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Das Buch

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Das Buch

Das Buch

Werner stand seitlich neben dem Fenster seines Krankenzimmers und spähte vorsichtig hinaus. Er wollte nicht gesehen werden. Da trat seine Frau Elke unten aus der Eingangshalle. Zügig ging sie zu ihrem etwas weiter weg parkenden Auto. Er meinte, das Klappern ihrer Absätze hören zu können, bewunderte ihren eleganten, aufrechten Gang. Kurz bevor sie am Fahrzeug ankam, öffnete sie es mit der Fernbedienung und stieg schnell ein. Werner sah das Rücklicht aufblitzen, sie wendete den Wagen und für Sekundenbruchteile meinte er, einen Mann auf dem Beifahrersitz auszumachen. Schmerzlich verzog Werner das Gesicht und wandte sich vom Fenster ab. Ob sie ihn betrog? Um ihre Ehe stand es schon längere Zeit nicht zum Besten. Werner war als freier Journalist wenig erfolgreich bei einem bunten Hochglanzmagazin tätig, er hatte auch schon länger nichts mehr geschrieben. Das Geld verdiente seine Frau, sie war Oberärztin in einer renommierten Rheumaklinik und auf ihrem Fachgebiet eine absolute Kapazität. Manchmal wünschte sich Werner, an Rheuma zu erkranken, um wenigstens so die Aufmerksamkeit seiner Frau zu erlangen.
Aber der Grund für seinen Krankenhausaufenthalt war ein anderer. Er hatte einen Schwächeanfall erlitten, war zu Hause zusammengebrochen. Sie hatten ihn gründlich untersucht, aber nichts Bedrohliches feststellen können. Wie denn auch, mit seinen 42 Jahren war er doch ein Mann in den besten Jahren. Er fuhr sich nervös mit der Hand über das stoppelige Kinn, was ein kratzendes Geräusch ergab. Wenn da nicht diese Potenzprobleme wären… er konnte es Elke nicht verübeln, dass sie sich offenbar woanders holte, was er ihr nicht mehr geben konnte. Er schüttelte sich, wie ein nasser Hund, um diesen quälenden Gedanken loszuwerden. Ein leichter Kopfschmerz pochte an seine Schläfen.
Werner rief sich die Erinnerung an Elkes Besuch vor ein paar Minuten zurück. Sie war fröhlich, charmant aber auch irgendwie zurückhaltend ihm gegenüber. Der Duft ihres Parfums, der ihm so vertraut war, hing jetzt noch im Zimmer. Nachdem Elke sich von seiner Rekonvaleszenz überzeugt und ihn davon unterrichtet hatte, dass sie die nächsten vierzehn Tage zu einer Fortbildung nach Kopenhagen flöge, hatte sie ihm zum Abschied einen flüchtigen Kuss auf Wange gegeben, und gescherzt:„Du bist so stachelig, wie ein Igel. Rasiere dich doch mal wieder.“

Nach der Rasur fühlte er sich schon bedeutend besser. Jemand klopfte an seine Zimmertür, wartete aber das „Herein“ gar nicht ab, sondern polterte gleichzeitig mit dem Klopfen ins Zimmer. Es war sein behandelnder Arzt, Doktor Stein. „Herr Feldmann, ich habe gute Neuigkeiten für sie“, begann er und setzte sich mit einer Pobacke auf den Tisch neben das noch unabgeräumte Mittagsgeschirr. „Das Schädel-CT ergab keinen Befund, die Blutwerte sind alle im Normbereich, im EKG sind keine Auffälligkeiten und der Blutdruck ist auch wieder brav. Sie können morgen nach Hause. Alles Gute.“ Und schon war Doktor Stein wieder draußen. Werner hatte nicht mal die Chance, etwas zu erwidern.
Kopfschüttelnd machte er sich daran, seine Sachen zusammenzupacken. Ob Elke auch so mit ihren Patienten umging? Bestimmt nicht.

Am nächsten Tag ließ er sich ein Taxi rufen, mit dem er nach Hause fuhr. Elke war nicht da, er würde also die nächste Zeit ganz allein zu Hause sein. Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt gekommen, da er sein großes, immer wieder aufgeschobenes Projekt in Angriff nehmen sollte. Er hatte seit Jahren Pläne für ein Buch über Rhetorik, welches er schreiben wollte. Der Titel stand auch lange schon vor seinem geistigen Auge:
„Die Magie der Worte, Manipulation durch Sprache“
Er wollte damit Menschen helfen, schlagfertig zu werden, besser reden, diskutieren und verhandeln zu können. Lange Zeit schon trug er Gedanken zu diesem Thema zusammen, die sich auf vielen losen Zetteln in einem Kasten auf dem Kleiderschrank befanden. Jetzt hätte er doch die Zeit und die Gelegenheit, alles mal durchzusehen, zu ordnen und das Projekt endlich anzufangen.
In seine Träumereien versunken, hatte er gar nicht bemerkt, dass er schon am Ziel der Fahrt angekommen war. Der Taxifahrer hatte angehalten und knurrte brummig:„Macht dann fuffzehn Euronen, bitte sehr.“
Werner schreckte aus seinen Gedanken hoch, wühlte in der Brusttasche seines Mantels nach seiner Brieftasche, entnahm ihr einen Zwanzigeuroschein, stopfte ihn dem Taxifahrer mit dem Hinweis: “Stimmt so“ in die Hand und schälte sich umständlich aus dem ausgesessenen Beifahrersitz. Der Fahrer hatte inzwischen Werners Tasche aus dem Kofferraum geholt, tippte sich zum Abschied an den Kopf und sagte, angesichts des guten Trinkgeldes um einiges freundlicher: „Schönen Tach noch “ und fuhr davon.

Werner legte den Kopf in den Nacken und sah am Haus hoch, in dem er im dritten Stockwerk wohnte. „Willkommen daheim, Werner“, sagte er zu sich selbst, ergriff seine Tasche und betrat das Treppenhaus. Da es sich bei dem Gebäude um einen Altbau handelte, in dem es keinen Fahrstuhl gab, musste Werner die 42 Stufen bis zur Wohnung zu Fuß hochsteigen. Schon nach vierzehn Stufen machte er im ersten Stock schlapp. Verdammt, der Krankenhausaufenthalt hatte ihn aller Kondition beraubt, er fühlte sich wie ein alter Mann. Schwer atmend wartete er, bis er etwas zur Ruhe kam, um Rest in Angriff zu nehmen. Im dritten Stock verscheuchte er die Sterne, die ihm vor den Augen herumtanzten und wartete, bis sein Herz wieder etwas ruhiger schlug, um dann mit zitternden Händen seinen Schlüssel aus der Hosentasche zu klauben und die Wohnungstür aufzuschließen. Er betrat die Wohnung und stellte angewidert fest, dass sie schlecht roch. Irgendwie nach altem Schweiß und abgestandener Luft. Er fühlte wieder diesen unangenehmen, dumpfen Kopfschmerz.
Ob Elke während seines Krankenhausaufenthaltes überhaupt nicht zu Hause gewohnt hatte, sondern bei dem Anderen, den er in ihrem Auto gesehen hatte? Er riss hastig alle Fenster auf, um gründlich durchzulüften. Dann klingelte es an der Haustür. Wer konnte das sein? Überrascht öffnete Werner und sah sich einem jungen Mann mit langen, hinten zusammengebundenen Haaren gegenüber, der ein Päckchen in der Hand hielt. „Sind sie Herr Feldmann?“ fragte er Werner. Dieser nickte. „Ja, der bin ich. Was möchten sie von mir?“ „Ich habe von Frau Feldmann den Auftrag, ihnen in der nächsten Zeit Essen auf Rädern zu bringen, damit sie sich von ihrem Krankenhausaufenthalt erholen können. Hier ist das Mittagessen und das Abendbrot für heute, guten Appetit.“ Der junge Mann überreichte Werner den Styroporkarton mit der Aufschrift: „Immer frisch auf Ihren Tisch“, drehte sich um und sprang die Treppen hinunter, immer drei Stufen auf einmal nehmend.

Werner schloss die Tür und schüttelte den Kopf. Elke kam aber auch auf Ideen. Essen auf Rädern, wie bei einem alten Tattergreis. Ob sie ihn so sah? Oder war es nur Fürsorge, die mit ihrem Beruf zu tun hatte. Oder war es Zuneigung und Liebe? Er wusste es nicht. Da er keinen Hunger hatte, ließ er das Essen einfach in der Küche stehen und ging ins Wohnzimmer, um den Fernseher einzuschalten. Lustlos zappte er sich durch eine Reihe von Sendern, fand nichts, was ihn fesselte und beschloss daher, doch mal nachzusehen, was in dem Essenpäckchen war.
Er ging in die Küche und es traf ihn jäh, wie ein Blitz:
Das Essenspäckchen war weg!
Erschrocken stand er in der Tür, riss die Augen auf und sein Herz schien einen Moment auszusetzen. Mit wackeligen Knien ließ er sich auf einen der Küchenstühle fallen, und starrte auf den Tisch.
Unruhe packte ihn. Wer war in der Wohnung gewesen, während er ferngesehen hatte? Ob Elke zurückgekommen war?
Es gab nur zwei Schlüssel für die Wohnung, einen hatte er selbst und einen hatte Elke.
Eilig sprang er auf und lief durch alle Zimmer, aber von Elke keine Spur. Verwirrt ließ er sich im Wohnzimmer auf das Sofa fallen, und überlegte, was er tun solle. Die Polizei anrufen? „Guten Tag, mein Name ist Werner Feldmann, bitte kommen sie sofort zu mir, ein Unbekannter ist in meine Wohnung eingebrochen und hat mir mein Essen geklaut …“ die würden ihn doch für komplett verrückt erklären. Vielleicht hatte Elke dem jungen Mann ihren Schlüssel gegeben, und er war wieder da gewesen, um das Geschirr abzuholen. Vermutlich war Werner vorhin kurz eingenickt, und hatte die Türklingel nicht gehört. Ja, das schien ihm die plausibelste Erklärung zu sein. Morgen würde er den Kerl zur Rede stellen. Der konnte doch hier nicht einfach so ein- und ausgehen, wie er wollte, das war unerhört.
Einigermaßen beruhigt beschloss Werner, sich schlafen zu legen. Der Tag hatte ihn mehr angestrengt, als er sich selbst gegenüber zugeben wollte, der Krankenhausaufenthalt steckte ihm noch deutlich in den Knochen.

Am nächsten Morgen erwachte Werner durch ein paar vorwitzige Sonnenstrahlen, die seine Nase kitzelten. Ausgeruht vom Schlaf fühlte er sich bedeutend besser, und er beschloss, heute sein Vorhaben, sein Buch zu beginnen, in die Tat umzusetzen. Fröhlich vor sich hinpfeifend ging er ins Bad, danach kochte er sich einen starken Kaffee und dann wollte er den Kasten mit den Unterlagen vom Kleiderschrank holen. Er holte sich die kleine Trittleiter aus der Abstellkammer und stellte sie vor den Kleiderschrank. Schnell stieg er hinauf und griff mit der rechten Hand an die Stelle, wo er den Kasten aufbewahrte. Seine Hand griff ins Leere. Verwundert zog Werner die Hand zurück. Hatte Elke ihn weggeräumt? Dachte sie, er würde den ganzen Krempel sowieso nicht mehr brauchen und hat alles entsorgt? Nein, das würde dann doch entschieden zu weit gehen. Sie wusste, wie wichtig ihm sein Buch war. Das konnte sie doch nicht einfach tun, ohne es vorher mit ihm abzusprechen. Wenn Elke nachher anrief, würde er sie zur Rede stellen.
Enttäuscht räumte er die Trittleiter wieder weg und ging in sein Arbeitszimmer. Einer leisen Hoffnung folgend, durchsuchte er es gründlich, aber der Kasten war auch hier nirgends zu finden.

Werner überlegte, was er nun machen sollte, da fiel ihm Waldemar ein. Waldemar war jahrelang sein bester Freund gewesen, aber in letzter Zeit hatten sie sich irgendwie auseinander gelebt. Werner überlegte, ob er ihn anrufen sollte, obwohl er immer noch enttäuscht darüber war, dass Waldemar ihn nicht ein einziges Mal im Krankenhaus besucht hatte. Schließlich griff er aber doch nach dem Telefon und wählte Waldemars Nummer. Es ertönte eine Ansage, dass diese Nummer nicht vergeben sei. Enttäuscht legte er wieder auf. Waldemar hatte sich also eine neue Rufnummer zugelegt und es nicht für nötig befunden, ihm diese mitzuteilen. Missmutig trat er ans Fenster und sah hinaus. Draußen war herrlichstes Sommerwetter, die Menschen liefen leicht bekleidet mit fröhlichen Gesichtern, vom Sonnenschein beflügelt, durch die Straße.
Er wartete auf den jungen Mann, der ihm das Essen bringen sollte, vielleicht konnte er ihn ja kommen sehen. Nachdem er eine Weile am Fenster verharrt hatte, ging es ins Badezimmer, weil seine Blase sich bemerkbar machte. Als er das Bad verließ, und auf dem Weg ins Wohnzimmer an der offenen Küchentür vorbei ging, traf es ihn wie ein Schlag mitten ins Gesicht:
Das Essenpäckchen stand wieder auf dem Küchentisch!
Er stürzte sich darauf, riss es auf und es enthielt tatsächlich eine Porzellanschüssel mit Deckel. Beim Abheben des Deckels verbrannte er sich fast die Finger, so heiß war dieser. Wie konnte das angehen? Was ging hier vor? In der kurzen Zeit, die Werner im Badezimmer verbracht hatte, musste der Essensbote hier gewesen sein und sich wieder mit Elkes Schlüssel eigenmächtig Einlass verschafft haben. Werner musste da unbedingt anrufen und sich diese Vorgehensweise energisch verbitten. Ansonsten würde er morgen die Schlösser austauschen.

Der Appetit war ihm jedenfalls gründlich vergangen, und er beschloss, sich die Nachrichten im Fernsehen anzuschauen. Es wurde vom schweren Unwetter berichtet, das seit heute Morgen über der Stadt gewütet hatte. Bäume waren entwurzelt worden und hatten Autos beschädigt, der anhaltende Regen hatte viele Keller überflutet, die Feuerwehr war offensichtlich im Dauereinsatz. Erstaunt sah Werner die Bilder im Fernseher, er selbst hatte von dem Unwetter nicht das Geringste mitbekommen. Ein ziemlich unangenehmer Kopfschmerz nahm von Werner Besitz, und er ging ins Badezimmer, um sich ein Aspirin zu holen. Er öffnete den kleinen, neben dem Spiegel angebrachten Medikamentenschrank und musste zu seiner großen Verwunderung feststellen, dass dieser leer war. Verwirrt schloss er den Schrank wieder. Warum hatte Elke alle Medikamente entsorgt? Kopfschüttelnd verließ er das Badezimmer und beschloss, eine Apotheke aufzusuchen um sich Schmerztabletten zu kaufen.
Er zog seine Hausschuhe aus und wollte sich gerade die Straßenschuhe anziehen, da ertönte die Türglocke. Auf Strumpfsocken ging Werner zur Haustür um durch den Spion zu sehen. Draußen stand eine ihm unbekannte, blonde Frau mittleren Alters, sie hielt eine Aktenmappe im Arm. „Die will mir bestimmt ein Zeitschriften-Abo andrehen, oder eine Versicherung aufschwatzen“, dachte Werner, und er beschloss, einfach so zu tun, als sei er nicht zu Hause. Leise schlich er ins Wohnzimmer. Es klingelte ein zweites und dann noch ein drittes Mal, und schließlich hörte er das Geräusch klappernder Absätze im Treppenhaus. Werner stand am Wohnzimmerfenster und sah hinaus, bis er die Frau unten aus der Tür treten sah. Sie blickte auf ihre Armbanduhr, sah sich noch einmal suchend um und ging dann eilig davon. Werner ging wieder zu seiner Wohnungstür und sah einen Zettel davor auf dem Teppich liegen. Er hob ihn auf und las:

Hallo Herr Feldmann,
leider habe ich Sie heute zum verabredeten Termin nicht angetroffen, bitte melden Sie sich bei mir zwecks einer neuen Terminabsprache.
Mit freundlichem Gruß
Sabine Keller

Werner ließ den Zettel sinken. Sabine Keller, der Name sagte ihm absolut nichts. Diese Frau Keller wollte mit ihm verabredet gewesen sein? Da konnte es sich nur um ein Missverständnis handeln, vermutlich hatte sich Frau Keller in der Hausnummer geirrt. Er zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Mülleimer. Danach zog er sich Schuhe und Mantel an und verließ seine Wohnung, um zur Apotheke zu gehen. Im Treppenhaus roch es heute seltsam, irgendwie nach altem Mann und Kohlsuppe. Als er unten angekommen war und aus der Haustür auf die Straße trat, atmete er gierig die frische, klare Luft ein. Er ging einen kleinen Umweg zur Apotheke, um noch etwas mehr frische Luft in seine Lungen strömen zu lassen, und dabei bemerkte er, wie der Kopfschmerz immer weniger wurde. „Eigentlich kann ich mir die Geldausgabe für Tabletten auch sparen“, dachte Werner gerade, als er plötzlich seine Frau Elke sah.
Sie saß in einem Cafe, an dem er gerade vorbeiging, an einem Tisch und sie war nicht alleine. Neben ihr hockte ein gutaussehender Mann, und die beiden waren in eine scheinbar sehr angeregte Unterhaltung vertieft. Werner ballte seine Hände zu Fäusten und Tränen des Zorns und der Enttäuschung traten ihm in die Augen. „Also doch“, dachte er. Werner drehte sich um und lief zurück nach Hause. Durch seinen Kopf geisterten die schlimmsten Gedanken, hämmerten gegen seine Schläfen und brachten die Kopfschmerzen mit Macht wieder zurück. Keuchend und nach Luft ringend schloss er seine Wohnungstür auf und warf sie mit einem lauten Krachen hinter sich zu. Seine Schuhe schleuderte er von den Füßen einfach unter die Garderobe und seinen Mantel ließ er achtlos von den Schultern auf den Boden gleiten.
Er lief ins Schlafzimmer und öffnete Elkes Seite des Kleiderschranks. Er war leer. Elkes Wäsche und Kleidung waren nicht mehr da. Sie hatte alles ausgeräumt.
Werner lief ins Badezimmer, hier fehlte Elkes Zahnbürste, ihre ganzen Waschutensilien. Seine Zahnbürste stand ganz alleine da.
Wann hatte sie ihre Sachen gepackt und abgeholt, wollte sie sich jetzt klammheimlich einfach so aus ihrer Ehe davonschleichen?
Werner ließ sich aufs Bett sinken, schlug die Hände vors Gesicht und weinte hemmungslos. Er weinte, wie er es ewig nicht mehr getan hatte, alle zurückgehaltenen Tränen eines Mannes, der es sich normalerweise nicht erlaubte, derartigen Gefühlsregungen nachzukommen. Nach einer schier endlos langen Zeit, kam er allmählich zur Ruhe.
Draußen war es inzwischen dunkel geworden und Werner schlurfte, noch von vereinzelten Schluchzern geschüttelt, ins Wohnzimmer. Es setzte sich aufs Sofa, griff nach einem Taschentuch und putzte sich umständlich die Nase. Dann erregte ein auf dem Wohnzimmertisch liegendes Buch seine Aufmerksamkeit. Er beugte sich vor, um es vom Tisch zu nehmen, und sein Blick fiel auf den Titel:

Die Magie der Worte
Manipulation durch Sprache

Fassungslos ließ er das Buch fallen, als hätte er sich die Finger daran verbrannt. Und dann wurde alles um ihn herum schwarz.

Werner kam zu sich. Er öffnete die Augen und sah direkt in Elkes sorgenvolles Gesicht. Man sah ihren Augen an, dass sie geweint hatte, und da war ein harter Zug um ihren Mund, den er vorher nie bemerkte. Sie strich ihm zärtlich eine Haarsträhne aus der Stirn und sagt leise:„Da bist du ja wieder.“
„Was ist passiert, Elke?“ fragte Werner mit belegter Stimme und räusperte sich, „wo bin ich?“
„Andrea, mein Name ist Andrea. Alles ist gut, Papa. Du bist jetzt in einem Pflegeheim. Mama hätte es auch so gewollt, du schaffst es alleine einfach nicht mehr.“

 

Salü barkai,

ich wollte eigentlich nur schnell hier etwas nachschauen und bin dann doch bei Deiner Geschichte hängengeblieben.
Zum Inhalt: Der hat mich ganz schön durcheinander gebracht. So Demenz-, Alzheimerthemen haben es einfach in sich und da liest ja auch immer ein Stück Angst mit. Hier hat mich wirklich das Grauen gepackt und ich habe trotzdem mit Spannung gelesen. Dafür meine Anerkennung. Du bringst die abgründige Realität, die schwankende Grenze gut rüber.
Zuerst dachte ich, wie kann man so einen Menschen aus dem Spital entlassen, aber dann wirds mir schon klar, da purzeln die Erinnerungen durcheinander ... Und der Schluss ist so grausam wie die Krankheit:

Mama hätte es auch so gewollt,

Es hat noch ein paar Schnitzer drin, die suche ich Dir gerne morgen raus. Ich muss erstmal Abstand nehmen.

Nein, nicht gerne gelesen, aber mein Lob hast Du!

Lieben Gruss,
Gisanne

 
Zuletzt bearbeitet:

Danke für deine Worte und für dein Lob. Dass du die Schnitzer raussuchen möchtest, freut mich riesig!
Ich habe diese Geschichte auch mit einem flauen Gefühl geschrieben, mein Opa war schwer an Alzheimer erkrankt und die Angst, dass es mich auch eines Tages erwischen kann, ist groß.

 

Salü barkei,

Guten Morgen und hier nun die Korrekturen:

hing jetzt noch in Fetzen im Zimmer. > Duft in Fetzen? … hing jetzt noch im Zimmer … genügt doch.

Langezeit schon trug er Gedanken zu diesem Thema > Lange Zeit schon

“ Macht dann fuffzehn Euronen, bittesehr.“ > Anführungszeichen! Da geh gesamthaft nochmal drüber, die sollten einheitlich sein. Vorne Leerschlag weg. Und bittesehr auseinander oder 'bittsehr', 'bittschön'?

“Schönen Tach noch “ > "Schönen Tach noch", > Leerschlag und Komma

der keinen Fahrstuhl besaß, musste Werner musste die 42 Stufen bis zur Wohnung zu Fuß > ein musste zu viel. Der ganze Satz ist etwas umständlich.
Vorschlag: … betrat das Treppenhaus. Da es im Altbau keinen Fahrstuhl gab, musste Werner die 42 Stufen …

Schon nach den ersten vierzehn Stufen machte er im ersten Stock schlapp. > Doppelmoppel 'ersten'
Vorschlag: Schon nach den ersten vierzehn Stufen machte er schlapp.

Schwer atmend wartete er, bist er etwas > wartete er, bis er

die ihm um die Augen herumtanzten > um? Die tanzen doch vor?

während er Ferngesehen hatte? > ferngesehen

von Elke keine Spur. Verwirrt ließe er sich > ließ er

Einer leisen Hoffnung folgend, durchsuchte es gründlich, > ein 'er' fehlt

Enttäuscht legte er wieder auf. Waldemar hatte sich also eine neue Rufnummer zugelegt und es nicht für nötig befunden, ihm diese mitzuteilen. Enttäuscht ging er ans Fenster > Doppelmoppel

fröhlichen Gesichtern, durch die Sonne beflügelt, durch die Straße. > Doppelmoppel!

der ihm das Essen bringen wollte, > wollte? oder sollte?

Wie konnte das Angehen? > angehen

Erzog seine Hausschuhe aus > Er zog seine

ein Zeitschriften-Abo andrehen, oder eine Versicherung aufschwatzen,“ dachte > aufschwatzen“,

in seine Lungen strömen zu lassen, und dabei bemerkte er, > lassen und dabei > Komma weg

Sie saß in einem Cafe, an dem er gerade vorbeiging, an einem Tisch und sie war nicht alleine. Neben ihr saß ein > saß … Doppelmoppel

Er war leer. Elkes gesamte Wäsche und Kleidung fehlte. > das 'gesamte' kann weg. Ist ja klar, wenn der Schrank leer ist.

ewig nicht geweint hatte, alle ungeweinten Tränen eines Mannes, der es sich normalerweise nicht erlaubte, zu weinen. > Huch, dreimal weinen …

dass sie geweint hatte, und da war ein harter Zug um ihren Mund, den er vorher nie bemerkt hatte. > Hatte-Doppelmoppel

und sagt leise:“ Da bist du ja wieder.“ > : "Da bist du ja wieder." Leerschläge …

So, vielleicht hab ich noch was übersehen und mit Kommas bin ich mir nie so sicher. Viel Spass beim überarbeiten und nochmal lieben Gruss,

Gisanne

 

Hallo Gisane,
danke, du hast mir sehr geholfen, ich habe alle deine Vorschläge aufgegriffen und umgesetzt. Toll, dass du dir diese Mühe gemacht hast!

 

Hallo barkai,

kennst Du die wundervolle Seite von Phillip Toledano für seinen Vater? An die habe ich mich stellenweise beim Lesen erinnert gefühlt. Er hat seinem Vater zum Beispiel erzählt, die Ehefrau sei in Paris wenn der Vater nach ihr gefragt hat.

Gisanne hat ja schon eine Menge herausgesucht, von mir nur noch kurz das:

Verwundert sah Werner die Bilder im Fernseher, er selbst hatte von dem Unwetter nicht das Geringste mitbekommen. Ein ziemlich unangenehmer Kopfschmerz nahm von Werner Besitz, und er ging ins Badezimmer, um sich ein Aspirin zu holen. Er öffnete den kleinen, neben dem Spiegel angebrachten Medikamentenschrank und musste zu seiner großen Verwunderung feststellen, dass dieser leer war. Verwundert schloss er den Schrank wieder.

Das war mir ein wenig zuviel des Guten. Da kann man bestimmt ein "verwundert" streichen ohne dass es den Text stört.


Man liest Deine Geschichte mit einer gewissen Angst mit- ich jedenfalls. Da wird man wieder daran erinnert, wie es einem ergehen kann. Gute Geschichte, beinahe ein wenig beängstigend, wie bereits gesagt.

Liebe Grüße,
gori

 

Hallo Gori, die Seite von Phillip Toledano für seinen Vater kenne ich leider (noch) nicht. Das werde ich ändern.
Danke fürs Lesen und deine Kritik dazu. Du hast Recht, das ist zu viel Verwunderung, habe ich beim Schreiben und auch beim Korrekturlesen gar nicht bemerkt. Ich werde es ändern. Eine gute Nacht wünsche ich.

 

Hallo Barkai,

Da ging es mir ähnlich wie Gisanne. Ich wollte schon schlafen gehen, aber Deine Geschichte hat mich mitgerissen. Sie liest sich sehr leicht und man kann die Verwirrung gut nachvollziehen.

Ein paar Kleinigkeiten habe ich noch gefunden:

sah am Haus hoch, in dem er im dritten Stockwerk wohnte
Das klingt komisch, würde eher ich umformulieren, z. B. "sah am Haus hoch zu seiner Wohnung im dritten Stockwerk.". Vielleicht könntest Du das mit dem dritten Stockwerk aber auch streichen. Tut nicht viel zur Geschichte

um den Rest in Angriff

fragte er Werner. Dieser nickte
"Er nickte" oder "Fragte er. Werner nickte." - "Dieser" klingt für mich nach jemandem, der in der Geschichte gerade erst aufkreuzt oder unwichtig ist.

Was möchten sie von mir?
Schon wieder fällt mir als Erklärung nichts besseres ein, als dass das komisch klingt. Kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass das jemand sagt.
"Was kann ich für Sie tun?", "Was wollen Sie?", "Was wollen Sie von mir?", "Ja, bitte?" ...

was in dem Essenspäckchen war

Wie konnte das angehen?
auch komisch - "geschehen", "passieren"

Hoffe, obiges ist Dir nützlich.

Fand diese traurige Geschichte sehr gut ausgeführt.

Liebe Grüße

Elisabeth

 

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