklingel die Stille. Wir schauen uns gegenseitig fragend an. Viktor schüttelt den Kopf und zuckt mit den Schultern. Ich stehe auf und gehe zur Tür. Als ich die Tür öffne, trete ich erschrocken zurück.
"Hallo Schwesterherz! Darf ich einen Moment reinkommen?"

Inge
"Dann werde ich mich wohl selbst reinlassen. Ich glaube nicht, dass es schlau ist, hier draußen herumzustehen."
Mit Gewalt schiebe ich Anneke zur Seite und schließe die Wohnungstür.
Sie ist zu fassungslos, um mir Widerstand zu leisten, und ich gehe weiter, den Korridor entlang.
"Bist du nicht froh, mich wiederzusehen?" Ich grinse.
"Ja, das hättest du nicht gedacht, was? Ich liebe Überraschungen, besonders wenn sie nicht für mich sind. Bekomme ich noch eine Tour hier?"
Anneke steht immer noch regungslos bei der Tür und sieht aus, als hätte sie gerade ein Gespenst gesehen.

"Komm schon, Schwesterherz! Ich bin nicht der Teufel. Wo ist deine Gastfreundschaft geblieben? Bietest du mir nichts zu trinken an?"
Dann regt sich endlich was in ihr.
"Du gehst jetzt sofort, ich will dich nicht in meiner Wohnung!"
"Na, na, das ist aber keine nette Begrüßung von dir. Nach so vielen Jahren haben wir doch sicher Nachholbedarf, denkst du nicht?"
Ich öffne die Zimmertür und mache eine einladende Geste in Richtung Anneke.
"Nach dir."
Mit sichtbarem Widerwillen geht sie an mir vorbei in den Raum. Ich folge dicht hinter ihr und bin überrascht von dem, was ich sehe. Weiße Wände, moderne Möbel und große Fenster, durch die viel Licht fällt. Es ist nicht überfüllt, aber der Innenraum hat eine Menge Atmosphäre.

Dann fällt mein Blick auf die offene Küche. Ein Mann sitzt an einem gedeckten Tisch und schaut uns mit großen Augen an.
"Wer sind Sie?", fragt er ein wenig heiser.
"Ich bin Inge und du bist?"
"Viktor."
"Und sonst noch? Bist du zu Besuch oder Freund, Ehemann?"
"Ehemann", klingt es schüchtern.
"Gut für dich, ich schätze Klarheit."
Dann wende ich mich wieder Anneke zu, die bisher geschwiegen hat.
"Da bin ich aber enttäuscht von dir, Schwesterherz. Du hast nicht mal deinem eigenen Kerl von mir erzählt? Dann sollten wir dieses Versäumnis nachholen."
"Für mich existierst du nicht mehr, also warum hätte ich das tun sollen?"
Anneke erwacht wieder ein wenig zum Leben und anscheinend ist sie nicht glücklich mit mir. Pech für sie.
Hierher zu kommen war, ich gebe es zu, ein bisschen riskant. Aber unter den gegebenen Umständen musste ich etwas unternehmen.
Ich brauche eine Untertauchadresse und Annekes Hilfe, ob sie will oder nicht. Ich werde sie schon dazu bringen; sei es nur, um mich loszuwerden. Zeit, Klartext zu reden.

"Also Schwesterchen, Viktor. Ihr wisst inzwischen bestimmt, dass die Polizei nicht mein bester Freund ist. Kurz gesagt: Ich bin auf der Flucht und ihr werdet mir helfen zu verschwinden. Ihr könnt dies auf die eine oder andere Weise tun. Wenn ihr kooperiert, bin ich bald wieder weg. Die Wahl liegt bei euch."
"Und was willst du von uns?"
Anneke starrt mich fest an. Ihre Augen funkeln vor Wut.
Gut, das hält sie auf Trab.
"Es wird etwas Improvisation erfordern, nach der Ausstrahlung meines Bildes gestern Abend. Aber ich brauche deinen Reisepass, Geld und einen Flug nach Argentinien. Das ist alles", sage ich aufgeräumt.
"Das ist alles?", meldet sich nun auch Viktor zu Wort.
"Ja, einfach, nicht wahr?"
"Und wie willst du das anstellen?" fragt Anneke.
"Ich mache gar nichts, du aber schon, liebe Schwester", stelle ich sofort klar.
"In deinen Träumen", widerspricht sie mir.
"Willst du mich loswerden oder nicht? Dann tust du, was ich dir sage. In der Zwischenzeit unterhalte ich mich mit deinem Gatten", grinse ich.

Anneke kommt mit einem drohenden Blick auf mich zu.
"Du gehst, sofort, oder ich rufe die Polizei!"
"Nein, wirst du nicht", sage ich ruhig.
"Sobald du den Hörer abnimmst, wird dein Viktor dafür büßen."
Eiskalt zeige ich, wer hier das Sagen hat.
"Du weißt, wozu ich fähig bin. Stell mich nicht auf die Probe."
Anneke schluckt und schlägt die Augen nieder.
"Wie hast du dir das alles vorgestellt", sagt sie leise.
"Siehst du, jetzt gehen wir in die korrekte Richtung. Mein Haar wird die gleiche Farbe bekommen wie deines und du wirst sie mir einen identischen Schnitt verpassen. Wenn die Lage sich beruhigt hat, buchst du einen Flug für mich und ich fahre in deinem Auto und in deinen Klamotten zum Flughafen. Natürlich kommen auch eure Bankkarte und dein Ausweis mit. Oh, und als guter Ehemann wird mich Viktor natürlich begleiten."
Ich zwinkere Viktor kurz zu. Er schaut resigniert zurück.
"Aber auf dem Ausweis befindet sich mein Fingerabdruck und nicht deiner. Außerdem wird die Polizei mich beobachten. Sie waren heute Morgen in meinem Büro. Sie haben mir geglaubt, dass ich nicht die Person im Bild bin, aber ich muss mich trotzdem zur Verfügung halten. Und wenn du dich bei mir meldest muss ich sie anrufen."
"Danke für deine Besorgnis, Schwesterchen, deshalb werde ich vorerst als DU durchs Leben gehen. Wenn ich auffliege, bist du meine Komplizin, weil du einem Flüchtigen geholfen hast."
Das sitzt. Anneke und Viktor schweigen.
"Und jetzt wollen wir uns den Rest der Wohnung mal anschauen."
Anneke geht schweigend voran. Als ich sehe, dass sie getrennte Schlafzimmer haben, muss ich lachen.
"Oh, das läuft ja richtig gut zwischen euch!"
"Das geht dich nichts an", schnauzt Anneke.
"Heute Nacht werden wir uns aber ein Zimmer teilen, Schwesterchen. Ich werde dich nicht aus den Augen lassen."

Nach dem Haarschnitt und dem Färben, sehe ich Anneke total ähnlich. Zu meiner Überraschung kommt sie mit Kamm und Schere gut zurecht. Als ich sie darauf anspreche, gibt sie zu, dass sie Viktor immer die Haare schneidet. Er will nicht zum Friseur, weil er dort ohne seine Hörgeräte nichts verstehen kann. Nun, das macht Sinn.
Es wird eine angespannte Nacht, ohne Schlaf.
Ich schließe Viktor in seinem Zimmer ein und behalte den Schlüssel bei mir.
"Wie konnte es denn bei dir bloß soweit kommen?", fragt Anneke, als wir gemeinsam auf ihrem breiten Bett liegen.
"Du kennst mich doch", antworte ich.
"Dass ich eine Verbrecherin bin, hast du mir schon bei unserem letzten Streit an den Kopf geworfen. Da dachte ich: "Lass mich beweisen, dass sie recht hat."
Jetzt musste ich vorsichtig sein. Sarkasmus ist ein Zeichen von Schwäche und das könnte sie ausnutzen.

Natürlich hat mich ihr Kommentar vor vielen Jahren verletzt. Zugegeben, ich war schon damals ein Früchtchen, vor allem im Vergleich zu meiner braven Schwester. Es gab oft Schläge, mein Vater hatte eine lockere Hand. In der Schule wurde ich von allem ausgeschlossen.
Später habe ich meine Freunde gefunden. Dass sie, laut meinen Eltern und Anneke, die falschen Freunde waren, war mir egal. Eine Brieftasche hier, eine Handtasche dort, solange sie mich nur lobten und akzeptierten.
Richtig schief ging es erst, als ich unser Elternhaus in Brand steckte, einen Tag nachdem Papa mich mal wieder grün und blau geprügelt und mir Hausarrest verordnet hatte. Niemand war zu Hause, als ich eine Bettdecke angezündet habe und rasch durch das Fenster geflohen bin. Die Feuerwehr kam zu spät. Keiner konnte beweisen, dass ich es war.
Mama und Papa erholten sich nie von dem Schock und starben kurz danach.
Anneke hat immer vermutet, dass ich der Brandstifter war. Sie brach nach einem Streit darüber jeden Kontakt ab.
Als ich Carlo kennenlernte, brauchte er nicht viel, um mein Interesse an seinem gewalttätigen Netzwerk zu wecken. Und jetzt bin ich auf der Flucht.
"Du wirst es nie verstehen. Du hast immer alles nur in "gut" und "böse" betrachtet, genau wie Mama und Papa. Aber ich bin ganz zufrieden mit meinem Leben, so wie es ist. Und bald werde ich in Argentinien alle Freiheiten haben, die ich brauche."
Anneke wendet sich von mir ab.
"Jetzt ist Schluss mit Gerede. Licht aus und schlafen", sage ich und schalte die Bettlampe aus.

Der nächste Morgen vergeht schweigend. Als ich Anneke zur Arbeit schicke, mit der strikten Anweisung, sich so normal wie möglich zu verhalten, bin ich endlich mit Viktor allein.
"Ich bewundere deinen Mut", sagt er und streichelt sanft meine Wange.
"Sogar ich dachte für einen Moment, dass es Anneke war, auf diesem Bild. Hast du das Geld im Bahnhofssafe, wie vereinbart?"
"Ja, wenn wir wegkommen, müssen wir es nur noch abholen", sage ich und nehme seinen Kopf zwischen meine Hände. Dann küssen wir uns innig und ausgiebig.

 

Lieber @Rob F, vielen Dank für das Lesen und deine Rückmeldung.
Leider kann ich im Moment nicht darauf eingehen, weil ich mich morgen testen lasse und so bald das Ergebnis da ist, zu meiner Mutter in den Niederlanden verreise. Sie liegt im Sterben, also es wird wohl etwas dauern bis ich mich wieder hier melde.
Tut mir sehr leid, aber ich verspreche: ich komme später darauf zurück.

Liebe Grüße,
Schwerhörig.

 

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