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Das Buch
Das Buch
„Warum hast du dich nicht mehr gemeldet? Mir hat die Sache wirklich etwas bedeutet und ich dachte du hättest es ähnlich empfunden.“
Ihre Stimme war geschwängert von Verzweiflung und Wut. Ich hätte ihr gerne eine Antwort gegeben, doch ich wusste keine.
Wir kannten uns nicht lange, aber sie muss sich wohl ehrlich in mich verliebt haben und ich mich für einen Moment auch in sie. Wie es wohl wäre, wenn wir fest zusammen wären hatten wir uns ausgemalt und sie fragte mich, ob ich bei ihr einziehen wolle. Ich weiß nicht die Ursache für meinen Rückzieher, ich weiß nur, dass ich diese Zweisamkeit nicht länger ertragen konnte.
Ich schwieg also und sah sie nur an. Wie ein wunderschönes Wesen aus einer anderen Welt stand sie da. So weit weg, in so weiter Ferne. Tränen sprangen jetzt aus ihren Augen, wie Tropfen aus Gletschereis auf das die Höhensonne scheint.
„Dann sag doch nichts, aber ich weis was mit dir los ist. Du driftest ab. Du lebst nur noch in deinem Kopf und sperrst die Realität aus. Merkst du denn nicht, dass du immer mehr zu deiner eigenen Romanfigur wirst. Warum hast du Angst vorm glücklich sein? Ganz klar, weil glückliche Charaktere nicht für packende Dramen zu gebrauchen sind. Warum fürchtest du Bindungen und Alltag? Weil eine Geschichte stets nur eine Momentaufnahme ist, eine eingefrorene Spitze in der sich alles zu einem kurzen Flash bündelt. Ach wie gerne würde ich dir helfen, wenn du nur auf mich hören würdest.“
„Lass mich einfach in Ruhe“, brachte ich hervor und bemerkte, dass sich meine Stimme etwas überschlug. Dann eilte ich, ohne mich umzudrehen, an ihr vorbei zurück in den Club.
„Leb wohl“ waren die letzten Worte, die ich von ihr hörte.
Ich beschloss mich gnadenlos zu betrinken. Ein paar Joints hatte ich schon geraucht, jetzt sollte mir der Alkohol den Rest geben. Mir wäre alles recht gewesen, was mich aus dieser miesen Stimmung befreit hätte. Ein paar Kumpels waren da und so folgte Runde auf Runde. Tequila, B-fiftytwo, Flatliner, Gin and Tonic und eine unglaubliche Menge an Bier waren in dieser Nacht Mittel zu gruppendynamischer Selbstzerstörung. Man konnte den Kater des nächsten Tages förmlich schnurren hören.
Irgendwann waren die Grenzen des Physischen erreicht und mein Kopf machte einfach zu. Meine Beine waren wie Gummi, also blieb mir nichts anderes übrig, als das Tanzen einzustellen und eine Wand zu suchen um mich im Stile James Deans, möglichst lässig wirkend anzulehnen. Ich schaute nicht mehr durch Augen, sondern durch lange schwarze Tunnel und fühlte mich dabei als sehe ich ein Theaterstück dessen Handlung ablief, ohne das ich in irgendeiner Weise hätte Einfluss darauf nehmen können.
Da war es plötzlich wieder! Das Meer. Das Wummern der Boxen und das Gackern der Leute entfernten sich langsam, flohen über die Weiten und ertranken schließlich in der wunderbaren Ruhe stiller Einsamkeit. Schon war das rauschen der Wellen zu vernehmen. Anfangs nur zu erahnen, gewann es zusehends an Kraft und Realität. Die stickige, tote, von etlichen Lungen verbrauchte Luft war wie weggeblasen. Allem Anschein nach von einer leichten, im Geschmack etwas salziger Brise aus südwestlicher Richtung.
Die Oberfläche so weit, eintönig und wüstenähnlich und darunter so viel Tiefe und Leben.
Ich weiß nicht mehr genau, wann ich den Ozean das erste Mal sah, doch muss ich noch sehr klein gewesen sein und konnte vielleicht gerade so auf meinen Beinchen stehen. Dieser erste Blick auf die feuchtverklärte blaugrüne Unendlichkeit jedoch legte das Fundament für alles was ich bin und jemals sein werde. Irgendwo in der tosenden Brandung, entsprang der Funke, welcher das Feuer meines Bewusstseins entfachte. Es kroch über alle Sinne in mich und legte die Grundstruktur meiner Synapsen auf ewig fest.
Ich habe dieses Bild, habe diesen Ort seither im Kopf und immer, wenn es mir schlecht geht ziehe ich die Vorhänge zu und kehre an diesen Anfang, der weit vor allen Joints, Alkohol, Frauen, Schulen und Lehrern liegt, zurück. Vielleicht hatte mein Vater gar nicht so Unrecht, wenn er aus Ärger über mich manchmal behauptete ich hätte nur Wasser im Kopf.
Ich stand dort, bis sie die Lichter anmachten und die Türsteher mich zum Gehen drängten. In der kühlen Nachtluft wurde ich ein wenig wacher und machte mich auf den Heimweg.
Ich fuhr über die Autobahnbrücke bei Weisenau und hatte mir das Visier einen Spalt weit geöffnet. Gerade so weit, dass die Nebel aus meinem Kopf entweichen konnten aber meine verquollenen Augen nicht vom Fahrtwind zu tränen begannen. Unter mir floss der Rhein, wenn man nach rechts schaute konnte man die Rabeninsel sehen. Der Scheinwerferblitz der Monster unterstützte die Morgendämmerung bei ihrem Kampf gegen die sterbende Nacht. Ich hatte knappe Hundert drauf und wusste nicht mehr, ob ich nun ein Leben auf der Überholspur lebte oder mich irgendwann in der Wildnis, weit ab von jeder Zivilisation, verlaufen hatte.
Zuhause angekommen stieg er die alte Holztreppe empor zu seinem Zimmer und knipste dort das Licht an. Die Wände waren Saharagelb gestrichen und der Boden bestand aus alten verwitterten Holzdielen, die unter dem Gewicht seiner Schritte des Öfteren knarrten. In einer Ecke stand seine Gitarre an einer Wand hing sein Surfbrett. Er fing an sich auszuziehen und warf die Sachen auf den Sessel. Jacke, Pullover, T-Shirt, da streifte sein Blick zufällig übers Bücherregal und ihm fiel auf, dass ein recht dickes Buch herausgefallen war und nun aufgeschlagen, mit dem Deckel nach oben auf dem Boden lag. „Wie kann so etwas passieren?“ fragte er sich auf dem Weg das Buch aufzuheben. Als er davor stand wurde ihm mulmig, denn es war definitiv keines seiner Bücher. Diesen Wälzer mit roter Schrift auf schwarzem Einband hatte er noch nie zuvor gesehen. Langsam, ganz langsam, wie in Trance bückte er sich und las. Den Titel nahm er gar nicht wahr, denn der Name des Autors ließ für einen Moment sein Herz erstarren.
Mit zittrigen Händen drehte er den Wälzer nun um und obwohl er am liebsten davongelaufen wäre begann er erneut zu lesen. Die Buchstaben zogen an im vorüber und kreisten ihn ein wie eine Schar Raben im Zwielicht. Sie wurden zu Stäben eines ewigen Käfigs, der sich zwischen zwei Pappdeckeln verbirgt.
„Da war es wieder das Meer. Das Wummern der Boxen und das Gackern der Leute entfernten sich langsam, flohen über die Weiten und ertranken schließlich in der wunderbaren Ruhe stiller Einsamkeit.“
So fühlte er oft und hatte keine Ahnung, dass er ein Gefangener in einer Welt beschränkter Zweidimensionalität war, aus der es nur einen Ausgang gab, welcher sich auf der letzten Seite befand......“