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Das bittere Mahl
Das bittere Mahl
In dem Moment, als Fabian durch die Tür schritt, definierte er seine Vorstellung von Entsetzen neu.
Er hatte vielerlei Dinge in seinem Leben gesehen. Er hatte eine junge Mutter ihr Kind aus dem Fenster werfen sehen, einen Hund an seinen Ohren aufgehängt über einer Feuerstelle braten, eine Wasserleiche mit aufgequollenem Körper, und einmal sogar ein Brandopfer, dessen Haut wie Gummi geschmolzen war und sich vom Fleisch gelöst hatte. Doch noch nie zuvor hatte er ein Bild von einer derartigen Abscheulichkeit und Grausamkeit gesehen, das sich nun vor ihm darbot.
Er trat einen Schritt zurück und stieß beinahe mit dem Hinterkopf an die kalte Betonwand. Er versuchte in Gedanken noch einmal das Telefongespräch von heute Morgen zu rekonstruieren, doch irgendwie ergab das alles keinen Sinn. Nicht den geringsten verdammten Sinn.
Draußen dröhnte eine Polizeisirene in der regnerischen Nacht.
Die Stummen werden sprechen, dachte Fabian bei sich. Das hatte die Anruferin heute Morgen gesagt. Die Stummen werden sprechen, und die Blinden werden sehen.
Er wischte sich mit der rechten Hand den Schweiß von der Stirn und wandte seinen Blick von der abscheulichen Verwüstung in der Mitte des Raumes ab. Er fasste in seine Manteltasche und zog ein Handy heraus. Dabei wandte er sich dem Fenster zu und lies seinen Blick vom neunzehnten Stock aus über die Dächer Wiens gleiten. Er betätigte die Wahlwiederholungstaste des Nokias, während der Regen gegen die Fensterscheibe peitschte.
„Dies ist die Mobilbox der Nummer: Neun. Acht. Sieben. Sieben….“
„Verdammt“, sagte er und spuckte auf den Betonboden, dann drehte er sich wieder um.
Die toten Kinder lagen in einer Lache aus geronnenem Blut, und obwohl Fabian versuchte sich keine Details einzuprägen, stachen ihm eben solche ins Auge: Eine der vermutlich zwanzig nackten Kinderleichen, die aufgetürmt einen grausigen Haufen in der Mitte des Raumes bildeten, hatte keine Nase mehr. Ein schwarzes Loch klaffte zwischen Mund und Augen. Ein anderes Kind, ein Mädchen, lag verkehrt mit geöffneten Augen und durchgeschnittener Kehle da – Fabian dachte, der Kopf musste sich bald vom Hals lösen, so lang und tief wie der Schnitt war.
Ganz oben auf diesem bizarren Scheiterhaufen aus kleinen Menschen, hockte eine schwarze Ratte und fraß von einem Unterschenkel.
Fabian übergab sich, und einzelne halbzerkaute Nudeln plätscherten in einem hellen, sauren Ragout vor ihm auf den Boden. Als er vor einer halben Minute den Raum betreten hatte, war er zu geschockt gewesen, doch nun hatte der Anblick seinen Magen überwältigt.
„Die Stummen werden nur sprechen, wenn die Sprechenden verstummen, Herr Zöttler.“ Das hatte die Anruferin gesagt. „Erzählen Sie jemanden von diesem Telefonat, werden Sie nichts in dem Apartment vorfinden. Glauben Sie mir, wir bekommen das schneller mit, als es Ihnen lieb ist.“
Warum zum Teufel hatte die Anruferin ihn hierher geführt? Wenn sie gewollt hätte, dass ein Verbrechen geklärt würde, hätte sie doch…
„Gleiches gilt, wenn Sie heute Abend um 22.00 Uhr dort eintreffen. Sie werden etwas vorfinden, das Ihnen nicht gefallen wird, doch Sie sollten auch dann wirklich nicht die Ruhe verlieren.“ Das Wort wirklich hatte sie etwa zwei Sekunden lang betont, so dass es sich bereits lächerlich angehört hatte.
„Erkunden Sie stattdessen das Apartment. Merken Sie sich genau, was ich Ihnen sage. Wenn Sie ankommen, wird die Türe verschlossen sein. Die Zahlenkombination, mit der Sie Zutritt erlangen, lautet 37335.“
Fabian hatte sich die Zahlenkombination auf ein gelbes Post-it notiert:
37335.
„Betreten Sie den Vorraum. Stören Sie sich nicht daran, dass es alt und verlassen aussieht, das ist nämlich auch so. Sehen Sie ins Badezimmer, die erste Türe links, wenn Sie wollen.“
Das „Badezimmer“ hatte Fabian gesehen. Es war ein grauer, unmöblierter, unverfliester Raum, in dem einige Stromkabel und Wasseranschlüsse aus der grauen Betonwand ragten, nicht mehr und nicht weniger.
„Schreiten Sie fort zum Wohnzimmer. Öffnen Sie die Tür, es ist die am Ende des Ganges, gerade vor Ihnen. Öffnen Sie die Tür, dann werden Sie finden, was Sie suchen.“
Fabian suchte nichts. Schon gar keinen Fleischhaufen aus Kinderleichen, auf dem eine Ratte saß und wie ein König speiste. Er war erst achtundzwanzig Jahre alt, gerade mal drei Jahre bei der Polizei und wollte nichts weiter, als seiner Karriere einen Gefallen tun. Wie hatte die Anruferin doch gesagt? Sie würde ihm etwas zeigen, das ihn berühmt, ja zum Helden machen würde. Er hätte die Chance dazu, wirklich etwas zu bewegen. Wenn er es nicht vermasselte, das waren ihre Worte. Nun war er kurz davor, es tatsächlich zu vermasseln.
Er starrte sein Nokia an. Seit dem Anruf hatte er regelmäßig versucht, die Unbekannte zurückzurufen, sie hatte ja nicht mal eine Privatnummer benutzt sondern eine ganz normale T-Mobile Handynummer, nur war das Handy ausgeschalten. Gegen Mittag hatte er ihr sogar etwas auf die Mobilbox gesprochen – dass er nicht sicher sei, ob er tatsächlich dort hinkommen sollte und dass es ihm lieber wäre, noch einmal mit ihr zu sprechen. Doch der geforderte Rückruf blieb aus, was zwar keine Überraschung war, ihn aber trotzdem ärgerte.
Stundenlang war er hin- und her gerissen – sollte er heute Nacht dorthin kommen, oder sollte er den Fall öffentlich machen, seine Kollegen informieren und mit einer Polizeischwadron das Haus stürmen?
Der Fall? Welcher Fall?
Irgendwann war er zur Einsicht gekommen, dass er nichts in der Hand hätte, und wenn sich das ganze als Gag herausstellte, würde er nicht nur weiterhin der erfolglose Jüngling in der Abteilung, sondern auch noch der Pausenclown des ganzen Reviers sein. Nein, das wollte er nicht. Und wenn er tatsächlich etwas Großes finden sollte…etwas Wichtiges, etwas, das ihn in seiner Karriere weiterbringt….tja, dann…
Fabian blickte vom Nokia auf. Bis auf das groteske Fleischmöbelstück in der Mitte, war der Raum unmöbliert. An der Decke waren einzelne Glühbirnen befestigt, die den Raum erhellten und an manchen Stellen ragten Kabeln und Rohrstücke aus der Mauer, aber ansonsten war es einfach nur ein Raum mit einem Leichenhaufen in der Mitte. Und dahinter…dahinter war eine Tür.
„Untersuchen Sie das Wohnzimmer genau. Sehen Sie sich alles an. Wenn Sie mit den Untersuchungen fertig sind, schreiten Sie zum nächsten und letzten Raum voran.“
Der nächste Raum. Fast hätte er es vergessen.
Fabian erhob sich aus seiner Hocke und trat ein paar Schritte auf die Seite, penibel darauf bedacht, nicht in seine halbverdaute Mahlzeit oder in die Ausläufer des Blutsees zu treten. Plötzlich musste er niesen, und als er wieder Luft holte und den sauren Nachgeschmack des Erbrochenen wahrnahm, bemerkte er, dass es in dem Raum nicht stank. Mein Gott, da lagen zwanzig Leichen auf einem Haufen, und Ungeziefer kroch über die Körper, und trotzdem roch es hier so neutral, wie es nur möglich war.
Er schritt nahe der Wand entlang und ging in großem Bogen um den Haufen herum zur Tür. Es war eine weiße Tür, die in der Mitte ein milchiges Glas eingesetzt hatte, durch das man nichts sehen konnte, außer, dass es in dem Hinterraum wohl dunkel war.
Noch einmal drehte er den Kopf zum Leichenhaufen. Die Ratte war jetzt verschwunden. Vielleicht hatte sie sich bereits nach unten gefressen, durch weiche Därme in einen der kleinen Körper hinein, ständig nagend. Schnell verwarf er den Gedanken und wandte sich der Türe zu.
Die Klinke lag kalt in seiner Hand, und gerade wollte er sie hinunterdrücken, als er hinter sich ein kratzendes Geräusch hörte.
Blitzartig drehte er sich um und hielt den Atem an.
Der Haufen hatte sich nicht verändert, und es war nichts Auffälliges zu sehen. Eine Glühbirne an der Decke begann zu flackern, schien sich nach wenigen Sekunden jedoch wieder zu erholen und strahlte weiterhin ihr warmes Licht in den kalten, toten Raum.
Ein Handy läutete.
Fabian zuckte zusammen, warf einen Blick auf die Tür, durch die er gekommen war, sah zu den Fenstern hinüber, gegen die noch immer der Regen peitschte, und erkannte dann, dass es sein eigenes Handy in seiner Hand war, das läutete.
Ruckartig ließ er das Display nach oben schnellen, um zu sehen, wer der Anrufer war.
+436769877431, wie konnte es auch anders sein. Die T-Mobile Nummer von heute Früh.
Der Nokia-Tune hallte in dem großen Raum.
Schließlich nahm er den Anruf an.
„Hallo?“, sagte er.
„Sprechen sie bereits, Herr Zöttler? Sprechen die Stummen bereits?“
„Wer zum Teufel sind Sie? Wer sind diese Kinder? Was wollen Sie von mir? Ich bin in diesem Apartment, zusammen mit einem verdammten Haufen toter Kinder, und wenn Sie mir nicht auf der Stelle sagen, was hier gespielt wird, werde ich …“
„Herr Zöttler, Sie wissen doch: Nur wenn die Sprechenden schweigen, werden die Stummen sprechen. Und nur wenn die Stummen sprechen, werden die Blinden sehen.“
Fabian griff sich an die Stirne und schrie in das Mobiltelefon: „Ihre verdammten Rätsel habe ich satt! Ich werde jetzt meine Kollegen anrufen und zwar sofort!“
„Versuchen Sie wenigstens noch den letzten Raum, Herr Zöttler. Der letzte Raum. Betreten Sie ihn, und Sie werden es nicht bereuen. Danach können Sie Ihre Kollegen von der Polizei anrufen, wenn Sie das immer noch möchten. Aber geben Sie uns eine Chance – geben Sie sich selbst eine Chance. Sie werden groß dastehen, das verspreche ich Ihnen.“
Fabian erstarrte. Betreten Sie den letzten Raum? Aber wie konnte sie wissen, dass…? Hastig drehte er sich zur Tür um, blickte dann wieder abwechselnd zu den Fenstern und zur anderen Türe, durch die er gekommen war. Nichts zu sehen. Aber er wurde beobachtet, soviel war sicher.
„Wo stecken Sie?“, fragte Fabian mit nervöser Stimme, doch das Klicken in der Leitung verriet ihm, dass die mysteriöse Anruferin aufgelegt hatte.
Er atmete tief ein, wobei er wieder den neutralen Geruch feststellte. Es roch nach….nichts.
Fabian steckte sein Mobiltelefon in die Manteltasche und drehte sich wieder zur Tür um, die in den letzten Raum führte. Sollte er wirklich da reingehen? Sie werden es nicht bereuen, hatte sie gesagt. Aber die Frau war doch völlig verrückt. Musste verrückt sein. Das hier war Massenmord. Er sollte seine Kollegen anrufen. Streifenpolizisten mussten ganz in der Nähe sein, die konnten in wahrscheinlich fünf, maximal zehn Minuten hier sein und dann konnten sie zusammen…
(Geben Sie sich selbst eine Chance. Sie werden groß dastehen, das verspreche ich Ihnen. Sie haben die Chance, wirklich etwas zu bewegen.)
Fabian drückte die Türklinke nach unten.
Der letzte Raum, wie die Anruferin ihn bezeichnet hatte, war stockdunkel, und als Fabian die Türe öffnete, drang das Licht von außen hinein und machte aus dem Schwarz dunkles Grau. Er konnte immer noch nichts sehen, da seine Augen noch an das Licht gewöhnt waren. E machte einen Schritt nach vorne und tastete mit der Hand nach einem Türschalter, sehr darauf bedacht, nicht zu weit in den dunklen Raum vorzudringen. Seine Hand glitt über die Wand, fühlte zuerst kalt, dann nass und plötzlich etwas Weiches, Pelziges.
Fabian schrie auf und zog die Hand zurück, gleichzeitig sprang er von der Wand weg und hinein in den dunklen Raum. Von draußen, vom hellen Raum hörte er wieder das kratzende Geräusch. Diesmal lauter und deutlicher. Näher.
Er warf einen hastigen Blick nach draußen zum Leichenhaufen, und obwohl es ihm in den Augen stach, und er nicht wusste, ob das, was er sah, Wirklichkeit oder Einbildung war, glaubte er doch, dass sich der Haufen bewegte. Bei dieser Erkenntnis zuckte er zusammen und stieß mit der Ferse an etwas Großes. Er stolperte darüber, schrie auf, fiel hin und schrie ein weiteres Mal auf, als er im Dunkel des Raumes auf etwas Haariges fiel. Gleichzeitig fiel die Tür ins Schloss und ließ Fabian in völliger Dunkelheit zurück.
Sofort wollte er aufstehen und stützte seine Hände auf das haarige Ding, auf das er gefallen war. Es gab nach und er merkte, dass sich unter ihm der Boden bewegte. Fabian zitterte vor Angst, bekam zwischen den Haaren irgendetwas Fleischiges zu fassen und schaffte es auf die Knie….unter ihm bewegte sich etwas, und langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit….er konnte einen Umriss sehen, einen Berg, eine Hügellandschaft, ein lebender Boden, ein lebender Raum, ein…
„Schön, dass du gekommen bist“, sagte eine tiefe, keuchende Stimme, irgendwo aus der homogenen Grauheit des Raumes.
„Wer ist da?“, fragte Fabian, wobei seine Stimme zitterte als hätte es Minusgrade im Raum.
„Warte“, sagte die Stimme aus der Nacht. „Einen kurzen Augenblick, dann können wir uns besser sehen.“ Den Worten folgte ein konstantes, summendes Geräusch von scheinbar überall her, und Fabian sah in der sternklaren Nacht die leuchtenden Häuser Wiens vor sich auftauchen. Jemand ließ die Jalousien hinauf.
Je länger das Geräusch andauerte, desto heller wurde es im Raum, da das Licht der Stadt hereinfiel, und als es schließlich so hell wurde, dass Fabian erkennen konnte, mit wem er sprach, musste er zum zweiten Mal in derselben Nacht seine Vorstellung von Entsetzen neu definieren.
Vor ihm lag, nein, um ihn herum lag ein Gebirge aus Fleisch, aus Fleisch mit Haut und Haaren darauf. Ein Gebirge, das sich erst langsam als lebendig herausstellte, und erst nach mehreren Sekunden erfasste Fabians Verstand, dass es sich dabei um einen Menschen handelte, oder zumindest um etwas, das einem Menschen ähnlich sah.
Vor Fabian Zöttler lag das fetteste Wesen, das er je gesehen hatte. Der gesamte Raum war mit Fleisch ausgefüllt, der große Berg vor ihm war ein riesiger Bauch und als Fabian sich umsah, stellte er fest, dass das pelzige Ding, dass er an der Wand berührt hatte, eine Zehe dieses Wesens war.
Entsetzt blickte er nach unten, und dann sah er, in was er gefallen war – mitten in einen Wald aus dünnen, struppigen Fäden, der das Schamhaar dieses Monsters bildete. Angewidert erkannte er auch das dicke, fleischige Ding in Mitten der Haare, das er vorhin zu fassen bekommen hatte.
Hätte Fabian sich nicht vor wenigen Minuten übergeben, hätte er es nun getan.
„Wie heißt du?“, brummte das Ding, und Fabian versuchte über den Fleischberg-Bauch hinwegzusehen und das Gesicht des Wesens zu erblicken. Doch das Gesicht war nur eine weitere Ansammlung von unglaublichen Fettes, ein einziges Geschwulst, das scheinbar direkt mit dem Bauch verwachsen war. Augen waren keine zu sehen, da sich Fettschichten darüber hinweg wölbten, doch darunter war eine riesige, schwarze Höhle zu sehen, aus der die Worte dieses Ungetüms kamen.
„Mein Gott...“ war das erste, was Fabian herausbrachte. „Wer..was sind Sie?“
„Was ich bin?“ Das Ding begann zu lachen, wobei sich Wellen über den Bauch bildeten, und der ganze Raum zu schwabbeln schien. Fabian stand zwischen den Oberschenkeln des Wesens und trat weiter zurück.
„Ich bin etwas, was die Menschheit erschaffen hat.“ Das Ding brummte tief und laut, atmete dabei aber schwer. „Ich bin etwas, das die Menschheit benötigt. Ohne mich und meine Arbeit, mein Freund, wäre die Welt um vieles dunkler.“
„Ihre Arbeit?“ Fabian kämpfte dagegen an, sich noch ein weiteres Male zu übergeben.
„Meine Arbeit, ja. Ich bin wie eine Spinne, die Insekten frisst.“
Bei diesem Satz glaubte Fabian plötzlich zu wissen, was dieses Unwesen den ganzen Tag so fraß, und er stürzte zu Türe.
„Hier geblieben!“ stöhnte das Wesen und drehte seinen Fuß so zur Seite, dass die fetten Würste, die seine Zehen waren, die Türe versperrten. „Du kannst jetzt nicht gehen!“
Fabian drehte sich wieder zu dem Monster um.
„Was wollen Sie vor mir, Sie Kannibale?“ schrie Fabian den Fettberg an.
„Kannibale?“ Das Wesen atmete keuchend aus. „Das, was du da draußen gesehen hast, mein Freund, sind tote Kinder, aber es sind keine Leichen.“
„Was reden Sie da? Sie sind völlig krank!“
„Ich spreche die Wahrheit, mein Freund. Was du gesehen hast, sind Kinder, die bereits in jungen Jahren getötet wurden. Von innen heraus getötet. Infiziert, mit einem schleichenden Gift, oft injiziert von den Personen, die ihnen am nächsten standen.“
Wieder keuchte das Wesen.
„Kinder, die innerlich tot, aber zum Weiterleben verdammt sind. Kinder, die von ihren Vätern, Onkeln, Tanten und Brüdern getötet wurden. Kinder, die mit Gift im Geiste weiterleben müssen.“
Es machte eine kurze Pause, dann sagte es schließlich: „Das da draußen, mein lieber Freund, sind die Seelen missbrauchter Kinder.“
„Was reden Sie da?“ Fabian starrte den Fleischberg an, verstand nicht, was er da hörte, wollte nicht wahrhaben, was er sah.
„Wenn Kinder die Hölle durchleben, dann sieht ihr Inneres so aus wie das, was du da draußen gesehen hast, mein Freund. Das da draußen ist, was von ihrer Seele noch übrig ist. Da draußen liegt Hass. Da draußen liegt der Wunsch nach Tod. Schwärze und Fäulnis und Verwesung. Da draußen liegt Gift, mein Freund, Gift, Gift, Gift.“
Nur langsam drangen die Worte von dem Ding, das da im Raum verteilt lag, in Fabians Hirn ein. Er hatte keinen Geruch vernommen da draußen. Ein Haufen voller toter Kinder, und er hatte nichts gerochen….
Weil es Seelen sind und keine Leichen, sagte irgendetwas in ihm.
„Ich habe dich gefragt, wie du heißt.“
Fabian sah auf. „Fabian Zöttler. Ich bin von der österreichischen Bundespolizei, und ich glaube kein Wort, von dem, was Sie da reden.“
„Es sind die Stummen, die durch mich reden“, brummte das Ding. „Die Kinder, die es nicht wagen, zu sprechen, die sich nicht trauen, auch nur ein Wort zu verlauten. Es sind die Stummen, die durch mich reden, damit Blinde wie du endlich sehen können.“
„Warum hat man mich hierher gelockt?“
„Sieh dich um, Fabian. Was siehst du?“
Fabian sah sich um, und außer Fleisch und Haaren und im Hintergrund die Dächer von Wien, konnte er nicht viel sehen. „Ich sehe Sie – einen riesigen Brocken Fett.“
„Wie Recht du doch hast. All der Hass, den ich fressen muss, all das Leid, all die Fäulnis, die ich verzehren muss, das alles hinterlässt Spuren. Ich bin am Ende, Fabian, ich kann nicht mehr. Draußen stapeln sich bereits die Seelen, aus denen ich den Hass und das Leid herauspressen muss, damit sie weiterleben können, damit sie wieder fühlen, vielleicht eines Tages sogar wieder lieben können. Ich muss die Seelen säubern von jener bösen Fäulnis, die ihnen zugefügt wurde – jene unschuldigen Seelen reparieren. Doch ich kann nicht mehr. Zuviel davon gefressen, in den letzten Jahrzehnten. Und es wird nicht besser.“
Das Wesen keuchte, dann hustete es, wobei der Raum erzitterte und Fabian fast wieder auf den Boden fiel.
„Mein Gott, wie krank Sie daherreden. Ich kann es nicht fassen.“ Fabian griff in seine Manteltasche, worin er das Handy erfühlte.
„Fabian, mein Herz ist kurz davor zu versagen. Wenn ich sterbe, bleiben all die Kinderseelen schwarz, und das Zimmer wird sich füllen, bis es überquillt und die Menschheit es nicht mehr ertragen kann. Glaube mir, wenn die Spinne stirbt, bleibt viel Ungeziefer am Leben.“
Fabian zog das Handy aus seiner Tasche, doch ein kleiner gelber Zettel haftete auf dem Display. Das Post-It, auf das er die Zahlenkombination geschrieben hatte klebte verkehrt herum am Handy:
SEELE
Schnell riss er das Post-It ab und betätigte die Kurzwahltaste, die ihn mit der Zentrale verband.
„Nein, Fabian, das kann ich nicht zulassen.“ Mit diesen Worten erhob sich etwas Riesiges, Schweres neben Fabian, und als er erkannte, dass es sich dabei um die riesige Hand des Ungetüms handelte, war es bereits zu spät.
Fett umspülte Fabian, drückte ihn, quetschte ihn, würgte ihn.
Hinter ihm öffnete sich die Türe, und er hörte, wie ein Heer aus Ratten den Raum erstürmte.
Irgendwo inmitten des Fettes brummte die Stimme des Wesens: „Meine Leute – du kannst sie die Personalabteilung nennen, wenn du möchtest – haben dein Profil als passend eingestuft. Du bist jung, rein und vor allem dünn.“
Dann wurde es schwarz um ihn herum, und bevor er wegdriftete, vernahm er von sehr weit weg: „Ja, dünn.“
Später.
Viel später.
Nackt saß Fabian in dem Penthouse, und als die Ratten die erste Seele ins dunkle Zimmer scharrten, fraß er Hass, Trauer und Fäulnis aus ihr heraus, während die stumme Stimme ihm alles erzählte.
Er fraß und fraß und fraß, doch soviel Bitterkeit er auch verzehrte, es schien immer noch genug da zu sein.
(c) Markus Böhme
November 2006, Graz/Frankfurt
Das Cover von Jörg Vogeltanz zu dieser Geschichte könnt ihr euch hier ansehen.