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Das Ende der Jugend
"Hey!"
Sie trug eine knielange, schwarze Jeans; Schuhe mit flachen Absätzen.
"Hey!" - Schüchternes Lächeln.
Markus roch Vanille aus dem zum Zopf gebundenen Haar.
"Blöd, wenn die Bahn zu spät kommt, hm?"
Hastig warf er einen Blick zu dem Treppenaufgang, der zum Gleis führte. Niemand da.
"Ja ... schon."
Selbst um ein Lächeln bemüht, sagte er: "Du gehst auf die St. Marien Realschule?"
"Ja."
Fünfte Klasse, schätzte er. Nicht älter als elf.
"Die Tochter einer Bekannten von mir geht da auch hin."
Sie griff mit einer Hand in ihre Weste, suchte nach irgendeiner Sache, die sie nicht fand.
"Wie heißt sie?"
Markus schüttelte den Kopf.
"Die kennst du sicher nicht, sie ist schon in der zehnten Klasse."
"Oh."
Wieder führte sein Blick ihn zu den Treppen und zurück.
"In welche Klasse gehst du denn?"
Kurzes Zögern, als wüsste sie es selbst nicht.
"In die fünfte Klasse erst."
Er zündete sich eine Zigarette an.
"Da nerven die Lehrer bestimmt, weil sie dich noch wie ein Kind behandeln, was?"
"Schon, ja."
"Wie alt bist du denn?"
"Ich ... zehn. Da kommt meine Freundin."
Markus erschrak. Er hatte das andere Mädchen nicht kommen sehen. Nervös zog er an seiner Zigarette und wandte sich ab.
Die beiden tuschelten etwas, worauf sie zu lachen anfingen. Natürlich ging es um ihn.
Als die Bahn kam, stieg er ganz hinten ein.
***
"Ich habe es wieder getan."
"Sie haben ein Kind angesprochen?"
"Sie war zehn, ich hatte sie auf elf geschätzt. Mir haben ihre Beine gefallen."
"Wir haben, soweit ich mich erinnern kann, abgesprochen, dass Sie den Bus benutzen. Wissen Sie noch warum?"
"Ja ... klar."
"Und, was war der Grund für diese Absprache?"
"Weil der Bus meistens voll ist, und der Bahnhof oft leer."
"Warum haben Sie sich nicht daran gehalten?"
"Ich wollte ja mit dem Bus fahren, aber sie ist die ganze Zeit vor mir gelaufen. Mir haben ihre Beine so gefallen."
***
Er warf die Jacke auf das Sofa und schaltete den Fernseher ein. Dann holte er sich einen Orangensaft aus dem Kühlschrank.
In der Diele stand immer noch der Karton mit den alten VHS Kassetten. Fein säuberlich nummeriert nach Jahrgang, Monat und Woche.
Sämtliche Folgen der Mini Playback Show.
Natürlich war es eine Lüge von Markus gewesen, als er dem Therapeuten gegenüber behauptet hatte, sie in den Müll geschmissen zu haben. Er wollte sie ja auch nicht mehr ansehen.
Es steckte allerdings eine ganze Menge Arbeit in der Zusammenstellung dieser Kassetten. Man warf solche Dinge nicht einfach weg.
Markus trank sein Glas leer und sprang durch die Programme.
Manchmal wünschte er sich, weniger feige zu sein. Der Zettel auf dem Tisch. Ein Ausdruck voller Internetseiten. Er hätte sie nur in den Browser eingeben müssen, und die Sachen aus dem normalen Fernsehprogramm wären sofort nichtig gewesen.
Für die Liste hatte er Geld bezahlt, und da war er schon im festen Glauben gewesen, deswegen ins Gefängnis gehen zu müssen. Die Banken konnten Überweisungen nachvollziehen und legten sie dem Staat gegenüber auch offen. Markus hatte einen Bericht darüber gesehen.
Nun lag der Ausdruck da seit mehr als acht Wochen, und niemand hatte sich gemeldet. Erst war er von Markus zerrissen, dann mit Tesafilm wieder zusammengeklebt worden.
An den äußeren Umständen hingegen blieben die Änderungen aus. Claudia rief nicht mehr an, seit er dem neunten Geburtstag seiner Nichte ferngeblieben war.
Sie hatten da Spiele gespielt. Kinder, die sich auf die Beine von Erwachsenen setzten.
Der Gedanke war ihm unerträglich gewesen.
***
"Entweder, Sie befolgen die Ratschläge, die ich Ihnen gebe, oder ich muss Sie unter formelle Beobachtung stellen."
"Ich bemühe mich ja."
"Sie sind wieder mit der Bahn gefahren."
"Es wird nicht wieder ..."
"Ach, hören Sie doch auf. Es wird nicht wieder vorkommen. Wie oft habe ich das gehört. Seien Sie doch froh, dass der Staat solche Menschen wie Sie noch fördert. Ich könnte auch Besseres mit meiner Zeit anfangen."
"Ich will doch bloß ..."
"Sie sollten sich endlich einmal im Klaren darüber sein, dass Sie ein potentieller Straftäter sind."
***
Die Kleine trug eine Jeans mit glitzernden, aufgenähten Sternen.
"Hey", sagte Markus.
"Kann ich Ihnen helfen", erwiderte der Vater, der in diesem Moment um die Häuserecke bog.
Markus spürte, wie sein Gesicht heiß und rot wurde. Er drehte sich um und ging.
"Warte doch mal kurz, Freundchen."
Er beschleunigte seinen Schritt.
"Bist du ... bleib mal stehen. Du sollst stehen bleiben!"
Alles in ihm verkrampfte sich.
Eine kräftige Hand drehte ihn um.
"Warum machst du meine Tochter an?"
"Ich wollte nur ..."
"Ja, was wolltest du?"
"Ich wollte ihr nur was Nettes sagen."
Der Mann zog Markus nah an sich heran, hielt seine Lippen ganz dicht an sein Ohr.
"Ich kenne dich. Du wohnst doch da in der Leopoldstraße. Mach dich besser ganz schnell vom Fleck, du Kinderficker."
Benommen taumelte Markus in Richtung Bushaltestelle.
Dann lief er weiter, betrat eine Telefonzelle, warf Kleingeld ein und wählte die Nummer.
***
"Ich habe jetzt keine Zeit für Sie. Ihr Termin ist am Montag. Ich bin nicht Ihr persönlicher Seelsorger."
"Aber ..."
"Halten Sie sich an die Regeln und es ist gut."
"Ich bin gerade ziemlich beschissen ..."
"Ihnen noch einen schönen Samstag."
***
Das Bahngleis war leer, bis auf sie.
"Hey!"
"Hey!"
"Blöd, wenn die Bahn zu spät kommt, hm?"
"Ja, schon. Sie fällt für eine Stunde ganz aus."
"Ich wohne hier gleich in der Nähe. Wenn du magst, kann ich dir ein Bier anbieten."
"Echt? Das wäre cool!"
"Na dann, gehen wir."
Er warf einen Blick zu den Treppen.
Niemand da.