Das Buch
DAS BUCH
„Hallo, Herbert.- Hallo, Miriam. Kommt rein.“ Dirk Bogner drückte Miriam einen Kuß auf die Wange und trat beiseite, um die Vandenbergs hereinzulassen.
Im Wohnzimmer des Appartements hatte sich bereits eine Anzahl von Gästen eingefunden, allesamt Freunde der Bogners. Monika, Dirks Frau, servierte Drinks, während Dirk in der Küche das Essen zubereitete. Dirk Bogner, freischaffender Schriftsteller und Autor dreier erfolgreicher Romane, feierte an diesem Dienstag, den 11. Oktober 1988, seinen fündunddreißigsten Geburtstag.
Er sah auf die Uhr. Es war zwanzig Minuten nach acht. Die Gäste nahmen rings um den Tisch Platz, während Bogner das Essen auftrug. In diesem Moment läutete es an der Wohnungstür.
Monika ging öffnen. Von draußen war eine tiefe, männliche Stimme zu hören. Einen Augenblick später kam Monika mit einem Mann herein, bei dessen Anblick sich alle umdrehten. Der Mann war gut einsfünfundneunzig groß und trug einen schwarzen Anzug, der an die Kleidung eines Pfarrers aus einem amerikanischen Western erinnerte. Bogner war er völlig unbekannt.
„Herzlichen Glückwunsch, Herr Bogner“ meinte der Fremde mit seiner sonoren Stimme. Er überreichte Dirk ein Päckchen, das in Geschenkpapier eingewickelt war. „Eine bescheidene Gabe zu Ihrem Ehrentag.“
Seine seltsame Kleidung und seine altertümliche Ausdrucksweise irritierten Bogner. Außerdem wußte er nicht, aus welchem Grund ihn ein Fremder zum Geburtstag beschenkte. Unsicher, ob seine Freunde sich einen Scherz mit ihm erlaubten, blickte er sich um. Nach bevor er dem Mann einen Platz anbieten konnte, grüßte der in die Runde und ging.
„Wer war der Mann?“ fragte Monika, als die Gäste gegangen waren. Bogner zuckte mit den Achseln. „Ich kenne ihn genauso wenig wie du. - Mir schien er nicht ganz richtig im Kopf zu sein.“
„Was hat er dir denn geschenkt?“ fragte Monika und betrachtete das Päckchen, das auf dem Telefontisch lag. Bogner griff nach dem Geschenk. „Am liebsten würde ich es ihm zurückgeben“ meinte er und zog an der Schnur, die um das Päckchen gebunden war. „Aber leider habe ich weder eine Ahnung, wie der Kerl heißt, noch, wo er wohnt.“
Das Geschenk des Unbekannten war ein Buch. „CHARLES GRAY“ las Bogner vor. „Eine Biographie. - Der Autor ist ein gewisser William Howell. - Nie gehört.“
Monika schlug das Buch auf, blätterte darin und lachte. „Dieser Charles Gray scheint ebenfalls Schriftsteller gewesen zu sein. Du hast also die Biographie eines Kollegen.“
Monika war Innenarchitektin und hatte am nächsten Morgen einen Termin bei einem Klienten. Bogner verbrachte den Vormittag im Verlag. Er hatte wenige Wochen zuvor ein neues Manuskript vorgelegt. Der Lektor, der den Roman bearbeitete, sprach alle Änderungen noch einmal mit ihm durch. Bogner machte sich einige Notizen und fuhr anschließend zurück nach Hause, mit seinen Gedanken völlig bei seinem Roman. An einer Ampel mußte er halten, setzte den rechten Fuß au£ die Bremse und kramte im Handschuhfach nach einem Kuli, um einen Gedanken zu notieren. Am Straßenrand, vor dem Eingang eines Cafes, stand der Fremde und sah ihn an. Automatisch nickte Bogner, um den Fremden zu grüßen, und ärgerte sich bereits im gleichen Moment darüber. Obendrein machte der Mann nicht die geringsten Anstalten, seinen Gruß zu erwidern. Während die Ampel auf Grün schaltete, drängte Bogner seinen Ärger zurück und fuhr an.
Zuhause angekommen bestand sein erster Impuls darin, das Geschenk des Mannes fortzuwerfen. Dann jedoch nahm er das in Halbleder eingebundene Buch, setzte sich in einen Sessel und begann zu lesen.
Grays Hauptwerk hatte in einer Folge von vier Romanen bestanden, von denen der letzte unvollendet geblieben war. Gray war im Jahre 1853 in South Carolina geboren worden. Über seine Eltern sagte das Buch wenig aus, es wurde lediglich vermerkt, daß Grays Vater Bankangestellter gewesen war. Im Alter von fünf Jahren wäre Gray an einer schweren Lungenentzündung fast gestorben.
An dieser Stelle stockte Bogner. Er blätterte zurück und las noch einmal Grays persönliche Daten. Das Geburtsjahr war das Jahr 1853, über den Geburtstag stand an dieser Stelle nichts. Bogner schlug die letzten Seiten auf und fand einen Anhang. Dort war der Geburtstag vermerkt: es war der 11. Oktober.
Er klappte das Buch zu und stützte einen Moment lang den Kopf in die Hand. Dann griff er nach dem Telefon und wählte eine Nummer. „Mama“ sagte er, nachdem seine Mutter sich gemeldet hatte, „ich muß dich mal was fragen. Ich war beim Arzt, und der hat sich nach meinen Kinderkrankheiten erkundigt. Ich hatte doch als Kind eine Lungenentzündung, eine sehr schwere sogar. Wie alt war ich damals? - Fünf Jahre?! Ja, ich weiß, ich wäre fast gestorben damals. - Nein, mach' dir keine Sorgen, es ist nichts Ernstes diesmal. - Mach's gut.“
Er legte auf und stellte einen Fuß auf die Tischkante. Sein eigener Vater war Bankangestellter gewesen, und er selbst hatte im Alter von fünf Jahren eine fast tödliche Lungenentzündung gehabt. Das alles stimmte mit Grays Lebensdaten überein, wäre für sich allein aber noch nicht bemerkenswert gewesen. Eine ganze Reihe von Kindern, deren Väter Bankangestellte sind, mögen irgendwann einmal eine Lungenentzündung bekommen. Das wirklich Erstaunliche war, daß auch sein Geburtstag, wenn man von dem Jahrhundert einmal absah, völlig mit dem von Gray übereinstimmte. Möglicherweise enthielt dieses Buch eine für ihn bestimmte Mitteilung.
Gebannt schlug er es wiederum auf, um seine Lektüre fortzusetzen, klappte es dann aber plötzlich zu und setzte sich auf. Verdammt, er war doch wirklich im Begriff, eine fixe Idee auszubrüten. Bloß, weil auf seiner Geburtstagsfeier ein dahergelaufener Mann aufgetaucht war, maß er diesem Geschenk eine besondere Bedeutung bei. Und weil jetzt zufälligerweise ein paar Daten dieses Gray mit den seinen übereinstimmten, sah er dieses Buch bereits als eine Art von Botschaft an. Vielleicht gab es zwar einen Charles Gray, dessen Lebenslauf dem seinen ähnelte, doch hatte es dafür mit dem Fremden keine besondere Bewandtnis, sondern der Mann hatte ihm lediglich einen Schabernack gespielt. Sein Geburtsdatum war zusammen mit ein paar anderen persönlichen Daten in jedem seiner Romane vermerkt. Der Fremde konnte sich das Buch gezielt ausgesucht haben, um ihn hochzunehmen. Sein ganzes Verhalten sprach dafür. Vielleicht war auch diese ganze Biographie eine Fälschung, eigens zu dem Zweck verfaßt und gedruckt, ihn zu verunsichern. Der auf dem Einband angegebene Verlag war Bogner völlig unbekannt.
Im Brockhaus fand er nichts über Charles Gray, auch nichts über William Howell. Dies stützte die These, daß das Werk eine Fälschung war. Die Machart des Buches allerdings deutete auf die zwanziger oder dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hin - außerdem waren seine Seiten vergilbt. Doch bevor er jetzt begann, vage Vermutungen anzustellen, brauchte er zunächst einmal Gewißheit, ob die Lebensgeschichte dieses Gray denn wirklich so auffällig mit seiner eigenen übereinstimmte. Wieder schlug er das Buch auf.
Bis zum frühen Abend hatte er es beinahe zu Hälfte durch. Die Übereinstimmmung war frappierend. Gray hatte, ebenso wie er, die Schule bereits mit siebzehn beendet und zunächst Jura studiert. Mit dreiundzwanzig hatte er angefangen zu schreiben und mit siebenundzwanzig seinen ersten Roman veröffentlicht. Sogar das Jahr der Eheschließung Grays stimmte mit seinem überein.
Als Monika nach Hause kam, fand sie ihren Mann angetrunken und in einem Zustand beinahe wütender Auflehnung gegen ein Verhängnis vor, das er sich offensichtlich nur einbildete. Als er ihr die ganze Geschichte erzählt hatte und alkoholisiert auf die Tischplatte starrte, nahm sie ihn bei den Schultern und zwang ihn, sie anzusehen.
„Dirk, das Ganze ist in der Tat unheimlich, das gebe ich zu. Ich selbst fühle mich nicht ganz wohl bei dieser Sache. Aber ich bin überzeugt, es gibt eine ganz einfache und einleuchtende Erklärung dafür. Wahrscheinlich hat sich jemand einen üblen Scherz erlaubt, vielleicht einer deiner Freunde. Das würde erklären, wie diese ganzen Angaben in das Buch gekommen sind. Deine Freunde kennen deine Lebensgeschichte doch ziemlich genau. Die ganze Art dieses Mannes bei der Feier, allein schon seine Kleidung, war doch einfach zu auffällig. So läuft doch heutzutage kein Mensch mehr herum.“
Bogner hörte ihr schweigend zu und zündete sich eine Zigarette an. „Das würde das Wissen des Autors - nehmen wir einmal an, man will mich hochnehmen - erklären. Aber weißt du, was es kostet, ein Buch zu drucken? Selbst wenn nur ein einziges Exemplar gedruckt wird, geht das in die Tausende. Wer gibt für einen Scherz soviel Geld aus? - Außerdem siehst du selbst, daß das Buch nicht so aussieht, als wäre es vor kurzem erst entstanden.“
„Und wenn dein Verlag dahinter steckt?!“ beharrte Monika. „Die haben doch die ganze Ausstattung.“ Bogner schüttelte den Kopf. „So etwas würden die sich nicht herausnehmen. - Nein, wie man es auch dreht und wendet, es findet sich keine wirklich einleuchtende Erklärung dafür. - Und das", setzte er nach einer Weile hinzu, "macht mir allmählich Angst.“
„Ich weiß, Dirk“ sagte Monika. „Mir geht es genauso. Aber ich weiß doch auch, daß es Dämonen und Flüche und weiß der Henker, was noch alles, nicht gibt. Eine solche Sache erweist sich gewöhnlich nach kurzer Zeit als völlig harmlos. Zerbrich dir jetzt nicht den Kopf und hör um Gottes willen auf, zu trinken. Geh ins Bett und schlaf drüber.“
Eine Stunde saß Bogner noch wortkarg und einsilbig herum, dann befolgte er Monikas Rat und legte sich hin. Bereits nach wenigen Augenblicken war er eingeschlafen.
Am nächsten Morgen war Monika bereits aus dem Haus, als er aufstand. Auf einem Zettel teilte sie ihm mit, daß sie erst am Nachmittag zurückkommen würde. Bogner selbst hatte den Tag über frei. Auf seinen Roman konnte er sich nicht konzentrieren, zu sehr kreisten seine Gedanken noch immer um die merkwürdige und beunruhigende Gabe, die ihn mehr und mehr aus dem Gleichgewicht brachte. Das Frühstück, das er in der Küche einnahm und das aus einigen Tassen Kaffee und mehreren Zigaretten bestand, zog er in die Länge. Er wußte, daß er sich danach unweigerlich ins Wohnzimmer setzen würde, wo ihn wieder das Buch erwartete. Er mußte an die Erzählung „Die schwarze Spinne“ von Jeremias Gotthelf denken. Fast schon so bedrohlich wie diese Bestie erschien ihm bereits das Geschenk des Fremden. Widerstrebend streckte er die Hand danach aus, als er ins Wohnzimmer ging. Andrerseits hätte ihn auch keine Macht davon abhalten können, nun auch noch den Rest des Buches zu lesen.
Am Mittag war er mit der Lektüre fertig. Die Biographie hätte seine eigene sein können, versetzte man einige Orte nach Deutschland und korrigierte man an den Jahreszahlen lediglich eine einzige Ziffer. Charles Gray war nur fünfunddreißig geworden. Bereits zwei Tage nach seinem Geburtstag war er am frühen Abend von einem Unbekannten erstochen worden.
Bis um sechs Uhr hatte er zwei Schachteln Zigaretten geraucht und bemühte sich verzweifelt, Anfälle von Angst und Panik zu unterdrücken. Sein Zustand veranlaßte Monika, einen Arzt zu rufen. Der gab Bogner eine Spritze und meinte beim Hinausgehen mit einem mißbilligenden Blick auf den überquellenden Aschenbecher: „Wenn Sie mit Ihrer Gesundheit ein derartiges Schindluder treiben, ist es ja kein Wunder, daß Sie irgendwann einmal durchdrehen.“
Bogner sah auf die Uhr. Es war zehn Minuten nach sieben und bereits dunkel. Er spürte schon die Wirkung der Spritze. Bevor er einschlief, ging er noch einmal ans Fenster, obwohl Monika ihn mit aller Macht daran hindern wollte.
Im Schein der Straßenlampe konnte er den Fremden entdecken, der an einer Hauswand gegenüber lehnte. Er trug einen bodenlangen, schwarzen Mantel und einen breitkrempigen Hut, den er tief in die Stirn gezogen hatte. Unter der Hutkrempe hervor beobachtete er Bogner, der am Fenster stand. Der Nieselregen, der vor einer Stunde eingesetzt hatte, ließ den Gehweg und den Hut im Widerschein der Lampe glänzen. Bogner kam es vor, als sähe der Mann ihm direkt in die Augen. Die Straße war bis auf den Fremden völlig leer, dann kamen von rechts zwei Männer, blieben bei dem Fremden stehen und sahen hinauf. Während das Beruhigungsmittel sein Hirn vernebelte, wurde Bogner klar, daß er in seiner Betäubung völlig wehrlos sein würde.