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- 08.07.2012
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Das Dunkel am Ende des Tages
Das Auseinandernehmen und Reinigen meiner CZ75 ist eine Routine, die mir so etwas wie Frieden schenkt. Zumindest beruhigt es mich. Die wenigen dafür notwendigen Handgriffe könnte ich im Halbschlaf durchführen: Entsichern, Magazin raus, Kammer entladen, Hahn spannen, den Verschluss nach hinten schieben, bis die Strichmarken von Rahmen und Schlitten übereinstimmen. Dann den Fanghebel rausdrücken und den Verschluss abziehen. Schon hält man den Schlitten samt Lauf und Feder in der Hand und kann alles in Ruhe säubern.
Frauen mochten es nie, wenn ich meine Waffe in ihrer Anwesenheit reinigte. Eine sagte mir mal, es kotze sie an, dass ich der Knarre mehr Zärtlichkeit entgegenbrächte als ihr. Das war natürlich nur Show. Ich empfinde keine zärtlichen Gefühle für meine Waffe. Wenn man allerdings so lange gewissermaßen als Team zusammenarbeitet, dann entsteht nun einmal so etwas wie Bindung und Sympathie.
Als es an der Wohnungstür klingelt, zögere ich einen Moment. Ich bin kein Fan von Überraschungsbesuchen. Ich lege eine Zeitung über die Waffenteile, gehe zur Tür.
»Ja?«
»Ich bin’s«, höre ich Sydneys Stimme. Ich öffne, und Sydney schiebt seinen massigen Körper herein. Wir stehen einen Moment lang in der Diele. Sydney klopft sich den Schnee vom Mantel, nimmt den Hut vom Kopf und legt ab.
»Kaffee ist in der Kanne in der Küche«, sage ich, gehe wieder ins Zimmer und setze am Tisch meine Reinigungsarbeiten fort. Ich höre Sydney an der Kaffeemaschine hantieren. Als er das Zimmer betritt hält er eine große Tasse in der Hand.
»Meine Fresse, Lou«, sagt er. »Mach doch mal Licht hier in der Bude.«
Er stellt die Tasse auf den Tisch, geht durch den Raum und zieht bei Fenstern und Balkontür die Vorhänge zurück. Dann steht er im gleißenden Gegenlicht da und breitet die Arme aus: »Ist das nicht eine Pracht? Sie dir das an. Es hat die ganze Nacht geschneit.«
Er setzt sich mir gegenüber in den Sessel, schlürft seinen Kaffee und sieht mir eine Weile beim Putzen der Waffe zu. Dann stellt er die Tasse ab, streicht sich über die Oberschenkel und sagt: »Schon was geplant für heute?«
»Ich geh nachher Schwimmen. Heiligabend sind nur wenig Leute in der Halle.«
»Gute Idee, mach das.«
Ich warte darauf, dass er mit der Sprache herausrückt.
»Der Chef hat was zu tun für dich«, sagt er schließlich.
»Ich hab frei«, erwidere ich.
Sydney lacht. »Ich würde es ja selbst machen, aber ich fahre heute noch runter nach Dresden. Gibt da ne kleine … Situation. Mit Yuri.«
Yuri, der Schwede, springt also mal wieder quer. Und Sydney soll es richten.
»Er säuft eben zu viel«, sage ich.
»Allerdings. Es ist zum Verrücktwerden. Man findet einfach keine guten Leute mehr.«
»Dann viel Glück. Hoffe, du nimmst jemanden mit.«
Sydney winkt ab. »Ach was«, sagte er. »Der Schwede und ich, wir haben einen Draht zueinander. Das geht alles ganz entspannt vonstatten.«
»Beim letzten Mal hat er einem deiner Männer die Fresse poliert«, erinnere ich ihn. Nachdem ich den Lauf durchgezogen habe, bürste ich die Innenseiten des Verschlusses aus und widme mich dann dem Spannmechanismus.
Sydney nickt gedankenvoll. »Naja, wie auch immer«, sagt er. »Es gibt da jedenfalls eine Kleinigkeit, die du für uns tun musst.«
»Nämlich?«
»Es geht um Nikolai.«
»Hm.«
»Er hat gerade ein bisschen Stress in einem unserer Läden.«
»Ist der immer noch für die Security verantwortlich.«
Sydney wedelt mit der Hand.
»Ja, das ist auch keine Dauerlösung. Aber jedenfalls schlägt er seine Schlampe wohl häufiger als sonst. Und die hat sich beim Boss beschwert, naja du weißt ja, wie das läuft.«
»Und was soll ich da machen?«
»Du kennst doch Nikolai. Ihr beide habt einiges zusammen erlebt«, sagt Sydney. »Fahr nachher mal vor der Schicht zu ihm ran. Da wird er gut drauf sein und dir zuhören.«
»Er wird mir zuhören?«
»Ja, bring ihn auf Kurs. Ist doch keine Art, den Frust an der Frau auszulassen.«
Ich lege Bürste und Putzlappen beiseite, sprühe ein wenig Waffenöl in die Mechanik.
»Nikolai ist ein Drecksack«, sage ich. »Hat seine Frauen immer mies behandelt. Ist nur eine Frage der Zeit, bis er eine totschlägt.«
Sydney erhebt sich und geht im Zimmer auf und ab. »Stimmt schon. Aber er ist nicht der einzige Mistkerl im Team, das wissen wir beide.«
Ich setze Lauf und Feder in den Verschluss, schiebe ihn auf den Rahmen und stecke den Fanghebel ein. Während ich mit dem Tuch noch einmal über die Pistole wische, geht Sydney von Fenster zu Fenster. »Einen wunderbaren Blick hast du hier. Ist ne tolle Stadt. Du solltest mehr unter Leute gehen, weißt du. Schon traurig, wenn einer Weihnachten allein verbringt.« Er dreht sich um und wirft mir einen prüfenden Blick zu. Ich stecke das Magazin in den Griff, lade durch und sichere die Pistole. Ich schiebe die CZ in das Holster und räume die Putzutensilien zusammen.
»Also, ich fahre nachher zu Nikolai«, sage ich.
»Gut.« Sydney steht einen Augenblick schweigend da. »Okay, ich mach los«, sagt er dann.
Ich begleite ihn zur Tür. Während er seinen Mantel anzieht, sagt er mit gedämpfter Stimme: »Falls es Stress geben sollte, ruf Chai an.«
Ich nicke.
»Der Chef will keine unnötigen Querelen«, fügt er hinzu und setzt seinen Hut auf.
»Verstehe«, sage ich. »Wie heißt denn die Kleine überhaupt?«
»Sarah.« Sydney überlegt einen Moment lang. »Also, wenn es nicht anders geht, nimm sie mit«, sagt er schließlich.
Wir stehen im Dämmerlicht der Diele und schauen einander an.
»Warte mal. Was?«
»Ja, nur wenn du siehst, dass es keinen Zweck hat.«
»Und wohin soll ich sie mitnehmen?«
»Na, Hauptsache, du holst sie erst mal da raus. Also, wenn es die Situation erfordert.«
»Syd, das kann doch nicht dein Ernst sein. Habt ihr dafür keine anderen Leute?«
Sydney klopft mir auf den Arm. »Machste schon. Ist keine große Sache.«
Nachdem ich die Tür hinter ihm geschlossen habe, schaue ich auf meine Uhr am Handgelenk. Die Schwimmhalle öffnet in einer Stunde. Genug Zeit, um kurz bei Nikolai vorbeizufahren. Ich verstaue die Putzmaterialien im Schrank unter der Küchenspüle, wasche mir die Hände und packe meine Schwimmsachen zusammen.
Seit einigen Wochen trainiert eine Schwimmerin auf Bahn Sechs, die meine Aufmerksamkeit erregt hat. Es gibt viele Sportfreaks, die in der Halle ihr privates Programm durchziehen, aber die Kleine ist eine spezielle Nummer. Macht es nie unter dreitausend Metern, Kraul selbstverständlich. Einmal waren es sechstausend, wie sie mir erzählte. Bislang haben wir nicht mehr als ein paar Worte gewechselt, aber ich denke, es wäre an der Zeit, sie auf einen Kaffee einzuladen.
Ich stecke das Holster an meinen Gürtel, ziehe mir Schuhe und Mantel an. Bevor ich sie einlade, sollte ich sie nach ihrem Namen fragen, denke ich.
Nikolai öffnet die Tür. Kein gutes Zeichen. Normalerweise schickt er seine Mädchen.
»Louis«, sagt er. »Lange nicht gesehen. Was gibt’s?«
Ich trete in die dunkle Wohnung. Es riecht nach Hasch und schmutziger Wäsche.
Als wir in der Küche sitzen, schaue ich mir Nikolai genauer an. Er ist noch immer ein harter Typ mit der Statur eines Holzfällers, dünstet aus jeder Pore Testosteron. Aber die letzten Jahre haben ihn Kraft gekostet. Schatten liegen unter seinen geröteten Augen, und sein Gesicht wirkt blass. In der Branche koksen sie alle, doch Nikolai übertreibt es offenbar.
»Willste was trinken? Kaffee, Bier?«, sagt er.
Ich schüttle den Kopf. »Bleib sitzen.«
Schwer zu sagen, ob noch jemand in der Wohnung ist. Nikolai wirkt unruhig, aber das kann alles Mögliche bedeuten.
»Ist Sarah da?«, frage ich.
Nikolai antwortet nicht sofort. »Ja«, sagt er schließlich. »Fühlt sich nicht wohl. Liegt im Bett. Vielleicht ne Grippe.«
Er bemerkt, dass er zu viel gequatscht hat und schweigt.
Ich nicke.
»Der Boss schickt mich«, sage ich und lasse das ein wenig einwirken.
»Was die Männer außerhalb des Jobs machen, ist im Grunde Privatangelegenheit«, fahre ich fort. »Aber es gibt Grenzen.«
Nikolai zuckt die Schultern. »Naja, es läuft gerade nicht so gut. Im Laden gibts ständig Ärger mit den Kanaken …«
Ich hebe die Hand. »Schon klar. Aber darum geht es nicht.«
Nikolai sieht mich ratlos an.
»Deine Mädchen landen regelmäßig in der Notaufnahme«, sage ich. »Das ist schlecht fürs Geschäft.«
Wir schweigen einen Moment lang. Es ist schwer einzuschätzen, was in dem Mann vorgeht. Nikolai schaut auf den Tisch, dann auf seine Hände und schließlich zu mir.
»Du ziehst Aufmerksamkeit auf dich«, sage ich. »Und das schmeckt dem Boss nicht.«
Nikolai nickt. »Es ist diese … Wut, Mann. Ich kann es einfach nicht unterdrücken. Wenn ich dann zu Hause bin, da reicht ein falsches Wort und ich …« Er ballt die Faust.
»Lass mal eine Zeitlang den Schnee weg«, rate ich ihm. »Das Zeug macht dich fertig. Du verlierst die Kontrolle.«
»Okay«, sagt er. »Das mach ich.«
Ich gebe ihm keine vierundzwanzig Stunden. Die Leute lügen, wenn sie den Mund öffnen.
»Jetzt hol Sarah mal her. Ich will sie kurz sprechen. Allein.«
»Also echt, Louis. Das musst du nicht. Ich hab verstanden. Botschaft ist angekommen.«
Ich sage nichts und warte, bis er aufsteht und die Küche verlässt. Ich höre seine Schritte von irgendwo aus den hinteren Räumen der Wohnung, dann gedämpfte Stimmen. Ein Blick auf meine Uhr sagt mir, dass die Schwimmhalle in zwanzig Minuten öffnet. Vielleicht erwische ich sie am Eingang, denke ich. Da könnte man ungezwungen ein bisschen quatschen.
Als Sarah in die Küche tritt, zucke ich mit keiner Wimper.
»Bitte«, sage ich, deute auf den Stuhl gegenüber und beobachte, wie sie sich an den Tisch setzt. Unter all den Blutergüssen ist ein schönes Gesicht zu vermuten. Nikolai hatte immer ein Faible für junge, hübsche Frauen.
»Du weißt, wer mich schickt?«, frage ich.
Sie nickt.
»Wenn du willst, nehme ich dich mit«, sage ich. »Jetzt gleich.«
Sarah streicht eine Strähne ihres blonden Haars zurück und schüttelt den Kopf.
»Sicher?«, hake ich noch einmal nach. »Die nächste Runde endet vielleicht auf der Intensivstation.«
Es ist immer das Gleiche. Sie glauben es nicht. Ich gebe Sarah meine Nummer und verlasse die Wohnung mit dem Gedanken, wieder einmal nicht das Geringste bewirkt zu haben.
Sie steht im Foyer der Schwimmhalle am Infobrett und liest. Vor dem Schalter herrscht noch Andrang, die Kasse hat gerade erst geöffnet. Ich gehe zu ihr.
»Hey«, sage ich. »Nicht mit der Familie bei Kaffee und Kuchen?«
Sie schaut mich an, lächelt. »Nee, hab Bock auf Schwimmen.«
Bislang hatte ich sie nur in ihrem Trainingsoutfit gesehen, Schwimmbrille, Badekappe, Wettkampfanzug von Arena. Wie sie jetzt so vor mir steht, wirkt sie verdammt jung. Dunkelblondes Haar, helle Haut, Sommersprossen. Ihre kleine Nase gefällt mir.
»Und was steht bei dir auf dem Plan?«, frage ich. »Langstrecke oder Technik?«
»Och, ich mach eigentlich nie Technik. Schwimme einfach drauflos.«
»Naja, ein bisschen Technik kann nicht schaden.«
Sie lacht. »Stimmt schon, aber ich schwimme nur so zum Spaß.«
»Aha«, sage ich. Und obwohl es sich dämlich anhört: »Ich bin übrigens Louis.«
Sie nickt, lächelt noch immer und sagt: »Nadja.«
Später in der Halle ziehe ich meine Bahnen und denke darüber nach, was Sydney gesagt hat. Ich bin jemand, der Weihnachten allein zu Hause sitzt. Da muss sich was ändern. Seit einiger Zeit fürchte ich das Dunkel am Ende des Tages. Das war früher nie ein Problem, aber scheinbar ist meine Haut dünner geworden. Ich liege im Bett, und tausend Dinge gehen mir durch den Kopf. Das Alleinsein verstärkt Zweifel und düstere Vorahnungen.
Außer mir schwimmen heute nur zwei Leute auf der Fünf. Es ist die schnellste Bahn der Halle. Wer tausend Meter nicht in zwanzig Minuten knackt, sollte sich hier nicht blicken lassen. Leider wird das Schild Sportschwimmer häufig ignoriert, und dann ärgere ich mich mit Blindfischen herum, die eigentlich nur zum Baden hergekommen sind. Heute bleiben mir jedoch endlose Überholmanöver erspart.
Gelegentlich schaue ich zur Bahn Sechs hinüber. Nadja kämpft sich stoisch voran. In der Zugphase fasst sie das Wasser nicht richtig, aber sie hat einen schönen Rhythmus, streckt sich, hält den Rumpf unter Spannung – es macht Spaß, ihr zuzusehen.
Während ich mit meinen Tauchübungen beginne, wandern meine Gedanken zurück zu Sarah und Nikolai. Unter anderen Umständen würde ich die Bullen schicken oder mir den Kerl privat vorknöpfen. Aber hier spielen geschäftliche Interessen eine Rolle. So mies Nikolai auch sein mag, er ist einer unserer Männer, und deshalb werfe ich ihn nicht mal eben so die Treppe hinunter, auch wenn er es verdient hätte. Wieder und wieder übe ich das Paket, eine Technik, bei der man Arme und Beine eng an den Körper zieht, kräftig ausatmet und dann langsam abwärts sinkt. In der Startzone ist das Schwimmbecken drei Meter tief. Ich hocke unten am Grund und beobachte, wie die Schwimmer über mich hinweg gleiten. In gewissem Sinne scheint das seit einigen Jahren das Thema meines Lebens zu sein; bewegungslos in der Tiefe hängen und den anderen dabei zuschauen, wie sie auf ihrem Weg vorankommen.
Über meinen Grübeleien verpasse ich den Moment, als Nadja aus dem Becken steigt. Als ich auftauche, sehe ich nur noch, wie sie ihr Badetuch greift, sich flüchtig zu mir umdreht, winkt und dann in der Damendusche verschwindet.
Später öffne ich das Sicherheitsschließfach im Foyer der Halle und nehme Telefon, Schlüssel und Brieftasche heraus. Die Waffe liegt im Handschuhfach meines Wagens. Die Nutzung dieses Schließfachs ist eine neue Routine, die ich mir angewöhnt habe, weil mir etwa ein halbes Jahr zuvor mein Schrank in der Umkleide komplett ausgeräumt wurde. Das war ein Spaß. Die Bullen haben mich dann nach Hause gefahren, und nur mit meiner Schwimmhose bekleidet und mit einer Decke über den Schultern, durfte ich dabei zusehen, wie ein Schlosser meine Wohnungstür öffnete. Die Geschichte hatte ein hässliches Nachspiel. Ich bat einen Bekannten bei der Kripo, der dort seine letzten Dienstjahre absitzt, nachzuschauen, ob man irgendwas über Verdächtige in dem Fall weiß. Tatsächlich hatten die Bullen zwei Teenager im Visier, die hier in der Gegend mit der Masche ab und zu ihre Haushaltskasse aufbesserten. Ich schnappte mir Chai, weil seine Anwesenheit meist jeden Widerstandsgedanken im Keim erstickt, und wir besuchten die beiden Trottel. Ich gab mir alle Mühe, die Angelegenheit zivilisiert zu lösen, denn ich wollte einfach nur meinen Krempel zurückhaben. Aber Chai dachte anders über die Sache. Nachdem ich meine Ansprache gehalten hatte und die beiden Punks mir meine Sachen aushändigten, packte Chai einen von ihnen und stieß ihn so heftig gegen die Wand, dass der Junge Blut spuckte.
Eine Stimme reißt mich aus den Gedanken. »Hey, hast du noch ein bisschen Zeit?«
Ich drehe mich um. Nadja lächelt mich an. Gut, dass die Frauen so lange für ihr Haar brauchen. Im Café neben dem Stadtbad herrscht wenig Betrieb. Nadja nippt an ihrem Tee und schaut mich ein bisschen verlegen an. Die Abdrücke der Schwimmbrille schmeicheln ihr nicht gerade, aber das ist ein Los, das alle Schwimmer mit Fassung tragen.
»Und wie viel waren es heute?«, frage ich.
»Sechzig Bahnen«, sagt sie. »Lief aber nicht so gut.«
Sie erzählt von einer Schulterverletzung, eine harmlose Zerrung scheinbar, die sie beim Kraulen behindert.
»Schwimm doch Brust oder Rücken«, sage ich. Nadja winkt ab. Das sei kein richtiges Schwimmen, meint sie, und ich verstehe das. Wenn man einmal den Flow gespürt hat, der beim Kraulschwimmen entsteht, dieses harmonische Ineinandergreifen aller Muskelgruppen, dann gibt es nichts anderes mehr.
Das Telefon brummt, eine Nachricht von Sarah.
»Sorry«, sage ich zu Nadja. »Ich muss los.«
Nikolai schaut mich an, als würde er mich nicht erkennen. Groß und kantig steht er in der Tür, sein Gesicht kalkbleich. Ich kenne diesen benommenen Blick, der Mann steht unter Schock.
»Wo ist sie?«, frage ich.
»Im Schlafzimmer«, sagt er, macht einen Schritt zurück und hebt den Arm, wie, um mir den Weg zu weisen.
»Geh vor«, sage ich. Er nickt mechanisch, dreht sich um und geht den Flur entlang. Ich öffne meinen Mantel, betrete die Wohnung und schließe hinter mir die Tür. Ich folge Nikolai, die Hand am Holster.
Im Schlafzimmer sieht man die Spuren des Kampfes. Die Gardinen hängen halb herabgerissen vor dem Fenster, eine Stehlampe liegt zerbrochen am Boden, ein Nachttisch umgekippt daneben. Ich gehe durch den Raum und ziehe die Vorhänge zu.
Dann betrachte ich Sarah.
»Wie lange ist das her?«, frage ich und hole das Telefon aus der Innentasche.
Nikolai hebt die Schultern, öffnet den Mund, sagt aber nichts.
»Okay. Setz dich aufs Bett!« Ich gebe meiner Stimme einen geschäftsmäßigen Klang. »Wir lösen das Problem.«
Nikolai folgt meiner Anweisung. Ich verlasse das Schlafzimmer, schließe die Tür hinter mir. Sydneys Stimme im Telefon: »Was gibt’s, Lou?«
Das gemeinsame Warten wird zur Nervenprobe. Ich sitze mit Nikolai in der Küche. Er hat Kaffee gemacht, die Tassen stehen vor uns auf dem Tisch. Alles, wie bei einem Schwätzchen unter Freunden. Aber ich bin nervös. Der Mann, der da vor mir sitzt, ist eine tickende Bombe. Ich beobachte, wie er an seinen Zähnen saugt, sich die Augen reibt, mit dem Feuerzeug spielt. Wir rauchen, aber ich ziehe ohne Genuss an meiner Kippe und hoffe, dass Chai bald hier ist.
»Sie hat es drauf angelegt«, sagt Nikolai. »Als du weg warst, ging es nur: Das hast du jetzt davon! Der Boss schickt extra Louis her, um dir klarzumachen, dass du mich nicht so behandeln kannst!«
Ich schweige, lass ihn quatschen. Was bringt es, solche Leute ernsthaft nach ihren Gründen zu fragen.
»Und dann dieser spöttische Blick! Jeder wäre da ausgerastet.«
»Warum ist sie nackt?« Eine blöde Frage. Ich weiß nicht, weshalb ich sie stelle.
Nikolai hebt die Schultern. »Ich wollte erst nicht …« Er spricht nicht weiter.
»Du wolltest ihr zeigen, wer der Boss ist«, sage ich.
Er antwortet nicht darauf, aber ich sehe ihm an, dass ich recht habe.
»Siehst du, Nikolai, das ist das Problem mit Männern wie dir«, sage ich und kann es kaum glauben. »Alles dreht sich darum, irgendwas zu beweisen. Und am Ende …« Ich weiß nicht, wie ich den Satz weiterführen soll.
Als Chai die Wohnung betritt, bin ich erleichtert. Er hat die Säge dabei, ein paar Müllbeutel und vier Sporttaschen. Zu dritt stehen wir vor Sarahs Leiche. Ich fasse kurz zusammen, wie die Sache jetzt laufen wird. Die beiden nicken und machen sich ans Werk. Ich schaue zu, wie sie Sarah packen und ins Badezimmer schaffen. Sie legen sie in die Badewanne. Chai holt die Säge und ich sage: »Lass ihn das machen.« Er sieht mich an. »Sicher?«
Während die beiden im Bad arbeiten, sitze ich in der Küche und rauche. Ich höre das Surren der Stichsäge, höre Nikolai fluchen. Eine halbe Stunde später sind wir zum Aufbruch bereit. Nikolai und Chai nehmen die Sporttaschen und folgen mir zu meinem Wagen. Es ist früher Abend. Auf der Straße schlägt uns eisige Kälte entgegen. Nur wenige Menschen sind unterwegs. Der Schnee knirscht unter meinen Schuhen.
Die beiden verstauen die Taschen im Kofferraum und Nikolai sagt: »Okay, danke, Jungs. Ich kümmere mich jetzt um die Wohnung. Und dann muss ich zum Laden.« Er klopft Chai auf die Schulter, nickt mir zu und dreht sich um.
»Nikolai«, sage ich. »Wir machen deine Dreckarbeit nicht allein. Du hast heute keine Schicht. Und die Wohnung kannst du später in Ordnung bringen.«
Die Fahrt raus aus der Stadt, Richtung Norden, verläuft ruhig. Chai und Nikolai sitzen hinten. Nur ab und an sagt jemand irgendwas. Die Vororte Berlins liegen hinter uns, schneebedeckte brandenburgische Ödnis zieht an den Fenstern vorbei. Es ist kurz vor neun, als wir den abgelegenen Schrottplatz erreichen. Wie erwartet ist nur Dennis da, unser Mann in der Pampa, dem Sydney hin und wieder gutes Geld für die Benutzung der hydraulischen Presse zahlt.
Nachdem Dennis das Tor hinter uns geschlossen hat, holen wir die Taschen aus dem Kofferraum und gehen zu viert über das unbeleuchtete Gelände. Die Presse ist ein Monster mit zwanzig Tonnen Druckkraft. Dennis weist auf einen verrosteten Wagen, ein eckiger VW Passat, der auf der Ladefläche der Maschine steht. »Könnt die Taschen auf die Rücksitze legen«, sagt er. »Oder in den Kofferraum.«
»Alles klar«, sagt Chai. »Wir kommen nach vorn, wenn wir fertig sind.«
Dennis nickt, dreht sich um und geht davon.
Ich stecke mir eine Zigarette an und beobachte, wie Chai und Nikolai die Taschen im VW deponieren.
»Ich geh kurz schiffen«, sagt Chai und verschwindet in der Dunkelheit hinter aufgetürmten Autowracks. Nikolai steht an der Presse und schaut auf den VW. Ich frage mich, ob er so etwas wie Reue empfindet. Er dreht sich um, kommt zu mir und mir fällt dieser leere Blick auf, den ich schon ein paar Mal im Spiegel gesehen habe. Ein hässlicher Gedanke durchzuckt mich: Vielleicht sind wir uns ähnlicher, als ich wahrhaben will.
Chai taucht wieder aus der Schwärze auf. Bedächtig nähert er sich uns und als wir dann in der Kälte des Weihnachtsabends stehen, sehe ich den Verdruss in seiner Miene. Ich biete beiden eine Kippe an. Chai schüttelt den Kopf, aber Nikolai nimmt eine. Ich gebe ihm Feuer. »Gut, dass das erledigt ist«, sagt er und bläst Rauch in die frostige Abendluft. Eine Last scheint von ihm abzufallen.
»Das Einzige was mir bei diesen Jobs hier draußen gefällt«, sage ich, »ist der Nachthimmel.« Ich lege den Kopf in den Nacken und deute auf die Sterne über uns. »Da ist der Polarstern. Und dort, das ist der Große Wagen.«
Nikolai folgt der Richtung meines ausgestreckten Arms und sucht das Sternbild in der Schwärze des Alls. Der trockene Knall einer schallgedämpften Pistole peitscht über den Hof und Nikolai fällt vornüber in den Schnee. Chai schraubt den Schalldämpfer von seiner Waffe, verstaut ihn in der Seitentasche seiner Hose. Er holstert die Waffe, hockt sich zu Nikolais Leiche. Während er seine Jackentaschen durchsucht, lasse ich die Kippe fallen und zertrete die Glut. Chai steckt Nikolais Börse, Handy und Schlüssel ein und packt ihn unter den Armen. Ich beobachte, wie er den Toten hinüber zur Presse schleift und auf die Vordersitze des Autowracks bugsiert. Danach geht er an mir vorbei über den Hof und holt Dennis.
Zu zweit stehen wir daneben, als Dennis die Maschine startet und schauen zu, wie die Stahlbacken der Presse den Passat zusammenquetschen. Ein paar Minuten später stehen wir vor einem Block verdichteten Metalls. »Geht nächste Woche in die Schmelze«, sagt Dennis. Wir verabschieden uns, steigen in meinen Wagen und fahren vom Hof.
Ich setze Chai vor Nikolais Wohnung ab. »Soll ich dir wirklich nicht helfen?«, frage ich.
Er winkt ab. »Ich mach das allein, ganz in Ruhe, hab da meine Routinen.«
Im Rückspiegel sehe ich, wie er über die Straße marschiert. Es hat wieder geschneit. Die Stadt wirkt still, beinahe verlassen. Bevor ich losfahre, hole ich mein Telefon aus dem Handschuhfach. Eine Nachricht von Nadja. Sie will morgen etwas trinken gehen.