- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Das Ende der Mücke oder Der Perspektivenwechsel
(In seligem Gedenken an den Sommer)
Eine Mücke, feingliedrig und gerade gebaut, schaute nachdenklich auf mehrere Mückenlarven, die in der Regentonne schwammen. Endlich löste sie sich vom Tonnenrand und schwirrte in Bögen durch die warme Sommerluft, über die ungemähte Wiese, vorbei an Flieder und Jasmin.
„In diesem Garten lässt es sich gut leben“, dachte sie, „wieso kam es mir damals als Puppe nie in den Sinn, dass es so schön auf der Welt sein kann. Der Sex mit dem Mückerich allerdings hätte ruhig etwas länger dauern können. Obwohl er mir einen wahnsinnigen Hunger auf warmes Blut gemacht hat.“
Gierig schaute sie sich um. Da – eine Elster! Nein, zu dicke Federn.
Ein süßer Duft von Mensch zog plötzlich an ihr Riechorgan.
Dort hinten auf der Terrasse saß eine Familie beim Nachmittagskaffee.
Die Mücke schwirrte zu den riesigen Körpern.
Ein wahres Paradies zum Anbeißen! Massenhaft nackte Arme, Hände, Waden, Füße, auch anbeißwürdige Gesichter lockten. In welche Haut ließe sich ihr Rüssel am leichtesten versenken, wo schmeckte das Blut am süßesten? Die Mücke surrte um die Gruppe herum. In immer höheren Tönen sirrte sie.
Einige der Menschen hoben ihre Köpfe. Die Mücke näherte sich einem hübschen Unterarm.
Klatsch!
„Aua, Mama, warum haust du mich!“, schimpfte das Mädchen.
„Da saß eine Mücke“, erwiderte die Mutter.
Patsch!
„Und auf deiner Schulter auch“, griente die Tochter.
„O Gott, fängt diese Mückenplage wieder an“, stöhnte der Vater und strich sich über Hinterkopf und Nacken.
Klatsch!
„Maximilian!“, fuhr der Vater in die Höhe.
Patsch!
„Du musst deiner Schwester nicht alles nachmachen!“
„Aber da saß doch wirklich eine Mücke auf deinem Knie“, jammerte der Sohn und rieb sich die Wange.
„Dicke Luft hier“, sagte sich die Mücke und machte sich davon. „Man muss seine Bedürfnisse auch mal aufschieben können.“
Sie gesellte sich zu einem fremden Mückenmann und hoffte, sich mit ihm über die besten Jagdmethoden austauschen zu können. „Vielleicht braucht man andere Werkzeuge, um schnell, unbemerkt und ordentlich angreifen zu können.“
„Mit diesem Thema beschäftige ich mich nicht“, erwiderte jedoch der Mückenmann, „ich bin Vegetarier und Pazifist, ich trinke nur Nektar und kein Blut.“
Die Mücke überlegte. Sollte sie zum Nachbargarten fliegen? Nein, dort drohte vermutlich Ähnliches. Erneuter Angriff auf das gleiche Ziel war angesagt.
Als die Mücke die Terrasse wieder erreichte, hätte es ihr fast die Flügel gelähmt, ein so ätzender Duftschwall schlug ihr entgegen. Ihr sank das Herz in die Beine und sie selbst bis kurz über den Boden. Wenigstens atmete es sich dort leichter. Sie wurde durch die lauten Menschenstimmen, hohe und tiefe durcheinander, abgelenkt, wie auch durch den im Schatten dösenden Familienhund. Aber lange ließ sich die Mücke nicht davon stören.
Voller Vorfreude schwirrte sie um die Fußgelenke, die breiten und die schmalen, sondierte die überwiegend unbehaarten Fußrücken. Noch schwankte sie in ihrer Entscheidung, doch dann erwählte sie einen zarten, cremeduftenden Fuß und an diesem die Stelle unterhalb des Außenknöchels. Sie sägte mit ihren Kiefern das Hautstückchen auf und senkte dort genussvoll ihren Rüssel hinein. „Magst du zum Augenblicke sagen: Verweile doch, du bist so schön ...“ Sie verdrehte voller Wonne ihre Augen, dachte daran, welch hübsches Kinderzimmer ihre Eier und Larven in der Regentonne erwartete und saugte, saugte, färbte sich langsam rot ...
„Iii, Bello! Wie kannst du mich nur so erschrecken und meinen Fuß abschlecken!“, quiekte die Mutter und brachte kichernd ihre Füße vor Bellos schlabbernder Zunge in Sicherheit.
„Genau, das darf nämlich nur ich!“, sagte der Vater.
Aber das hörte die Mücke nicht mehr.