Das einsame Wesen
Meine Geschichte begann im Winter, irgendwann vor der Zeitrechnung der Menschheit, denn ich war kein richtiger Mensch, sondern nur ein Wesen, das über außerordentliche Intelligenz und unglaublichen Fähigkeiten verfügte. Ich war stolz auf mich und fühlte mich als Herrscher meines Reiches. Mein Reich, das war ein Gebiet voller Schönheit mit einer Natur, die sich meinen Lebensformen anpasste. Ich brauchte nicht viel um glücklich zu sein, noch nicht einmal andere Wesen meines Geschlechts, denn ich liebte es allein zu sein. Die Einsamkeit meines täglichen Überlebens war mein Schicksal und mein ganz persönlicher Lebensinhalt. Ich brauchte diese Stille um mich herum und die Gewissheit nur für mich Verantwortlich zu sein. Es stimmte mich einfach ruhig und gelassen keine Verpflichtungen gegenüber andere zu haben. Alles was für mich bedeutend war, war mein eigenes Ich, meine Seele und meine Macht Dinge zu erleben, wie sie es kein anderer konnte.
Auch heute fühlte ich mich dieser Macht wieder ergeben. Wie so oft stand ich vor meiner Höhle auf dem Berg der tausend Worte und überblickte mit klarem Sinn mein Reich. Der Winter war herein gebrochen, sodass alles was sich in meinem Blickfeld darlegte mit einer geheimnisvollen, glitzernden und weißen Pracht einhüllte. Ich genoss die frische Luft, die ich in mir hinein strömen spürte und die Kälte, die sich langsam von meinen Füßen bis hinauf zu meinem Kopf ausbreitete. Hier und da hörte ich das Pfeifen des Windes und das Rauschen des Wassers, dass irgendwo tief unter mir lag. Ich bemerkte, die leichten Berührungen von einzelnen Schneeflocken, die sich langsam auf meine Gestalt niederlegten. Alles war so unglaublich Wirklich und das stimmte mich Zufrieden. Ich lebte in einem völligen Bewusstsein der Wirklichkeit und in einem Bewusstsein meiner Seele, die es mir erlaubte meine Macht anzuwenden. Heute war also der perfekte Tag, um meine Macht der Seele wieder zu erreichen. Dies hatte ich lange nicht mehr geschafft, aber mein Ich flüsterte mir zu, dass es heute endlich so weit war. Ich war aufgeregt und gespannt, ob mir dies auch wirklich gelingen würde. Noch einmal sog ich die tiefe und klare Winterluft ein, bevor ich dann meine Augen schloss, um zu dem verborgenen Inneren meiner Seele vorzustoßen.
Sobald die Dunkelheit meiner selbst mich völlig umgab, fing ich an meinen ganzen Körper zu durchschreiten. Ich suchte jeden Winkel ab, bis ich zu meinem Gehirn gelangte. Es taten sich mir abertausende von Wegen auf, die ich wohl oder übel zu durchqueren hatte. So machte ich mich auf eine lange Reise durch meine Gedanken, Erinnerungen, Träume und meine geheimsten Wünsche. Dabei wurde mir erst richtig bewusst, wie wertvoll und doch einzigartig mein Leben schon gewesen war. Doch zum erschrecken meiner selbst gab es nicht nur positive Seiten im inneren meiner Seele, denn plötzlich gelangte ich zu einem dunklen, schwarzen und unheimlichen Weg, der in mir ein Gefühl von ungeheurer Traurigkeit widerspiegelte. Dieses Gefühl von Traurigkeit hatte ich zuvor noch nie so empfunden, es war etwas Neues für mich. Ich beschloss dieses Gefühl zuzulassen und folgte entschlossen dem neuen und unbekannten Weg. Ich durchschritt das mächtige Schwarze Tor dieser Gefühlsbahn und prompt überkam mich ein Schauer von schrecklichen Szenarien, die in meiner Selbst zu Kämpfen schienen. Das eigentliche Ziel, meine Macht hinauf zu beschwören, indem ich mich selbst erkundete, rückte in weiter Ferne, so geschockt war ich von dem Zustand meines Inneren. In mir zeichnete sich nach und nach der blanke Horror eines Kampfes ab, den ich noch nicht mal mit Worten vermochte zu erklären. Nur so viel, ich wusste in diesem Augenblick der Offenbahrung, dass ich meine Zufriedenheit und mein altes Ich nie wieder finden würde. Leider hatte ich noch immer keine richtige Erklärung für diesen fürchterlichen Kampf meiner Gefühle, da diese mir einfach nur völlig fremd waren. Als letzte Möglichkeit diesem schwarzen Teil meiner Seele zu entkommen und vielleicht auch um diese Fremdartigkeit der Gefühle zu entkommen, blieb mir nur ein Ausweg: Ich musste wieder zurück in die Wirklichkeit gelangen. Also konzentrierte ich mich darauf, meinen Körper wieder zu spüren und langsam meine Augen zu öffnen. Schon bald spürte ich wieder die Kälte und ich wusste, dass ich wieder in der Realität war. Mir fiel es plötzlich schwer meine Augen richtig zu öffnen und dann begriff ich auch warum. Denn als sich mein Blick talabwärts in mein Reich senkte, erhaschte mich schlagartig wieder das dunkle, fremde Gefühl, doch dieses Mal konnte ich es erklären. Was mich nämlich schaudern ließ und meine Augen erschreckte, war der Anblick von mehreren Wesen, die so aussahen wie ich.
Ich war auf einmal nicht mehr einzigartig in meinem Reich. Andere hatten sich in die Intimität meines Reiches und meiner Seele geschlichen. Das konnte einfach nicht wahr sein, was war geschehen? Wieso passierte es jetzt, gerade heute an diesem wundervollen Tag? Warum ich? Ich konnte und wollte es nicht zulassen. Mein einziger Lebensinhalt, für immer einsam zu sein geriet in Gefahr und so musste ich den nächsten Schritt wagen, um mir auch wirklich für immer treu zu bleiben. Ich ging langsam zum Rande des Berges, breitete meine Arme aus, guckte ein allerletztes Mal auf mein Reich und dann ließ ich mich fallen. Ich ließ meine ganze Seele und meinen Körper fallen. Jetzt war ich für immer bei mir!