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Das Charlotten Phasenmodell
Das Treiben war wie an jedem anderen Wochentag auch: Schnell und in alle Richtungen. Herr Mayer war unter ihnen und wie jeden Abend suchte er verzweifelt nach einem Lächeln oder einem wahren Blick. Es war für ihn nicht schwer sich einfach mitziehen zu lassen. Oft erschrak er und zuckte als er bemerkte das er Minuten nichts gedacht oder gefühlt hatte. Jetzt fühlte er plötzlich Hunger und dachte an Pizza mit Meeresfrüchten. Kurz blickte er sich um, er kannte die Gegend, es hatte ihn schon oft hierher getrieben und wenn er sich recht erinnerte war gleich um die nächste Ecke ein kleiner Italiener. Porto Fino. Kleine Preise, kleine Portionen und ausgesprochen unfreundliche Bedienung. Als Herr Mayer das Restaurant betrat schossen sofort einige Blicke durch den Raum. Keine bösen Blicke aber auch nicht freundlich. Er nahm Platz an einem kleinen Tisch der auffälig abseits von den anderen Gästen stand, direkt neben den Toiletten. Eine kleine sehr dicke Italienerin kam bald auf ihn zu, knallte ihm die Karte auf den Tisch und fragte: „Was trinken?“ „Eine große Spezi, bitte!“ Die Italienerin nickte ihm zu während sie eigentlich schon gar nicht mehr da war. Herr Mayer betrachtete die Bilder an den Wänden. Eines zeigte Rudi Völler wie er einen kleinen Italiener, der ebenfalls einen Fokuhila trug, den Arm umgelegt hatte. Das Bild musste aus den ganz frühen Neunzigern sein oder Ende der Achtziger, dachte sich Herr Mayer und wahrscheinlich war der kleine Italiener in Rudis Arm der Pächter des Porto Finos. Es war ihm auch egal. Die restlichen Bilder zeigten alle die abgedroschenen italienischen Sehenswürdigkeiten. Den schiefen Turm, den Vesuv .... Herr Mayer überlegte welche Bilder er aufhängen würde, wenn er in Italien ein kleines deutsches Restaurant eröffnen würde. Er kam nur auf den Kölner Dom. Er war noch nie in Köln, dachte er und bedankte sich für die Spezi. „Ja!“ sagte die kleine dicke Italinerin was wohl soviel wie „Bitteschön!“ bedeuten sollte. Er nahm einen kräftigen Schluck und hatte das Gefühl es hätten sich ein paar zusammengeklebte Organe wieder gelöst. Es ging ihm gut. Die schlimmste Zeit war das warten. Einfach so rumsitzen, vor den Toiletten mit nur einer Spezi als Gesellschaft. Er nahm erneut einen kräftigen Schluck und noch einen und wieder. Was sollte er auch anderes tun? Im Radio lief gerade Jenseits von Eden von Nino de Angelo. Herr Mayer war wirklich kein sensibler Typ aber was Musik anging so verstand er keinen Spaß. Das hatte er wohl von seinem Vater geerbt und er dachte an die Geschichten, die ihm seine Mutter erzählt hatte. Sein Vater brachte keinen Funken Toleranz auf wenn es um zwei bestimmte Musiker ging: Reinhard Mey und Al Jaerrau. Das ging sogar soweit, hatte seine Mutter erzählt, das er auf Partys die Plattensammlungen durchforstete und sämtliche Platten dieser beiden „Musiker“ auf den Boden schmiss und sie zertratt. Das hätte nicht zur Einsamkeit geführt, sagte sein Vater, er habe sich so lediglich die falschen Leute vom Hals geschafft. Herr Mayer grinste kurz und wartete. Warten war das schlimmste. Eine Gruppe Schülerinnen oder Studentinnen, da war sich Herr Mayer nicht sicher, betratt das Lokal. Bitte nicht mir gegenüber, flehte Herr Mayer in sich hinein. Nicht mir gegenüber. Bald hatte er vier junge Frauen am Nachbartisch. Zwei davon mit dem Rücken zu ihm, zwei frontal Auge in Auge. Sie alle trugen Ponis und Trainingsjacken. Wenn er eins gelernt hatte, dann war es, sich von jungen Frauen mit Ponys und Trainingsjacken fern zu halten. Das waren die degeneriertesten Dinger die es gab. „Hab ich auf Fast Forward gesehen!“ führte die eine ein Gespräch weiter, das wohl schon vor dem Restaurant begonnen hatte. „Auf Fast Forward gesehen!“ äffte Herr Mayer gedanklich nach und fragte sich wie die das immer wieder schafften jedes Klischee zu erfüllen. Nicht nur das die alle aussahen wie Charlotte Roche sie legten auch die selbe beschissene Attitüde an den Tag. Irgendwas so zwischen Girlietum, Punkrock und Grundschullehramtstudentin. Herr Mayer begann gedanklich die Entwicklungsstufen einer der vier für sich nachzuvollziehn. Es war die rechts aussen ihm frontal gegenüber. Unter ihrer Trainingsjacke trug sie ein schwarz weiss geringeltes Top. Was auch sonst. Schwarz gefärbte Haare, wie gesagt mit Poni und Pferdeschwanz, schmales blasses Gesicht und schönen vollen Lippen. Überhaupt war sie sehr schön dachte Herr Mayer und begann mit seinem „wie werde ich ein Charlotte Roche Double Entwicklungsphasenmodell“. Phase1: Kindheit mit vielen kleinen blöden Tieren mit noch viel blöderen kleinen Geschichtchen. „Mein Wellensittich Pumuckel hat immer meiner Tante auf den Kopf geschissen wenn sie zu Besuch war. Das hat der wirklich nur bei der gemacht!“ Irgendwie so was. Obwohl das nur ein einziges mal passiert ist. Phase 2: Jugend mit tausenden von Blümchenhaarspängelchen, erste Cd von Bob Marley, Armeerucksäcken mit edingaufgemalten Anarchiezeichen, angestickten Tigerentenbutton und die Haare für mindestens 3 Monaten als grüne Dreadlocks getragen. Da war Mutti aber sauer. Dann mit kleinen Skaterjungs im Stadtpark rumgeknutscht. Phase 3: Spätere Jugend: Mit größeren Skaterjungs bekifft im Stadtpark rumgeknutscht. Hermann Hesse gelesen. Erster Freund: Langhaariger Milchbubi mit Kordmantel, Rolling Stones Cds und schäbiger Folkgitarre mit WIZO Aufklebern. Zweiter Freund: Abiturient mit Auto, wollte nur Sex und hat ihn bekommen. Dritter Freund: Typ mit Iro den alle Wisel nennen.... Phase 4: Abitur, 6 Monate Spanienaufenthalt, viele Livekonzerte und Festivals und Industriedesignstudium. Schließlich Phase 5: Charlotte Roche Double. Ich bin böse, dachte Herr Mayer und blickte schnell weg als ihn die Blicke des Mädchens trafen. Wo blieb nur die Pizza? Lange konnte er dem nicht mehr stand halten. Als er den letzten Schluck Spezi trinken wollte bemerkte er seinen starken Tremor. Ganz ruhig, das sind nur junge Frauen, beruhigte er sich und setzte das Glas einigermasen selbstsicher an den Mund und trank es aus. Zum Glück interessieren die sich nicht für mich. Ja hab ich ein Glück, dachte Herr Mayer und überlegte aufs Klo zu verschwinden um ein wenig zu weinen. „Pizza Meeresfrüchte?“ fragte die Italienerin die plötzlich vor ihm stand. Herr Mayer antwortete nicht. Schließlich saß er alleine am Tisch. Jetzt schnell essen und nichts wie weg hier. Die Meeresfrüchte hatten keinen Biss und er erblickte keinen einzigen Tintenfisch auf der Pizza. Nur diese komischen orangefarbenen Röllchen die ungefähr die Konsistenz von monatealten Joghurt besasen. Herr Mayer bemühte sich unaufällig schnell zu essen. Ab und zu traf ihn der Blick der Charlotte rechts außen. Sie war wirklich sehr hübsch musste er noch einmal denken und dann wieder nichts wie raus. Herr Mayer verschluckte sich kurz an einem Minischrimps, zog seine Sache dann aber doch halbwegs souverän durch, zahlte und ging auffallend langsam aus dem Lokal. Endlich wieder draußen. Endlich treiben. Zuhause erwarteten ihn bereits eine Flasche Rotwein, ein wenig Rohypnol und die neue Sons of Jim Wayne LP. Es schien ihm so als könnte es noch ein schöner Abend werden.