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Das blaue Bild
Langsam streifte ich durch das alte Kellergemäuer. Die Backsteine, die früher von einer weissen Farbschicht überzogen waren, lagen brach. Hätte ich meinen Tastsinn nicht längst schon eingebüsst, wäre ich mit der Hand über die Mauer gefahren. Doch ich spürte auch so, dass sie rau war. Ich musste lachen. Sie war genau wie ich.
Ich nahm die Treppe, die mich ins obere Stockwerk führte. Der Weg zur Bibliothek, der mir so vertraut war, bekam unter der mangelnden Präsenz von anderen Menschen ein ganz anderes Ambiente. Anderen Menschen? Anderen? Menschen? Eines dieser Worte war eindeutig falsch. Jetzt… und auch schon zuvor. Anderen, ja. Aber ob ich je ganz Mensch war… es lässt sich schwer sagen.
Die Tür zur Bibliothek war längst aus den Angeln gefallen. Mein Weg führte mich direkt an den leeren Regalen vorbei, hin zu der Stelle, an der das blaue Bild hing. Es war sehr schlicht, niemand hätte es ernsthaft als Kunst bezeichnet. Es war einfach eine azurblaue Fläche, die von blutroten, wilden Strichen überzogen war. Nein, ein Kunstwerk war es nicht. Genauso wenig, wie mein Leben es war.
An der Wand gegenüber hing ein Spiegel. Obwohl ich selbst längst kein Abbild mehr warf, glaubte ich in ihm mein Ich zu erkennen. Mein bleiches, schwarzes Ich, das mehr Schatten denn Mensch war. Es gab nur etwas, was Farbe in mein Äusseres brachte: die dunkelroten Striche, die sich auf meiner weissen Haut abzeichneten. Dunkelrote, wilde Striche, die, obwohl die Welt sich doch immer nach Farbe sehnte, von niemandem wahrgenommen wurden. Ich musste lächeln. Einmal mehr.
Raus. Raus war immer meine Devise gewesen. Also verliess ich die Bibliothek und kurz darauf verliess ich auch das Haus. Der Wind wehte mir entgegen, als ich ins Freie trat. Wind. Ausdruck von Freiheit und gleichzeitig aber auch Ausdruck von Zwang.
Ich betrat den kleinen Friedhof. Er lag gleich nebenan. Ich hatte noch nie auf einem Friedhof geweint, also tat ich es auch jetzt nicht. Ich habe überhaupt nie geweint, denn vergossene Tränen waren nur verschwendetes Wasser, das gebraucht wurde, um die Hölle, die in meinem tiefsten Innern brannte, einigermassen im Zaum zu halten. Diese wollte raus. Denn raus war meine Devise.
Das Friedhofstor warf Schatten. Gitterstäbe. Ich wusste, dass ich mich meinem Gefängnis wieder näherte. Doch es hatte nun keine Macht mehr über mich. Längst war es verschüttet, zerfallen und zerfressen. Höchstens eine Ruine würde noch zu finden sein.
Das Grab war verwildert. Dunkle Rosenranken schlängelten sich um den blauen Marmorstein, auf dem in silbernen Lettern ein bedeutungsloser Name eingraviert worden war. Seine Lesbarkeit hatte er längst eingebüsst. Doch ich wusste, was hier lag. Ja, ich wusste es. Mein Gefängnis.
Rote Linien. Blutrote Linien auf azurblauem Hintergrund. Blut auf Hoffnung. Rote Linien. Blutrote Linien auf weissem Hintergrund. Ein Ausgang ins Freie. Rosenranken. Dunkle Rosenranken auf blauem Marmor. Ich.