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Das Egomännchen
Er bot ein Bild des Jammers: mein langjähriger Freund Walter, Cellist beim LebensSinnQuartett. Blutig im Gesicht und mit zerrissenem Anzug stürzte er in meine Wohnung, warf mir sein wertvolles Cello vor die Füße und verkündete: »Ich bin am Ende, zerstört mein Leben, mein Cello vernichtet!«
Nach seinem Konzert mit Bach Suiten für Cello solo habe ihn eine Gruppe Jugendlicher zusammengeschlagen und sein Cello zertrümmert: »You fucking face«, sollen sie geschrien haben. Mit dem Wunsch, in meiner Wohnung übernachten zu dürfen, begann er, sich bei mir einzunisten. Er könne nach diesem Schock nicht mehr allein leben. Ich hieß ihn willkommen.
Alle Konzerte hatte er abgesagt. Er sicherte die Wohnungstür mit drei Sicherheitsschlössern. Die Wohnung verließ er nicht mehr. Den ganzen Tag lag er herum; mal bekam er einen Tobsuchtsanfall, dann weinte er stundenlang, dann war er tagelang nicht ansprechbar.
Nach einem Vierteljahr war ich am Ende meiner Nerven. Nachdem er schon so lang hier lebte, konnte ich ihn doch nicht mehr hinauswerfen. Das Cello lag noch immer mitten im Wohnzimmer; machte ich Anstalten, es zu entfernen, schrie er mich an, ob ich ihn vernichten wolle.
Da erinnerte ich mich an die Sage vom Egomännchen, die mir meine Oma erzählt hatte. Das Egomännchen quäle Menschen so lange, bis sie das Richtige tun. Man müsse solchen Menschen nur vom Egomännchen erzählen, dann ginge alles von selber. Also erzählte ich Walter von unserem Nachbarn Heinrich Fürgott. Statt seinen Bauernhof anständig zu bewirtschaften, verprasste er beinahe sein ganzes Einkommen im Wirtshaus. Die gesamte Familie litt darunter. Deshalb habe ihm die Oma vom Egomännchen erzählt. Als er am nächsten Tag sein Bier trinken wollte, wurde ihm schlecht und er musste sich übergeben. Dem Wirt erzählte er, er habe im Traum ein kleines Männchen gesehen, das vor ihm gesessen sei und ihn angestarrt habe. Seither habe er so ein komisches Gefühl im Bauch. Auch am nächsten Tag musste er sich übergeben, als er sein Bier trinken wollte. Nach drei Wochen schaute er kein Bier mehr an. Er sei ein ordentlicher Bauer geworden, versicherte meine Oma.
Walter kommentierte diese Geschichte mit »Verarschung, Dummheit und Aberglauben« und ging ins Bett.
Mitten in der Nacht polterte er aus der Wohnung und kam erst nach drei Tagen zurück. Völlig verwandelt schleppte er eine Schlagzeugbatterie ins Wohnzimmer, stellte sie gleich neben dem kaputten Cello auf und begann zu trommeln. Ein Männchen, so erzählte er, habe sich auf seine Schultern gesetzt und mit Trommelstöcken auf seinen Kopf eingeschlagen. Um diese unvorstellbaren Kopfschmerzen zu lindern, habe er intuitiv das Schlagzeug gekauft. Mit dem Kauf sei der Schmerz verschwunden. Und was ein Wunder: Mit dem ersten Schlag auf die Bass-Drum war der Korpus des Cellos wieder ganz geworden.
In Vertrauen auf das Egomännchen erduldete ich die nächsten Wochen das rhythmische Getöse, Walter schien sich immer wohler zu fühlen. Ich habe mir Ohropax gekauft.
Nach zwei Monaten sprang er urplötzlich vom Abendessen auf und verschwand. Wieder blieb er drei Tage weg: Als er hereinkam, schrie er: »Unvorstellbare Qualen habe ich erlitten. Das Egomännchen hat ununterbrochen auf mich eingeredet.« Während er dies erzählte, war plötzlich das Griffbrett des Cellos mit Hals und Wirbelkasten heil. Und Walter redete zwei Monate ohne Unterlass, rezitierte Gedichte, erzählte selbst erfundene Geschichten; sogar im Schlaf plapperte er weiter. Den Redefluss begleitete er tagsüber mit seinem Schlagzeug; im Bett mit Zuckungen.
Einmal hörte ihn ein Künstleragent durch das offene Fenster und vermittelte innerhalb weniger Tage eine Konzertlesung. Der Erfolg war ungeheuerlich: Ein Wolfgang Neuss der Moderne oder Oskar Matzerath reloaded, las man in den Zeitungen.
Bei einem anderen Konzert in der Berliner Philharmonie stand er plötzlich auf und verließ den Saal.
Nach drei Tagen kam er zurück und summte, pfiff, sang und schrie mich an: »Das Egomännchen hat mir so viele Melodien vorgesungen, dass sie meinen Körper zum Platzen bringen!«
Nun hörte ich den ganzen Tag Melodien von »O mio babbino caro« bis »In München steht ein Hofbräuhaus!« Dann erfand er auch noch eigene. Das Cello war nun ganz heil geworden und hatte an Klangschönheit sogar gewonnen.
Nun saß er den ganzen Tag im Wohnzimmer und trommelte, spielte das Cello, sang dazu oder las Geschichten und Gedichte vor, kombinierte Rhythmik, Melodik und Texte in immer neuen Variationen. Nach weiteren drei Wochen zog er in sein eigenes Haus. Er gründete das »Trio in one« und tourt jetzt, nach einem Jahr, mit größtem Erfolg durch die ganze Welt. Was war ich froh, als er auszog.
Dann aber überschattete eine dunkle Wolke mein Leben. Zitternd an allen Gliedern lag ich wochenlang im Bett. Als ich eines Tages meine Emails abrufen wollte, sprang ein kleines Männchen aus dem Computer auf die Tastatur und hüpfte darauf herum. Es kreischte fürchterlich, wenn ich nicht den Buchstaben drückte, auf dem es gerade stand. So leitete es mich zum Schreiben dieser Geschichte an. Das Zittern war verschwunden. Jetzt sitzt das Egomännchen auf dem Computer und schaut mich erwartungsvoll an.