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Das Ende ist ein Lied
Intro:
Wieso ausgerechnet wir Fünf den Tag überlebt hatten, kann ich nicht sagen.
Vielleicht hatten wir noch zu lernen.
Zu der Zeit, als ich unterwegs zum Bunker gewesen war, hatte die Stadt mit dem aufgewartet, was ich als geborener Stadtmensch eine wirklich perfekte Atmosphäre nenne. Klar, es war Sommer und das Wetter klasse gewesen. Klar, dass mit den Temperaturen die Laune der Menschen in unserer Betonarena gestiegen war und sogar die, welche den Tag aus beruflichen Gründen von Stahl, Glas und Mörtel umgeben an ihren Schreibtischen oder Kassen, Maschinen und Rechnern verbringen mussten, genossen es, wenn die Sonne sie zwischen zwei und vier in ihrer Umsatzhölle besuchte.
Für mich war das Geld zu der Zeit kein Problem. Mich trug der Staat. Die Ausbildung mit einem korrekten Abschluss hinter mir, hatte ich nicht mehr zu tun, als den Sommer zu genießen. So lange man nicht selbst aktiv wurde, war man doch nicht in der Gefahr, angeschrieben zu werden, vor allem mit einem frischen Zeugnis in der Tasche.
Dementsprechend verhielten sich auch Jesper und Jonte. Wir drei waren die Schmarotzer in der Band. Cedric ließ ab und an einen seiner Sprüche ab – aber irgendwie schien er darüber zu stehen – vielleicht durch Cosima, mit der er letzten Monat zusammen gekommen war. Ich fand seine neue Ruhe diesbezüglich erstaunlich, bei dem kapitalistischen Arsch von Vater, der ihn in die Welt geworfen hatte. Von diesem hatte er wohl auch den Zwang geerbt, Geld immer nur durch eigene Arbeit zu verdienen. Cedric hatte bei einem der große Discounter angefangen. Von denen gab es zumindest in unseren Stadtresten sicher keine Filiale mehr. Was auch egal ist, denn ich glaube nicht, dass sein Vater besonders stolz darauf gewesen war, dass sein fleischgewordenes Spermium die vergammelten Zucchini aus der Gemüseabteilung entfernte.
Nun, es ging um die Atmosphäre der Stadt an dem Tag. Das Wetter hatten wir bereits, aber was unbestreitbar davon beeinflusst wurde, waren die Frauen. Ich meine, man stelle sich einen Mann im Winter vor: Dicke Klamotten, eingemummt und unansehnlich; im Sommer rennen wir in Shorts und T-Shirt herum. Nach außen kein großer Unterschied. Dagegen die Frauen – im Winter nicht viel anders, da begeistert einen vielleicht die Vorstellung, wie die Nippel trotz der Verpackung darüber härter werden. Aber dann in den warmen Monaten – ich schwöre, ich könnte den ganzen Sommer hindurch die Straßen unserer Stadt durchstreifen und sie mir anschauen. Ihre Rundungen, ihre ganzen Reize erblühen in dieser Zeit und immer, wenn man denkt, man hat das Beste bereits gesehen, erwartet einen an der nächsten Ecke etwas Aufregenderes, etwas, das den Highscore weiter in die Höhe treibt. Am offensichtlichsten ist es im Park. Logisch, da wollen sie nichts anderes als betrachtet zu werden. Aber viel besser ist es an Plätzen, an denen man sich vorstellen kann, es wäre einfach nur die Hitze, die sie dazu veranlasst, möglichst viel Haut zu zeigen. Die sie dazu bringt, nur die wichtigen Stellen zu verdecken. Das macht mich richtig an. Die Bedienung einer Kneipe mit Terrasse. Oder eine von ihnen als Fahrradkurier – überhaupt Frauen auf Rädern. Vielleicht eine, die ihr soziales Jahr durchzieht und irgendeinen Alten im Rolli über die Straße schiebt. Und am besten noch eines von diesen engen T-Shirts trägt. Eines, auf dem vielleicht ‚Zicke’ steht. Ich stelle mir vor, sie denken nicht darüber nach, was sie den Männern der Stadt antun. Sie tun es einfach, weil es so heiß ist. Sie wissen nicht, dass man sich als Mann besser hinsetzt, wenn man sich in Gedanken zu lange damit beschäftigt, die Situation abändert. Und dann wartet.
Ja, damit ist schon der wichtigste Punkt genannt, den ich angeben würde, wenn man von mir wissen wollte, warum ich den Sommer so liebe. Aber letztendlich ist es doch einfach diese Atmosphäre als Ganzes, die zwischen den Hochbauten auflebt. Alles ist hell, freier und das Leben scheint in den Momenten, in denen man dies erkennt, einfach etwas jünger und länger zu sein. Es trägt diesen Hauch von Unendlichkeit und verdeckt seine Ecken und Kanten.
So hatte ich auch auf dem Weg zum Bunker empfunden. Ich hatte die S-Bahn beim Fluss verlassen und war, meine Gitarre auf dem Rücken, irgendwann auf Jesper gestoßen.
Er war der Sänger, ich der Gitarrist. Gut, er spielte Gitarre und ich sang auch, aber wenn mich jemand fragen würde, so hätte ich immer diese Aufteilung genannt. Jesper Sänger, ich Gitarre, Jonte Bass und Cedric hinter der Taktbatterie. Zusammen alles, alleine nichts.
Wir alle waren inmitten in der Sommeratmosphäre gefangen gewesen. Hatten nicht wenige sehr erfolgreiche Auftritte hinter uns gehabt und uns seit fünf oder sechs Wochen in einem Rausch befunden. Gute Kritiken in zwei oder drei stadtbekannten Magazinen, mehrere extrem positive Reviews im Internet und mit etwas Glück die erste richtig wichtige Connection geknüpft. Zusammen erreichten wir den Bunker und unseren Proberaum, von dem wir damals noch nicht gewusst hatten, wie existenziell er für uns werden würde.
Musikbunker sind etwas besonders. Wer noch nie in einem gewesen ist, wird das nie verstehen. Zuerst besticht er durch seine unaufdringliche Existenz. Ein inoffizielles Denkmal an die Scheiße des letzten Jahrhunderts. Oft ist die Vorderfront von mehren schönen Bäumen verdeckt und doch hat dieser Bau die Macht, eine ganze Straßenkreuzung zu dominieren. Wenn die Eingangstür durch das Spiel von Licht und Schatten durch die Äste hindurch beleuchtet wird, prahlt sie beinahe mit einem Schein von Heiligkeit.
Außen und innen erzählen die besprühten Wände Geschichten; zumeist unwichtig, aber es gibt Wahrheiten dazwischen und einige wenige davon habe ich mir bewahrt.
Wenn man eintritt, verlässt man die Welt für eine gewisse Zeit.
Ich weiß noch, wie die Musik der probenden Bands durch die schweren Türen hallte, als Jesper und ich durch die Gänge gegangen waren. Auch wenn einem die Musik, die dort gespielt wird, nicht gefällt oder man merkt, dass Anfänger ihre ersten zaghaften Schritte wagen, gibt es immer den kurzen Moment, in dem man die Verwandtschaft erkennt. In dem man die gleichen Träume oder manchmal auch denselben Frust durch die Türen dringen spürt.
Und dann gibt es diesen Augenblick, in dem man den eigenen Raum betritt.
Erste Strophe:
„Gerret!“
Ich sah müde auf. Schaute direkt in Cedrics erschöpftes Gesicht.
„Dein Wasser für heute Abend – wenn die Uhr noch stimmt.“
Automatisch sah ich zu dem kleinen Wecker. Es war eine dieser vollkommen hässlichen Comicuhren, die man in Ramschläden für einige Euro kaufen konnte. Ein ewig grinsendes Gesicht
dem egal ist, was draußen abgeht
von dessen Nase zwei Zeiger abgingen. Zehn Uhr. Am wievielten Tag?
Ich nahm den Becher aus seiner Hand und trank. Langsam. Dabei sah ich mir unseren Raum wieder an.
Wir gaben
hatten ausgegeben
jeden Monat einen knappen Hunderter für die zwanzig Quadratmeter aus. Im Gegensatz zu unserem letzen Raum gab es in diesem Bunker eine Toilette in der das Licht funktionierte und einmal die Woche kam sogar ein Reinigungsdienst. Jedenfalls vor dem großen Slam.
Die Belüftung war in Ordnung gewesen, das Dämmmaterial ebenso. Schon bei der ersten Probe war uns der gute Sound aufgefallen. Eine gute Probe steht und fällt mit dem Sound. Klar, viele würden sagen, zum Proben langt es, wenn man die anderen zumindest hören kann. Aber das ist falsch. Ein neuer Song wächst mit Energie, wenn der Sound stimmt. Wenn nicht, ist er ein steriles Stück, aufgeteilt in einen Anfang, die Strophen, den Refrain, das Ende und ab und an mal einige Parts dazwischen. Mit gutem Sound ist er ein Tier, das sich von einer Wand gegen die andere wirft und einem beim Spielen Tränen in die Augen treibt. Deshalb mag ich diesen Raum. Hier lebt das Tier.
Unsere Instrumente lagen jetzt alle in einer Ecke. Direkt unter den Plakaten unserer letzten Auftritte. Das ist auch ein weiterer Pluspunkt des eigenen Proberaums: Man richtet ihn sich ein. Im Prinzip gleicht das wohl der Werkstatt eines Künstlers. Hier ist man kreativ und dementsprechend muss man sich wohlfühlen. Wir hatten ein Sofa und einen kleinen Tisch in der einen Ecke platziert; die Wände mit den Gardinen aus den Siebzigern behängt, die Jesper so liebt. Zugegeben, zusammen sehen diese Stofffetzen irgendwie krank aus, aber sie machen den Raum ebenso aus wie Cedrics Pearl-Set und die Boxen von Jesper, Jonte und mir. Jonte hatte seinen Bassamp damals aus zweiter Hand gekauft und er glaubt fest daran, dass der ‚Property of Gene Simmons’ - Schriftzug darauf echt ist. Und wieso nicht – man weiß ja nie, welchen Weg diese Dinger gegangen sind.
Ich leerte meinen Becher und sah zu Cedric, der immer noch vor mir stand.
„Wie viel Wasser ist noch da?“
Er schüttelte kurz den Kopf, als würde er seine Gedanken zurechtrücken.
„Langt noch für ein paar Tage. Außerdem ist noch Cola da. Und Korn, wenn Du willst.“ Er lachte trocken auf.
„War echt ne gute Idee von euch, einkaufen zu gehen.“ Ich sah dabei zu Cosima. Sie war – wie gesagt - Cedrics Freundin und hatte ihn eigentlich nur nach oben begleitet, weil sie Jesper irgend etwas hatte fragen wollen. Als wir alle vielleicht fünf Minuten hier gewesen waren, war der große Knall gekommen.
Nun, es war eben unser Glück, dass die beiden zuvor für die Party eingekauft hatten, die an dem Abend bei ihnen hatte stattfinden sollen.
Cosima sah müde zurück und nickte. Sie war die letzte Zeit über sehr ruhig gewesen und man konnte Cedric die Sorge darüber ansehen. Wir anderen hatten bis heute morgen immer wieder probiert, die Tür zu öffnen, aber der halbe Bunker schien zusammengefallen zu sein und die Tür hatte sich nicht bewegen lassen. Der Lärm
die Macht
des großen Crashs hatte uns auch eigentlich auch nichts anderes vermuten lassen können. Die Vorstellung darüber, wie viel Betonschrott die Tür tatsächlich versperrte, hatte mich bis in meine Träume verfolgt. Dadurch würden wir allein nie kommen.
Jesper und Jonte saßen in einer anderen Ecke und spielten Karten. Die hatte Jesper immer dabei. Es gab kaum etwas, das die Zeit vor einem Auftritt besser totschlug und sobald es um die Band ging, hatte er einen Satz in der Tasche. Das ging schon immer so und ich weiß nicht mehr, ob es jemals anders gewesen war. Die beiden schienen das Ganze anders zu verarbeiten als wir drei. Jonte hatte gestern auf seinem Amp gesessen und Bassläufe gespielt. Von unserem neuesten Song.
Cedric drehte sich um und ging in die Scheißhausecke.
Recht schnell war uns klar geworden, dass wir so etwas brauchen würden. Trotz unserer rationalisierten Essensvorräte mussten wir alle scheißen und pissen. Da Cosima die erste gewesen war, die einen akuten Drang verspürt hatte, hatten wir eine der Gardinen abgenommen und mit dem Tacker, mit dem wir die Plakate an der Wand befestigten eine Ecke abgegrenzt. Unsere persönliche und ganz private Scheißecke. Schon zu Beginn unseres Trips hatte ich Gott gedankt, dass der Mülleimer einen gut schließenden Deckel hatte. Der Gestank war immer noch erträglich – und man gewöhnt sich ja an fast alles. Das geht so schnell. Nach vielleicht zwei Tagen haben wir anderen, die gerade nicht die Ecke benutzen, bereits aufgehört, absichtlich übertönende Geräusche zu machen.
„Viel Spaß“, rief ich ihm hinterher und er hob im Gehen müde die Hand, bestätigte, dass er ihn haben würde. Ich erhob mich, ging zur Tür und lauschte. Die letzte Hoffnung, die ich hegte, war die, dass es da draußen noch andere Bands gab, die auch überlebt hatten. Von außerhalb unserer Welt konnten wir sicher keine Hilfe mehr erwarten; würde sich noch irgendwer um diesen Bunker scheren, wäre noch irgendwer da, so hätten wir es sicher vor einigen Tagen erfahren. Aber es war immer nur ruhig. Gestern hatten wir versucht, darüber zu reden, es aber bald gelassen, denn alle Gedankengänge waren lediglich frustrierend. Es war klar, dass nicht nur unser Bunker zusammengefallen war, denn in dem Fall wären irgend welche rot-weißen Rettungstrupps sicher längst zu uns vorgestoßen. Also war es umfassender gewesen. So unwahrscheinlich es für unser Land – das sich stets an die Mächtigsten gehalten hatte – auch war, irgend etwas Großes war vom Himmel gefallen und hatte alles ausgeblasen. Der schöne Sommertag, den ich noch von meiner Ankunft in Erinnerung hatte, sah heute sicher anders aus. War sicher grau. Sicher dunkel. Uns irgendwo sah ich vor meinem geistigen Auge den Pilz, der sich vor einigen Tagen über unserer Stadt erhoben haben musste. Besser nicht daran denken. Besser den schönen Tag in Erinnerung behalten. Die hellen Straßen. Die bunten Parks und das Gelächter. Und die vielen Frauen. Wie Cosima zum Beispiel.
Ich wandte mich von der Tür ab und sah zu ihr hinüber. Wie auch immer Cedric es geschafft hatte, sich diese Frau zu angeln – er hatte eines der besten Stücke erwischt. Natürlich trug sie genau die Sachen, die alle Frauen an jenem letzten schönen Tag getragen hatten. Dünner, blau-weiß karogemusterter Rock. Das Top eng, kurz und hellgrün mit einem blauen Schriftzug einer Band, die ich noch nie gehört hatte, von der sie aber oft erzählte. Sicher keinen BH. Ihr Haar war lang, war schwarz und glatt. Dazu ihre algengrünen Augen, die eigentlich immer groß und sprühend waren. Die letzten Tage hatten sie abstumpfen lassen, aber sie sahen immer noch schön aus. Mehr als einmal war Cosima das Bild gewesen, vor dem ich mich zu Hause mit mir beschäftigt hatte.
Cedric schob die Gardine zurück und kam wieder zu uns. Er ging an ihr vorbei und setzte sich hinter sein Drumset. Die letzten Tage über hatte ich mich ab und an gefragt, warum die beiden sich so selten in den Arm nahmen. Hätte ich gerade eine Freundin und wäre sie hier, ich würde mit ihr sicher den Trost teilen, den wir alle so dringend brauchten. Er schien sich mehr mit seinem Set zu trösten. Jedenfalls saß er mehr dort als bei ihr.
Ich ging zu Jesper und Jonte und griff in das Kartenspiel ein.
Erstes Solo:
Ich saß hinter meinem Drumset und beobachte Jesper, Jonte und Gerret beim Kartenspielen. Und mein steigendes Misstrauen wurde von Wehmut durchzogen. Ich erinnerte mich an den letzten Auftritt, ein absolut perfekter Abend. Wir hatten als Vorband für eine echt gute Gruppe aus den Staaten gespielt und bereits kurz nach dem kennen lernen hatten wir den Abend mit unserem Kartenspiel eingeläutet, den Amerikanern die Regeln erklärt und viel Spaß gehabt. Das Konzert war für alle ein Erfolg gewesen und danach waren wir zusammen durch die Straßen gezogen.
Wir waren doch eigentlich ein Team.
Am Montag hatte diese Amiband in unserer Stadt spielen sollen. Sie waren wahrscheinlich tot. Der Bunker war unsere Rettung gewesen, sie hatten sicherlich nicht viele Chancen im Schlachthof gehabt. Was auch immer passiert war, es war groß gewesen, daran zweifelte ich nicht weniger als jeder andere von uns hier.
Ein oder zwei Mal schon hatte ich mich gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn wir einen Proberaum gehabt hätten, der näher an der Außenwand gewesen wäre.
Ich wandte meinen Blick ab und sah zu Cosima. Sie saß in einer Ecke und spielte mit ihren Haaren.
Ich liebe es, wenn sie das macht. Das gibt ein wunderschönes Bild, ihre Lippen zusammengekniffen – aber nicht verkniffen, den Kopf leicht schräg, die Beine angezogen und ihre Knie treffen sich, während die Füße weit auseinander stehen. Dazu ihre Klamotten. Ich liebe ihre Art, sich zu kleiden. Sie versteht es, die Blicke anderer Männer auf sich zu ziehen - und der Gedanke, dass ich es war, der Abends zwischen ihren Schenkeln lag, gibt dem Ganzen den entscheidenden Touch. Der zweite Blick der anderen fällt nämlich immer auf denjenigen, der die Hand dieser Frau in der seinen hält. Und so bin ich immer Teil ihrer Schönheit gewesen.
Ich liebte sie. Und das war das Problem.
Alle in der Band lieben Frauen. Und Frauen lieben Bands. Ob so etwas dazu gehört, das kann ich nicht sagen. Bei uns war es so und wir hatten es stets ausgenutzt. Vor Cosima war ich auch selten nach Auftritten alleine im Bett gewesen. Es hatte irgendwann einen besonderen Reiz entwickelt, sich an alle die verschiedenen Schlafplätze zu erinnern und sie mit den Frauen in Verbindung zu bringen. Selten kamen mir dabei die Gesichter und Körper deutlich in den Sinn. Durch Cosima wurde das anders. Sie hat mich in kurzer Zeit geändert, mich auf sie fixiert. Das ist einer der Gründe, warum sie mein Leben war.
Und wir waren jetzt den vierten Tag im Bunker gefangen. Die Chancen auf ein Entkommen schätzte ich inzwischen als relativ niedrig ein. Abgesehen davon, dass ich ihr nicht das Gefühl, hier zu sterben, aufdrängen wollte, war ich mir nicht sicher, wie die drei anderen auf diese Situation reagieren würden. Sie waren nicht zu berechnen. Cosima war eine schöne Frau. Ich würde darauf achten müssen, dass niemand durchdrehte. Deswegen saß ich mehr am Schlagzeug und ließ sie in Ruhe. Die Beachtung durfte nicht auf sie fallen. Und ich musste meine körperlichen und geistigen Kräfte bewahren. Für den Notfall. Was sie zu verstehen hatte.
Ich trommelte einen einfachen Takt auf den Knien und ging mit den Augen über unsere Vorräte. Optimistisch geschätzt hatten wir für vielleicht noch zwei Tage zu Essen. Das Wasser mochte für noch einen oder zwei Tage länger genügen. Den Korn und die Cola hatte ich für das Ende gedacht. Wenn wir hier sterben sollten, dann würden die letzen Tage noch für die gute Party stehen, die ich mir für unser Ableben wünschte. Doch wir würden warten. Alkohol lässt Menschen zu leichtfertig gewisse Grenzen überschreiten, die von Freundschaften gezogen und in den ganzen alltäglichen, natürlichen Situationen auch akzeptiert werden. Aber wahrscheinlich würden die Probleme vorher anfangen. Denn meine drei Freunde, so gern ich sie auch mochte, waren sicher geistig nicht sehr stark und eher einfach gestrickt. Vor ihrem Ende wollten sie sicher noch eine Frau. Das war ihr – und zuvor auch mein – Leben.
Ohne darüber nachzudenken, war ich in den Takt unseres neuen Liedes übergegangen und beobachtete schweigend die Szene.
Eine weitere Nacht verging.
Zweite Strophe:
Das Essen war zur Neige gegangen.
Zwei weitere Tage vorbei und obwohl Cedric die Nahrung streng eingeteilt hatte – was er sicher auch von seinem Vater hatte – war der letzte Bissen heute gegessen worden. Es gab zwischen uns nicht mehr viel zu bereden. Jeder von uns ging anders mit dem Gedanken an das Ende um. Jesper und Jonte hatten sich auf das Kartenspiel fokussiert und bereits den ersten, handfesten Streit mit Cedric um unseren Cola- und Kornvorrat gehabt. Cedric und Cosima waren schweigsam. Cedric eher nachdenklich und in sich gekehrt, was mir Sorgen bereitete. Cosima sah ich Verzweiflung, Angst und Einsamkeit deutlich an und das tat mir irgendwie weh.
Am Anfang hatte das Kartenspiel auch mich noch von tieferen Gedanken abgelenkt, aber inzwischen erschien es mir doch nur noch als eine Farce, denn wir würden hier sterben. Alle fünf. Und mir waren es viel zu wenig Worte zwischen uns. Es gab viele Sachen, die ich gerne bereden würde. Wir alle waren zu jung zum Sterben, viel zu jung, um unter diesen Umständen aus dem Leben zu gehen. Ich hätte mit Autounfall, mit Krebs – denn Raucher waren wir alle – oder bei Jonte vielleicht mit einer zu unreinen Platte gerechnet, aber ein beschissen langsames Abtreten ohne auch nur irgend eine Krankheit oder Chance hatte bei mir eine unglaublich hohe Quote gehabt.
Ich saß an der Tür und dachte an meinen letzten Tag in der heilen Welt. An den Sonnenschein, den Alltag auf den Straßen, in den Bürogebäuden, an die Frauen auf meinem Weg in mein graues, von Bäumen umsäumtes Grab.
Von ihnen gab es jetzt nur noch eine in meinem, in unser aller Leben.
Wenn ich schlief, träumte ich inzwischen von Cosima und zuerst war mir unwohl dabei – obwohl es sehr schöne Träume waren. Aber jetzt, da die Vorräte leer und die Kommunikation schon beinahe vor uns gestorben war, da machten mir diese Träume immer weniger aus und ich dachte ernsthafter darüber nach, wie ich sie vielleicht doch noch einmal ficken könnte. Noch einmal, bevor sie, bevor ich und alle anderen nur noch totes Gewebe in einer von einem unermüdlichen Generator beleuchteten Gruft sein würden.
Doch was würde ich damit tun? Ich liebte Cedric, ich liebte Jonte und Jesper. Wir waren eine eingeschworene Gemeinschaft – schon seit über zwölf Jahren. Mehr als mein halbes Leben hatte ich mit diesen Dreien verbracht und schon mehr als acht Jahre machten wir zusammen Musik, hatten beinahe alles geteilt, was die Erfahrung eines Menschen wachsen lässt. Wir waren ein Team. Und Cosima gehörte zu Cedric. Aber sie war so allein. So verängstigt und allein und wir hatten nur diesen einen Raum. Hier würde alles passieren, alles, was noch vor unserm Tod passieren könnte. Vielleicht sollte ich abwarten, was genau.
Und es passierte einiges.
Zweites Solo:
Seit gestern hatten wir nichts mehr zu essen. Das Wasser war beinahe leer. Vielleicht noch bis morgen.
Gerret hielt ich für gefährlicher. Er hatte diesen seltsamen Blick drauf. Er sah Cosima zu oft auf diese Art an. Das gefiel mir nicht.
Gerret war wirklich heiß auf meine Freundin.
Ich hatte gewusst, es würde soweit kommen. Deswegen verstand ich, dass Jesper und Jonte den ersten Aufstand anzettelten. Gerret agierte aus dem Hintergrund. Die beiden anderen waren deutlicher in dem, was sie wollten. Logisch, dass sie zuerst darauf aus waren, den Korn an den Start zu bringen. Uns alle in gute Stimmung zu bringen.
Und dann einen gemeinsamen Cosima-Fick hinzulegen.
Wir alle hatten sie vorher gekannt, denn sie war mit Jesper in einer Abschlussklasse gewesen; wir alle hatten gewusst, dass sie gerne und erfolgreich lebte. Ich kann mir die Einstellung der drei zu ihr gut vorstellen. Noch damals, als ich gerade mit ihr zusammen war und eine Party in ihrer WG anstand, da hatte Jonte noch gesagt: „Auf zu der Party von der Schlampe!“ Er hatte es sicher nicht böse gemeint und sich gleich darauf bei mir entschuldigt, aber es war etwas geblieben.
Der Streit war das erste Anzeichen für das gewesen, was mit Sicherheit folgen würde und die beiden gaben nicht auf. Ich hatte sie zurückdrängen müssen und dann war Gerret dazu gekommen. Er hatte seine Chance erkannt. Er hatte gewusst, wenn sie zu dem Zeitpunkt die Oberhand bekommen würden, dann könnte er seinen dreckigen, seinen kleinen Schwanz in meine Frau stecken. Und Jesper und Jonte würden mich halten, würden mich zwingen, dabei zuzusehen, mich halten, sich mit Gerret abwechseln und ihre hässlichen Dinger hinterher schieben.
Ich hatte es geschafft, sie verbal zu stoppen. Sie im Zaum zu halten. Aber wie lange noch? Ich allein wäre zu schwach gegen drei. Wie sollte ich Cosimas beschützen können, wenn diese drei Wichser ausrasten würden?
Nach dem Streit saß ich hinter meinem Set, einen Takt auf den Knien; die anderen saßen in einer Ecke und Cosima nicht weit davon entfernt. Ich machte mir Sorgen. Sah das Schlimmste kommen. Die Party zum Ende würde doch hässlich werden. Wie mir das Sorgen bereitete.
Eine Nacht schlief ich darüber.
Dann war ich mir klar, dass mein bisheriger Weg der falsche gewesen war. Cosima war der Weg, ihr musste ich klarmachen, dass wir alleine gegen drei waren. Dass ich sie vernachlässigt hatte – wenn auch nur, um sie zu schützen – und das es nur einen Weg gab, um in Frieden zu sterben. Wir beide allein.
Denn sie ist mein.
Intermezzo:
Am Morgen nach dem Streit rastete Cedric aus. Und es kam hart.
Refrain, dissonant:
Erster Takt:
Cedric steht auf, geht auf Cosima zu, greift ihren Arm und versucht, sie hinter den Vorhang zur Toilette zu zerren. Cosima wehrt sich, mit weit aufgerissenen Augen starrt sie ihn an, gerade aus einem der beruhigenden Träume gerissen; Cedric redet von zweien gegen drei und von einem Aufstand der Wichser. Mit einer Hand öffnet er seine Hose und spricht von Vereinigung, von Reinheit, von Mord und Frieden danach.
Zweiter Takt:
Jesper, Jonte und Gerret wachen auf. Cosimas’ zutiefst erschrockene Rufe hallen durch den Raum.
Gerret sieht alles ganz langsam geschehen, nimmt die Einzelheiten des Raumes wahr: Den von Poren durchzogenen Beton der Wände, das Flackern der Neonröhre und die tanzenden Schatten; die malmenen Zähne Cedrics, während er seine Freundin an ihrem Top hinter den Vorhang zerrt und sich der Stoff über ihren Körper spannt; Gerret sieht Cosimas’ Brustwarzen, die sich unter dem psychischen Druck aufrichten und sein Blut konzentriert sich auf seinen Penis – ab da hält er sich zurück und verbleibt in der Rolle des Betrachters.
Jesper und Jonte sind gereizt, weil sie Cedric seit dem gestrigen Streit um den Korn doch vermehrt negativ gegenüberstehen. Sie denken weniger an Cosimas’ Brüste, eher an den Alkohol. Da auch diese beiden begriffen haben, dass sie in diesem Raums sterben werden, wollen sie die letzten Tage genießen – so gut es eben geht. Ohne sich ihr Sterben vorschreiben zu lassen. Sie halten Cedric an den Armen fest und erheben die Fäuste. Er brüllt indes auf Cosima ein, sieht die Sache aus dem Rahmen laufen, versucht nach Jonte zu schlagen und trifft Cosima, die sich in diesem Moment aus seiner Umklammerung befreit und nach dem erstbesten greift, dass sie finden kann.
Dritter Takt:
Cosimas’ Hände erfassen Jontes’ Bass und sie rammt das Ding frontal gegen Cedrics Schläfe. Cedric vergisst seine Theorien im Allgemeinen, vergisst Cosima und den Aufstand der Wichser im Besonderen und fällt.
Vierter Takt:
Jesper, Jonte, Gerret und Cosima starren auf Cedrics Körper; Cosima lässt den Bass fallen. Für einige Momente sind alle ruhig und man hört nur Cosimas’ schweren Atem. Dann Gerrets’ Stimme.
Bridge:
„Cedric?“
Seine eigene Stimme klang ihm seltsam fremd in den Ohren und schien sich hier in diesem Raum zu verlieren. Wie sie alle. Offensichtlich.
„Er atmet nicht mehr. Oder?“
Cosima lehnte sich zitternd an die Wand. Ihre Haut schien ihm fahl in dem flackernden Licht, doch hob sie sich bezaubernd von dem Rest der Welt ab, der nur noch grau und nichtsagend daher kam. Ihre Nippel waren immer noch hart.
„Ist nun mal halt so.“ Jonte war der erste, der mit dem Ende weiter machte. Er zog Jesper mit sich und gemeinsam öffneten sie die erste Kornflasche.
Ab hier war der Handel abgemacht. Die beiden hatten ihre Welt – eine, die er auch gewählt hätte, wenn nicht Cosima gewesen wäre.
Dritte Strophe:
Es war soweit. Endlich.
Cosima lag in meinen Armen. Ich betrachtete sie mit müder Verwunderung - erstaunlich, wie dünn und krankhaft man werden kann, bevor der Körper endgültig aufgibt.
Mühsam hob ich einen von ihnen
nur beinahe noch Teil von mir
und strich ihr durch das schwarze Haar. Sie lächelte.
Und starrte weiter in die Ferne.
Ich suchte den Punkt an der Wand, den sie für sich genommen hatte. Natürlich war da nicht mehr als Wand. Und so wandte sich mein Blick ab und geisterte auf einem schattenhaften Weg noch einmal durch diesen Raum.
Das Schlagzeug, in der Ecke aufgetürmt.
Mit vereinten Kräften hatten wir Cedrics Körper am Tag seines Todes in die entfernteste Ecke geschafft, ihn mit einem Vorhang bedeckt und unter den einzelnen Bestandteilen seines Schlagzeuges versteckt. Für die verbleibende Zeit sollte er von uns abgegrenzt sein. Sein Verwesungsgestank war natürlich darunter hervorgekommen und hatte sich mit dem restlichen Gestank eingeschlossener Menschen vermischt. Wir hatten es akzeptiert und einige Male Galle gekotzt. Das war im Prinzip das, was uns Cedric an Erinnerungen hier gelassen hatte.
Mein Blick schlich weiter und tastete sich über die Körper von Jesper und Jonte. Sie hatten sich die Ecke bei den Alkoholvorräten zum Sterben gewählt und ich wusste, sie beide waren damit zufrieden gewesen. Jesper war zuerst gestorben. Jonte hatte noch einige Zeit Patiencen gelegt und sich dann irgendwann dazu gelegt. Da ich wusste, dass es für sie okay gewesen war, war es auch für mich in Ordnung und ich hatte einfach ein gutes Gefühl in meinem Bauch, wenn ich an sie dachte. Auch hatten sie immerhin noch nicht begonnen zu verwesen.
Cosima und ich hatten uns in einer anderen Ecke den gesamten Rest an Vorhängen zu einem kleinen Lager zurecht gemacht und waren von hier nur noch selten gewichen. Da wir alle vier mit unserem jeweiligen Schicksal einverstanden gewesen waren, hatte es keinen von uns gestört, dass wir beide hier so oft wie möglich gevögelt hatten. Solange die Kraft noch reichte. Dass wir miteinander geredet und uns gegenseitig ruhig in den Arm genommen hatten. Solange wir noch Menschen waren.
Ich kann es schlecht beschreiben, aber Cedrics Ausrasten und sein folgerichtiger Tod hatten uns anderen die Ruhe gegeben, so sterben zu können. Obwohl wir so langsam darbten und dabei, einer nach dem anderen den noch Lebenden den Tod vorstellten, obwohl es in diesem Raum so ekelerregend stank und wir in der Gewissheit starben, dass es so einen Sommer, wie ich ihn in Erinnerung hatte, nie wieder geben würde, hatte ich die Gewissheit, dass wir alle ungefähr so auch immer hatten sterben wollen.
Refrain, einstimmig:
Cosima hörte auf zu atmen. Sie starrte weiter die Wand an.
Ich nahm ihren Kopf sanft von meinem Arm, legte mich vollständig hin und umarmte ihren Körper. Dann schloss ich die Augen.
Wohin auch immer, ich hatte das tiefe Gefühl, dass ich diese drei, die mit mir überlebt hatten, dort wiedersehen würde.
Outro:
Vor dem Raum mit den fünf Leichen lagen Berge von Beton. Ein Durchkommen wäre nie möglich gewesen.
Von dem Bunker standen nur noch Reste. Von den umliegenden Gebäuden noch weniger. Ebenso die Stadt. Und es lag alles in all den weiteren Dimensionen brach.
Leer und tot.
Wer zufrieden gestorben war, konnte glücklich sein.