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Das Bonsaimädchen
Als der Nachbar aus dem Vierten an seinem Fenster vorbeiflog und dumpf zerbrechend auf dem Asphalt zerschmetterte, kam Bartholomäus-Karlmann sich plötzlich lächerlich vor und zog den Kopf wieder aus der Schlinge. Er setzte den Korken auf die halbvolle Weinflasche, drehte die Neunte leiser und setzte sich aufs Sofa.
Sein Puls kam schnell zur Ruhe und mit Schaudern erinnerte er sich des Versicherungsangestellten, der am Morgen seine Lebensversicherung auf sie umgeschrieben hatte. Die Idee hätte er auch bereits gehabt, hatte der kurz und bedeutsam gesagt. Glaubte er wirklich vor nicht einmal fünf Minuten, dass sie leiden würde, sobald sie das Geld ausgezahlt bekäme?
Geräuschvoll zog er den Korken und schenkte sich ein weiteres Glas ein. Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium. Nachdem die Polizei wusste, was er über die ehelichen Verhältnisse seines unglücklichen Nachbarn sagen konnte, beschloss er, der abendlichen Jam-Session im Venus de Milo doch beizuwohnen.
Das Saxophon geschultert, fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Über dem Tisch baumelte noch immer der Strick.
Um das Japanerviertel zu erreichen, hatte man den Straßenstrich zu überqueren, der zu dieser Jahreszeit nur wenig besucht wurde. Zwei Huren wandten sich frierend von ihm ab, die er jedoch ohnehin keines Blickes würdigte.
Das Schaufenster des Venus de Milo leuchtete blau in den rötlichen Abendhimmel. Die Tür klingelte beim Öffnen, worauf sich zwei getigerte Mädchen, von deren Hälsen Hundehalsbänder baumelten, kurz umdrehten.
Bartholomäus drängte sich durch die Menschen zum Hinterraum, in dem ein schwarzer Trompeter gerade über Masquelero solierte. Dabei schnappte er Fetzen eines Gesprächs zwischen einem angetrunken Russen mit Kinnbärtchen und einem blonden Hünen auf. Der Russe zog gerade mit der Überzeugung, die nur Trinkern inne ist die Parallele zwischen einem Gartengewächs und einem Mädchen.
Dieses Mädchen ähnele jenen japanischen Zierbäumchen, deren Namen dem Redner gerade entfallen seien. Bartholomäus wusste zwar, dass er Bonsaibäume meinte, hielt es aber nicht für angebracht sich einzumischen.
Als er den Hinterraum erreichte, hatten die Musiker gerade geendet. Als der Schlagzeuger ihn erblickte, hellte sich sein Blick und er schrie durch den spärlichen Applaus, er solle sofort auf die Bühne kommen. Bei der kurzen Begrüßung, merkte er, wie er langsam aus der Trance erwachte, in die ihn die nachmittäglichen Ereignisse versetzt hatten. Er legte den Tragriemen um den Hals und feuchtete das Mundstück an. Da auf einmal verstand er das vorige Gespräch.
Neben dem linken Lautsprecher stand ein winziges japanisches Mädchen, von derart feinem Wuchs, dass man Angst haben musste, sie ginge ein in dieser Umgebung. Diese Miniatur eines Menschen war so makellos, dass man an ihrer Existenz zweifeln musste, obgleich sie doch eindeutig anwesend war. Ihr schwarzes Haar war ansatzfrei zu einem Braun gehellt und auf das mit untrüglichem Stilbewusstsein ausgesuchte Kostümchen abgepasst. Ihr Makeup war dezent und fehlerfrei aufgetragen. Bartholomäus konnte seinen Blick nicht abwenden. Wie oft war es vorgekommen, dass er in einer Ausstellung ein Bild aus der Distanz für seinen Fotorealismus geschätzt hatte, bis er dann aus der Nähe enttäuscht die Pinselstriche gewahren musste. Kein Pinselstrich war an diesem Geschöpf. Sie war tatsächlich so klein.
Ihre Augäpfel leuchteten im Schwarzlicht, als die Musiker Oleo anstimmten. Behutsam blies er jeden Ton, um das kleine Mädchen nicht zu verletzen. Sie tanzte zu seinen Noten, als würde sie darauf getragen. Als sie ihn ansah, wich sein Blick nicht aus. Vorsichtig steigerte er sein Solo. Sie liess es geschehen und tanzte weiter. Als der Pianist seinen Teil begann, ergriff ein rhytmisches Stampfen die Audienz. Sie wollten tanzen, wollten schwitzen. Starr vor Angst fixierte Bartholomäus sein Miniaturmädchen, doch diese schwebte mühelos und würdevoll duldend durch die lärmende Masse. Niemand stieß sie an.
Als sie sich küssten wagte er es kaum sie zu berühren. Durch übermäßige Zärtlichkeit versuchte er seine Grobschlächtigkeit auszugleichen. Er wusste, dass Bonsaipflanzen einer besonderen Pflege bedürfen. Bei normaler Zimmertemperatur können sie nicht gedeihen. Ihr winziger Griff um seinen Hals liess ihn wohlig erschaudern, sodass er sie weich, aber bestimmt aus der Bar auf die Straße zog.
Im Hausflur massierten ihre Lippen seinen Hals, während er die Tür aufschloss. Ihr kleiner Körper schmiegte sich an seinen Unterleib. Urplötzlich beschlich ihn ein Gefühl der Lust, wie er es zuletzt in Kindstagen vor dem wohlgeordneten Lilienbeet des Nachbarn gehabt hatte. Ihr Kostümchen ächzte in allen Nähten als er sie an sich riss. Sie keuchte beim Versuch von seinen Küssen Luft zu holen. Aufs Sofa gepresst schälte er ihr die Kleider vom Leib, welche er achtlos hinter sich warf. Wirre Gedanken von seinem toten Nachbarn und seiner Exfreundin rasten ihm durch den Kopf, als er hart in sie stieß. Wie durch eine Wand hörte er ihre gedämpften Schreie unter ihm. Er riss den Strick von der Decke und legte ihn um ihren Hals. Nur ganz sanft zog er zu. Sie presste sich fester an ihn. Als sie kam, war es ihm als könnte er eine winzige Gänsehaut auf ihr ausmachen.
Erschöpft lag er unter ihr, die seine Brust streichelte, den Strick um den Hals. Er wollte ihr sagen, dass er sie gießen, hegen, pflegen und ihr einen teuren Topf kaufen werde, doch er war zu müde. Als er aufwachte, war sie fort. Auch der Strick war nirgends zu finden. Schon am nächsten Tag rief er den Versicherungsangestellten an, um einen Termin auszumachen.