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Das Ende eines Sommers
Das Ende eines Sommers
Eine Kurzgeschichte von Martin Barnas
Was er erblickte, schien ihm vertraut. Schon als kleines Kind hatte er auf Postkarten, die ihm sein Großvater immer mitbrachte, solch traumhaft schöne Landschaften gesehen, er hatte sie so geliebt. Und nun, die Szenerie betrachtend, fühlte er sich wieder wie damals. Er streifte sich mit seinen schmalen, knochigen Fingern durch die recht ungepflegt erscheinenden, blonden Haare. "Ich glaube, der weite Weg hat sich gelohnt", hörte er sich leise flüstern. Eine alte Dame in einem alten braunen Mantel blickte zu ihm auf, als fühlte sich sich von ihm angesprochen. Er aber bemerkte sie nicht, hatte er doch nur noch Augen für die vor ihm liegende Landschaft, die ihn wahrlich faszinierte und zur gleichen Zeit zum Träumen anregte. Es schien nicht mehr lange und die Sonne würde untergehen. Tief am Horizont stand sie, färbte den gesamten Himmel in die wärmsten Farben und berührte sanft das Ende der Welt, so dass man meinen sollte, ein Zischen vernehmen zu können, als sie langsam in das Meer eintauchte. Sein Blick wanderte an dem kleinen Fischerhaus vorüber, vor dem ein alter Mann seine Netze für den kommenden Morgen flickte. Auf einer Holzbank saß er, mit einem zufrieden dreinschauenden Gesicht, wohl wissend, dass sich der lange Tag gelohnt haben würde. Gekonnt reparierte er sein Arbeitszeug, während der Qualm seiner selbstgeschnitzten Pfeife, an der er hin und wieder paffte, Teile seines Gesichtes verhüllte. Der Rest offenbarte eine von der Sonne gegerbte Haut, die mit seinen unzählig tiefen Falten schien, als könne sie Geschichten von tausend Leben erzählen. Ja, so hatte er sich diesen Urlaubsort vorgestellt, der Weg hatte sich tatsächlich gelohnt.
Er konnte sich beinahe nicht sattsehen. Sein Blick wanderte weiter und weiter, an den moosbedeckten Meeresklippen entlang, wo eine sanfte Brandung immer wieder an die Felsen schlug, vorbei an den vier großen Bäumen, die sich mit all' ihrer Stärke der kräftigen Brise entgegenstellten. Einige Blätter wurden aus den hohen Baumkronen mitgerissen und sanken nun taumelnd und schaukelnd auf den grasbedeckten, vom Regen durchtränkten Boden. Es konnte noch nicht lange her gewesen sein, dass sich die Schleusen des Himmels öffneten und der Regen, einem Vorhang gleich, die Landschaft in eine Leben spendende, feuchte Decke hüllte. Noch immer stand das Wasser an einigen Stellen und es schien, als hielte der Boden dem Himmel einen Spiegel entgegen. "Sehen sie nur, die Vögel". Die alte Dame stand zunächst unbemerkt hinter ihm, berührte nun aber sanft seine Schulter, hob ihren linken Arm und deutete mit ihrem Finger auf eine Stelle der Landschaft, die ihm beinahe verborgen geblieben wäre. "Sind sie nicht wunderschön?”, fragte sie und ihr Gesicht zauberte ein kleines Lächeln hervor. Er sah die Vögel, kraftvoll und majestätisch hoben sie sich in die Lüfte und ihre Schwingen trugen sie hinaus auf das Meer. Die Landschaft sah jetzt genau aus wie auf Großvaters Postkarten, die er als kleiner Junge so sehr liebte. Der Weg hatte sich gelohnt, doch tief im Grunde seines Herzens war er doch ein wenig traurig.
Traurig darüber diese wunderbare Landschaft nie selber gesehen zu haben. Dieses Landschaft war zwar erstaunlich an Details, aber eben nur ein Bild an der Wand in einer der vielen Kunstausstellung der Stadt, in einem kalten Raum voller Unbekannter. Er wandte sich ab, um das nächste Motiv zu betrachten. Die alte Dame in ihrem alten, braunen Mantel blieb noch eine Weile. "Das Ende eines Sommer, ein passender Titel für dieses Bild.", rief sie ihm noch zu, aber er hörte sie schon nicht mehr.