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Das Ende ist kurz; ist farblos.
Phillip stolperte auf der letzten Treppenstufe, fing sich am Geländer ab, und hastete weiter. Als er einen flüchtigen Blick in den Wandspiegel warf, stellte er fest, dass seine Krawatte nicht richtig saß.
"Rückst du sie mir kurz zurecht?"
Janine stellte die Pfanne auf eine kalte Platte, die Eier hörten zu brutzeln auf.
"Papa geht mit mir heute Nachmittag ins Kino", rief Felix vom Küchentisch aus.
"Dein Vater hat heute viel zu tun", gab Janine zurück, während sie den Knoten lockerte und ihn neu zusammenband.
"Stimmt doch Schatz, oder?"
"Aber er hat es versprochen."
Phillip holte die kleine Plastikfigur hinter seinem Rücken hervor, die einen Anime Krieger darstellte, und warf sie seinem Sohn zu.
"Hier Großer, habe ich dir gestern gekauft. Ich weiß wirklich noch nicht, ob es mit dem Kino heute klappt. Sonst gehen wir morgen, versprochen."
"Aber es ist Samstag. Warum musst du Samstags arbeiten gehen?"
"Dein Vater wird vielleicht befördert", antwortete Janine für ihn. Die Gereiztheit in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
"Hör zu Schatz, es ist wirklich nicht nötig, dass du..."
"Halt still, sonst wird das nichts mit der Krawatte."
Felix schmiss die Figur auf die Tischdecke und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Aber ich will heute ins Kino. Du hast es versprochen."
Janine ließ von der Krawatte ab und stellte die Pfanne auf die Herdplatte zurück.
"Hör auf zu quengeln, und schau lieber nach, wo deine Schwester solange bleibt", sagte sie.
"Die kommt schon gleich. Außerdem bist du nicht meine Mutter!"
Phillip drehte sich zum Tisch um.
"Felix! Ich will das nicht hören!"
"Ist doch wahr."
"Janine gibt sich soviel Mühe mit dir. Du wirst ihr gefälligst mehr Respekt entgegenbringen."
"Du kannst mich mal, und Janine kann mich auch!"
"Wie war das, junger Mann? Weißt du was, das Kino ist gestorben. Für diese Woche und für nächste Woche auch. Und jetzt entschuldige dich bei ihr."
"Ihr seid alle bescheuert!"
Tränen liefen an den Wangen des Jungen herab. Er stand auf und rannte aus der Küche.
Janine stellte den Herd aus.
"Schöner Morgen. Willst du frühstücken?"
Phillip sah erst zum Tisch, auf dem die umgekippte Figur lag, und dann zu Janine, die ihn aus dunklen Augen heraus ansah.
"Das ist nicht fair. Du weißt, wie wichtig die kommenden Tage für mich sind. Wir haben diese neue Chemikalie, und..."
Mit einem Scheppern landete die Pfanne auf dem Boden. Gebratene Eier und Schinkenwürfel verteilten sich auf den weißen Kacheln, wo sie ein seltsames Bild formten.
"Ach hör doch auf! Seit einem halben Jahr ist dir jeder Tag wichtiger als deine Kinder, wichtiger als ich. Du hast es Felix versprochen, da brauchst du ihm keine dummen Figuren zu schenken, oder soll er noch mehr vor dem Fernseher hängen, mit diesen hirnverbrannten Mangas?"
"Meine Mangas sind nicht hirnverbrannt", kam es von der Treppe.
"Da hast du es. Jetzt ist er den ganzen Tag schlecht gelaunt, und ich muss ihn trösten, während du im Werk den Arsch vom Chef leckst."
Phillip tat einen Schritt zurück, unentschlossen trat er von einem Bein auf das andere.
"Sag mal spinnst du, hier eine solche Szene zu machen?", fragte er schließlich.
Janine ging zum Schrank, und holte das Kehrblech heraus.
"Sorry, ich werde keine Szenen mehr machen. Gehe du arbeiten. Ich fahre mit den Kindern ins Kino."
"Der Film ist ab 12, da kommt Alissa nicht rein."
"Dann gehen wir eben in einen anderen Film."
"Felix will aber in diesen..."
"Dann machen wir halt was anderes. Kann dir doch egal sein, großer Mann. Du musst ja wieder einmal arbeiten."
Phillip ging mit lauten Schritten aus der Küche. Janine spürte, wie ihr die Tränen kamen. Aus dem Eingangsraum hörte sie Alissas Stimme.
"Was ist denn los? Streitet ihr euch?", wollte das Mädchen wissen.
Janine legte das Blech beiseite und verließ ebenfalls die Küche.
"Hey...kleine Prinzessin. Wir wollten gar nicht laut sein. Alles okay."
"Was war denn das für ein Knall?"
"Janine hat die Pfanne fallen lassen", sagte Phillip und erntete dafür einen bösen Blick von seiner Verlobten.
"Ich habe nicht aufgepasst. Tut mir Leid, wenn du dich erschrocken hast. Alles wieder gut jetzt?"
Das Gesicht des Mädchens hellte sich auf. Dann lächelte sie.
"Aber nur, wenn ihr mir versprecht, euch nicht zu streiten."
Janine hielt sich die Hand vor den Mund und spreizte den Zeigefinger ab. Das geheime Zeichen zwischen ihr und Alissa.
"Ganz doll versprochen. Kein Streit."
Das Mädchen kam die Treppe hinunter und legte ihre kurzen Arme um Janines Hüfte.
"Ich habe dich lieb", sagte sie.
"Ich habe dich auch lieb."
Janine spürte Phillips Atem im Nacken. Er legte eine Hand auf ihre rechte Schulter und massierte sie. Es wäre unvernünftig gewesen, wenn sie weiterhin offen ihre Wut auf ihn zur Schau gestellt hätte. Auch wegen Alissa. Das Kind, das sie in ihrem Innersten immer gesucht hatte. Das Mädchen gleichzeitig, das bei ihrer Mutter so vieles hatte durchmachen müssen. Obwohl Janine noch sauer war, legte sie soviel Verständnis in ihre Stimme, wie es ihr möglich war.
"Versuche bitte, nicht zu spät zu kommen."
Phillip drehte sie vorsichtig zu sich.
"Nur die Konferenz, dann fahre ich los. Versprochen."
Er gab ihr einen Kuss auf die Lippen.
"Bis nachher. Ruf´ mich kurz an, wenn du fertig bist, ja?"
"Werde ich. Bis nachher mein Schatz. Bis nachher Prinzessin."
Mit diesen Worten und einem Winken, das an Alissa gerichtet war, verließ Phillip das Haus.
Janine atmete tief ein und schluckte angestrengt.
"Was ist, hilfst du mir in der Küche beim saubermachen?", fragte sie dann.
Alissa verschränkte die Arme in den Seiten.
"Was zahlen Sie denn, Frau Janine?", wollte sie mit gespielter Empörung wissen.
"Hmmm...wonach verlangt es die Prinzessin denn?"
"Och...da fällt mir sicher noch was ein."
Janine lachte.
"Na, da bin ich aber mal gespannt."
***
Ein merkwürdiges Gefühl ließ Janine aus ihrem Traum erwachen.
Für einen kurzen Augenblick musste sie sich orientieren. Sie lag auf der Couch. Der Fernseher lief noch.
Als sie die Küche sauber gemacht hatten, war sie mit Alissa in den Keller gegangen, um das Vanilleeis aus dem Froster zu holen. Auch Felix war schließlich ins Wohnzimmer gekommen, nachdem sie lange auf ihn eingeredet hatte. Später war ihm sogar eine Entschuldigung über die Lippen gekommen. Keine Selbstverständlichkeit. Der Junge war ganz schön aus der Bahn geraten, seit seine Mutter nicht mehr da war, dachte Janine. Dabei war sie ein solches Miststück gewesen. Vielleicht machten Kinder da keinen Unterschied, dachte sie weiter. Ihre Kehle schnürte sich zu, als sie sich vergegenwärtigte, wie schwer es für sie war, sein Vertrauen zu erlangen. Beinahe wie in einer billigen Seifenoper. Der Junge hing an seiner Mutter. Das musste sie akzeptieren.
Janine rieb sich die Müdigkeit aus den Augen und sah auf die Uhr.
Kurz nach halb fünf.
"Dieser Mistkerl", sagte sie halblaut, und vergewisserte sich dann trotzdem, dass sie alleine im Wohnzimmer war.
Sie stand von der Couch auf und sah aus dem Fenster. Die Straße war leer. In einiger Distanz sah sie das Haus der Müllers. Die Tür stand offen und ein Fahrrad lag auf dem Bürgersteig. Bei den wenigen Nachbarn, die sie hier hatten, machte sich niemand Gedanken wegen Diebstählen oder Einbrüchen. Fast alle, die in der Siedlung wohnten, arbeiteten im Werk, und in dieser Straße lebten nur die besser verdienenden Angestellten.
Ihr Traum kam ihr wieder in den Sinn. Wirre Bilderfetzen, ohne erkennbaren Zusammenhang, von bizarrer Musik begleitet, einem wehmütigen Orchester, den verloreren Klang einer weit entfernten Trompete vor sich hertreibend, die plötzlich an Höhe gewann und von dumpfen Trommelschlägen begleitet, in Sphären ungeahnter Traurigkeit emporschwebte. Wie ein sterbender Engel, der durch Gewitterwolken fällt.
Dennoch war etwas Besonderes an ihm gewesen. In dem Moment des Aufwachens viel mehr. Als wenn das Zimmer vibriert hätte. Ein dunkler, abartiger Bass stacheligen Naturwuchses.
Janine ging in die Küche und drehte den Wasserhahn auf, da sich ihre Zunge von dem Eis pelzig anfühlte. Bevor sie trank, schmatzte sie ein paar Mal. Ihr war, als klänge das süße Aroma wilder Erdbeeren in ihrem Mund nach. Fruchtig, aber auch irgendwie bitter, als wenn sie erst in eine glänzende, tiefrote Beere, und anschließend in einen fauligen Matsch gebissen hätte. Von der Vanilleblüte keine Erinnerung mehr am trockenen Gaumen. Nur ein Garten bösartiger, vor Verlockung strotzender Erdbeeren, die sich wetteifernd und grell duftend in ihren Nuancen des Genusses und des Ekels die Waage hielten, um schließlich explodierend zu vergehen, eine fade Erinnerung zurücklassend, die nur auf jenen Geschmack zu deuten ist, der sich einem im Traum offenbaren kann, wenn das Gehirn spielt mit den Eindrücken, die es kennt, Bitteres mischt mit Süßem, und Salz plötzlich ein herzhaftes Stück Fleisch ohne Konsistenz ist.
Sie würgte. Dann übergab sie sich in das Waschbecken.
Erst als sich ihr Magen beruhigt hatte, bemerkte sie die Veränderung. Der Himmel war von einem Blau, das sie nie gesehen hatte. Wie geblasener Schaum verzogen sich die Wolken, ehe sie sich auflösten und dabei Kringel bildeten aus gräulicher Watte, die gigantischen Seifenblasen ähnlich waren, aber nicht platzten, sondern immer größer wurden.
Panik überkam Janine.
Sie schaltete das Radio ein.
Kurz noch hörte sie den dramatischen Ausklang von "Clocks", ihrem Lieblingssong von Coldplay. Die letzten Sekunden wurden von einer hämmernden Melodie des Senders unterbrochen, in die sich eine Frauenstimme mischte.
"Radio 88, 5. Programmunterbrechung.
Wir möchten alle lokal ansässigen Bewohner darum bitten, die Ruhe zu bewahren. Zu der Explosion, die sich vor wenigen Minuten im Chemiewerk ereignet hat, liegen uns bislang keine konkreten Informationen vor. Unser Chefredakteur Walter Grundselt telefoniert in diesem Moment mit dem Zuständigen des technischen Hilfswerks in München. Leider gibt es augenblicklich keinerlei Informationen über den Zwischenfall. Was wir wissen ist, dass sich eine pilzförmige Explosionswolke nahe der Gemeinde Vordersackerwelde in den Himmel streckt. Zu der Fabrik selbst besteht kein Kontakt. Wir möchten Sie darum bitten..."
"Janine?"
Alissa stand unter dem Türrahmen.
Schnell schaltete Janine das Radio aus.
"Hey meine Süße", flüsterte sie mit zitternder Stimme.
"Das Zimmer hat gewackelt. Backst du Erdbeerkuchen?"
Janine begann zu zittern. Ohne, dass sie sich dagegen wehren konnte, drangen die Worte in ihr Bewusstsein.
...es ist so unglaublich...wir melden gerade das Patent an...für die ESA...du wirst es kaum glauben, aber es riecht irgendwie fruchtig, obwohl es mit das gefährlichste Zeug auf der Welt ist...bin ich vielleicht bald in der Chefetage...Tank 3 macht Probleme...Sicherheitsvorschriften auf jedenfall bis Ende Juli anpassen...bald bin ich ein gemachter Mann...
Die Sirenen heulten los. Ein markerschüttender, mechanischer Schrei. Die Küche wackelte, dann donnerte es. Draußen wurde es dunkel. Gewitterwolken zogen auf. Janine wusste, dass es keine Gewitterwolken waren.
"Komm mal her, meine Prinzessin."
"Was ist denn los? Warum gehen die Sirenen los?"
"Du musst jetzt tapfer sein."
Auf ihrer Haut kribbelte es.
"Spürst du die Ameisen auch?"
"Ja, sie suchen sich ein neues zu Hause."
...macht anfangs euphorisch, wegen den Nervenblockern, um es für den Laien verständlich auszudrücken...Mann, wenn die nicht bald die neue Leitung verlegen, komme ich in ernste Bedrängnis...
"Wo ist denn dein Bruder?"
"Ich weiß nicht. Warum kribbelt das so? Gehen wir ins Kino?"
"Werden wir bald."
Blasen bildeten sich auf der Haut, fingen zu jucken an.
Dann verstummten die Sirenen plötzlich. Wieder wackelte die Küche.
Ein dumpfer, hohler Gedanke kam Janine, der auf keine emotionale Resonanz stieß: Jetzt gibt es das Werk nicht mehr. Jetzt gibt es uns nicht mehr.
Das Licht draußen wurde greller, legte sich auf den Geschmack, ließ die Poren der Haut tanzen, jede einzelne für sich selbst, einem Walzer erlegen, vor dem sich die Organe hinknieten, und den Atem anhielten.
"Immer habe ich eine Tochter wie dich gesucht. Ich habe dich lieb."
Das Herz applaudierte als letztes, ehe es sich erschöpft der Melodie der Erdbeeren hingab.
Stille.