Das dunkle Zimmer
Vanessa klappte das Buch zu und legte ihren Kopf auf das Kissen. Sie war müde, aber vor dem Einschlafen hatte sie schreckliche Angst. Seit Monaten schon quälten sie Alpträume. Meistens träumte sie davon, dass sie jemand aus dem Bett zog. Gerade wenn die Gestalt sie an den Füßen packte, wachte Vanessa dann ruckartig auf und klammerte sich mit ihren Händen am Bettgestell fest. Ihr Herz schlug ihr jedes Mal bis zum Hals und an einschlafen war dann gar nicht mehr zu denken. Manchmal träumte sie auch von großen schwarzen Hunden, die sie in die Hände bissen oder davon, dass sie ihre Familie vor den schwarzen Hunden beschützen musste. Vanessa war froh, dass sie einen Fernseher auf ihrem Zimmer hatte, denn wenn er lief fühlte sie sich etwas sicherer.
So kann es doch nicht weitergehen, dachte Vanessa und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Der Schein ihrer Nachttischlampe warf unheimliche Schatten auf die Wände. Eigentlich liebte sie diese düstere Stimmung, schließlich hatte sie sich den schwarzen Teppich und die lila Wände selbst ausgesucht. Sie interessierte sich auch schon seit Jahren sehr für Magie, trug ausschließlich schwarze Kleidung und hörte „dunkle“ Musik. Aber das war alles nur ein Spiel mit Symbolen, dem Unheimlichen, es war eine Möglichkeit sich von der Masse abzuheben. Doch in Wirklichkeit war Vanessa sehr ängstlich und sensibel. Nun lag sie wie so oft mit offenen Augen in ihrem Bett und dachte nach. Würde sie es heute mal schaffen eine Nacht durchzuschlafen? Ohne Alpträume? Vanessa schaltete sicherheitshalber den Fernseher an, denn nichts war schlimmer als nach einem Alptraum im Dunkeln aufzuwachen. Jede Nacht das gleiche Ritual, der Fernseher läuft, die Nachttischlampe brennt. Irgendwann gegen eins schläft sie dann doch ein, um spätestens um drei wieder schweißgebadet und völlig aufgewühlt aufzuwachen.
Vanessa hatte sogar das Gefühl, dass sie etwas in ihrem Zimmer bedrohte. Sie wusste auch schon gar nicht mehr genau, wann alles angefangen hatte. Mit ihrer besten Freundin Julia, die sich sehr für das Spirituelle und weiße Magie interessierte, hatte Vanessa dieses Problem schon mal besprochen. Julia hatte ihr geraten eine Hausreinigung durchführen zu lassen, aber diese war Vanessa zu teuer. Außerdem glaubte sie nicht wirklich an die Theorie, dass ein Geist in ihrem Zimmer hockte. Aber je mehr sie wieder über das Thema nachdachte, umso klarer wurde es ihr, dass sie etwas tun musste.
Heute Abend war es wieder besonders schlimm gewesen, denn Vanessa war allein zu Hause. In den unteren Räumen hatte sie keine Angst, aber sobald sie die breite Marmortreppe zu ihrem Zimmer hinaufstieg war die Angst da. Sie hatte das Gefühl, das in dem Zimmer etwas ist. Und dieses Etwas hatte bestimmt nichts Gutes im Sinn. Vor ein paar Tagen hatte sich ihre Freundin mental in Vanessas Zimmer versetzt und hatte dabei Angst bekommen. Etwas Großes und sehr böses sollte in dem Zimmer wohnen. Aber woher soll das kommen? fragte sich Vanessa und blickte wieder an die Wand. Plötzlich fiel ihr etwas ein! Sie hatte vor einigen Monaten von einer Satanistin ein schwarzes Buch bekommen. Es war sehr alt und enthielt verschiedene Beschwörungsrituale. Die Beschwörungen waren in lateinischer Sprache verfasst. Mehr zum Spaß und auch um ihre jüngere Schwester zu erschrecken hatte Vanessa ein Beschwörungsritual laut vorgelesen. Dadurch sollte man den Torwächter des Nordens rufen können. Eigentlich brauchte man für dieses Ritual einen Altar, ein schwarzes Cape und Blut. Vanessa war sich deshalb sicher gewesen, dass sie nur mit dem vorlesen der Worte nichts anrichten konnte. Aber wie es aussah, hatte sie doch etwas damit gerufen. Vanessa drehte sich auf die Seite und dachte nach. Stimmt, genau seit der Zeit hatte sie diese Ängste. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Vielleicht habe ich wirklich einen Geist beschworen? dachte sie und zitterte. Morgen früh musste sie sofort mit ihrer Freundin Julia sprechen. In dieser Nacht schlief Vanessa kaum, immer wieder schreckte sie hoch und dachte an den Geist.
Nach dem Frühstück rief sie sofort ihre beste Freundin an und berichtete von ihrer Idee. „Ja, das kann der Grund sein.“ sagte Julia und klang besorgt. „Ich kann dir da auch nicht helfen, mir ist das zu riskant. Am besten lässt du die Hausreinigung von einem Profi machen.“ „ Ich überlege es mir.“ sagte Vanessa und hängte den Hörer auf.
Langsam kam der Winter. Abends wurde es jetzt schnell dunkel, es gab kaum noch Blätter an den Bäumen. Ich hasse den November, dachte Vanessa und lenkte ihr Auto in die Einfahrt. Heute Abend war sie mal wieder allein zu Hause, denn ihre Eltern waren auf einer Geburtstagsfeier. Vanessa hielt vor dem Firmentor und stieg aus. Das Wohnhaus lag hinter dem großen Autohaus ihrer Eltern und man musste erst durch zwei schwere Gittertore um dorthin zu gelangen. Tagsüber waren die Tore offen, aber um diese Zeit war immer alles zu und abgeschlossen. Nachdem Vanessa endlich am Wohnhaus angelangt war, blickte sie auf die große Kastanie, die links neben dem Haus stand. In der Dämmerung wirkte sie noch bedrohlicher als sonst. Die Kastanie stand genau vor ihrem Zimmer und in windigen Nächten rauschten die Blätter und die Zweige scharrten an Vanessas Fenster. Das konnte sehr gruselig klingen. Mit schnellen Schritten ging sie auf die Haustür zu und betrat den warmen Flur. Diesmal gucke ich nicht nach oben, dachte sie und schritt sofort auf die Küche zu. Doch Vanessa hatte das Gefühl, dass ihr Zimmer nach ihr rief. Sogar durch die Decke spürte sie seine negative Energie. Sie atmete tief durch und fasste einen Entschluss. Ich lasse mich nicht länger fertig machen, ich stelle mich jetzt. Wenn mir der Geist dann was tut, dann habe ich Pech gehabt, dachte sie und schritt zur Treppe. Wie von einem Magneten leicht angezogen ging sie Stufe um Stufe ihrem Zimmer entgegen. Vorsichtig legte sie ihre rechte Hand auf die Klinke und trat ein. Vanessa schaltete das Licht ein und tat etwas, was sie sonst nie tat. Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Die Äste der Kastanie kratzten sacht am Fenster und die letzten Blätter rauschten im Wind. Sonst hörte sie nichts. Vanessa wusste nicht so recht, was sie jetzt tun sollte, also sprach sie laut vor sich hin. „Ich bin heute hier um mich bei dir zu entschuldigen. Ich hätte diesen Spruch nicht laut vorlesen sollen. Ich liebe mein Zimmer und es tut mir leid, dass ich mich hier so unwohl fühle. Wenn ich irgendwas falsch gemacht haben sollte, tut mir das leid. Bitte verzeih mir, wer immer du auch bist.“ Vanessa hatte Angst, doch sie blieb mutig an der Tür stehen und wartete. Plötzlich war alles still, auch die Kastanie bewegte sich nicht mehr. Vanessa hielt den Atem an. Sie spürte einen leichten und sehr kalten Luftzug, der an ihrem Gesicht vorbei in Richtung Fenster zog. Ein lautes Plätschern durchbrach plötzlich die Stille. Schwere Regentropfen klatschten auf die Blätter der Kastanie. Vanessa hatte das Gefühl, dass es in ihrem Zimmer heller geworden war. Ihre Beklemmung war wie weggeblasen. Was war hier passiert? Vanessa war ein sehr logisch denkender Mensch, aber dieses Erlebnis erschütterte sie sehr.
Seit diesem Tag kann Vanessa wieder in ihrem Zimmer schlafen und sie hat keine Angst mehr. Diese negative Energie, die in diesem Zimmer war ist schwer zu beschreiben, aber sie war da. Ich habe sie selbst gespürt.
-ENDE-