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Das Ende kann warten
Der Sommer neigt sich dem Ende zu. Wie trivial ihm der Gedanke durch den Kopf flattert. Mehrmals, als müsse sein Gehirn ihn erst einfangen. Die Blätter an den Bäumen hatten sich durch die Trockenheit frühzeitig verfärbt, waren abgefallen und machten sich unter seinen Tritten bemerkbar.
Im Sand des Weges sind nur seine Fußspuren vergangener Tage sichtbar – ab und zu gekreuzt von einem Fuchs oder mehreren Paarhufern.
Als er die Bank erreicht, weht eine sanfte Böe dünne Haarsträhnen in sein bärtiges Gesicht. Unten am Hang ragen verkohlte Mauerreste aus dem falben Gras. Wie faule Zähne in einem gespenstisch stillen, aufgerissenem Maul. Selbst der Geruch erinnert ihn an dieses Bild.
Der Blackout kam auf leisen Sohlen. Auch wenn Stimmen davor gewarnt hatten – Politiker beteuerten Zuversicht und Jochen las in ihren Augen die Scheinheiligkeit. Längst standen gepanzerte Fahrzeuge und Flieger bereit, um sie aus dem Pulverfass zu katapultieren, sollte die Lunte Feuer fangen. Sogenannte Volksverräter - das Gesocks der Straße - schrien verfängliche Behauptungen. Keine der Parolen zogen Jochen auf eine Seite. Er sah hinter jedem die unvorstellbare Litanei an Argumenten. Horchte er in sich, dann war da das Ende des Sommers gekommen. Für ihn, für die Jahreszeit, für die Gesellschaft, für das Land, ja, sogar für die Erde. Bei Letzterem war er sich nicht ganz sicher und insgeheim wünschte er ihr Glück. Möge sie sich erholen von der Bestie, die im Begriff war, ihre Kinder zu töten.
Am Horizont schimmert das Blau eines Sees, in dessen Mitte der dunkle Fleck einer Insel thront. Zwei dünne Rauchsäulen kräuseln sich empor, leicht geneigt durch den Wind aus Nordost. Schon vor Tagen hatte Jochen sie bemerkt. Anscheinend hatten die Menschen dort keine Angst davor, gesehen zu werden. Oder sie hatten eine Lösung gefunden, um sich sicher zu fühlen vor den marodierenden Banden. Zwei Tage, nach dem kein Strom auch nur die Anzeichen machte, den Alltag wieder in seine Bahnen zu lenken, geriet sich der Pöbel unkontrolliert in die Haare. Jochen floh in den ersten Tagen schon mit seinem Campingbus in ein entlegenes Tal voller Dornhecken, gefallener Bäume und sumpfigem Boden. Umschlossen von haushohen Felswänden, über die schwer in das Tal einzusteigen war. Für zwei Wochen hatte er vorgesorgt. Schüttelbrot, Bergkäse und fermentiertes Gemüse. Zweihundert Liter Wasser. Trockenobst, Nüsse, eine Plane in Tarnfarbe, über den Bus geworfen. Stille. Keine Waffen. Wenn es soweit käme – auch sein Sommer neigte sich dem Ende zu. Dann wäre es eben so.
Es ist nicht leicht, in einem Kasten zu überleben, der angefüllt ist mit den Errungenschaften einer Zivilisation, die da draußen gerade ihren steilen Abstieg feiert. Er liest aufmerksam das Buch, in dem der Nutzen aller heimischen Kräuter und Früchte eine Rückkehr zur Natur preisen. Aber seine Aufmerksamkeit huscht immer wieder durch die Scheibe nach draußen. Meisen feixen im Unterholz, ein Specht lacht und schlägt anschließend seinen Schnabel in den Stamm einer toten Fichte. Angst ist eine Illusion deines Geistes, sagt er sich immer wieder. Vorsicht die Einschätzung einer gefährlich anmutenden Situation. Alle diese Sätze eines Wissens geistern durch seinen Kopf. Dieses Wissen kommt in den letzten Jahren zu ihm wie eine Infektion, die ihn durchseucht und der er auch keinen Widerstand entgegensetzen will. Oder kann? Freunde entfernten sich in rasender Eile, unaufhaltsam drangen neue Bekannte in sein Umfeld, alle Beziehungen trudelten wie durch eine Sanduhr. Jene, die nicht durch sein geistiges Nadelöhr fanden wurden aussortiert. War es Bestimmung oder Zufall oder Schicksal? Wenn er der Gestalter seiner Welt war, wie konnte die Welt dann so rasch ihr gesamtes Bild in einer so drastischen Form verändern?
Langsam setzt er sich auf die Bank. Gestiftet von Familie Nothelfer im Jahre 2018. Lackiertes Aluminium. Vor ihm im Sand frische Spuren. Kleine Schuhgröße. Feste Sohle, ausgeprägtes Profil. Er spürt den Blick in seinem Nacken, es ist zu spät, um aufzuspringen, um wegzulaufen. Er hört, wie das trockene Gras unter dem Tritt sich nähernder Schritte knistert.
Kleine Schuhe – Kind oder Frau.
„Bleib, wo du bist und ich tu dir nichts“, leise, nur für ihn hörbar. Ihre Schritte verebben hinter ihm.
„Ich hab den Wagen gefunden. Deiner?“
„Ja“, krächzt Jochen, räuspert sich, wiederholt. „Ja, ist meiner.“
„Ich hab nichts weg genommen, aber ich brauche Wasser“, stößt sie ruckartig hervor. „Hast Du auch Medikamente? Aspirin? Ich hab böses Kopfweh.“
„Bist du bewaffnet?“
„Ja“, haucht sie. „Ich will keinen Ärger, verstehst Du? Ist nur für den Notfall, falls – falls einer dumm tut.“
Jochen richtet sich auf, dreht sich langsam um. Versucht zu lächeln. Ihre linke Gesichtshälfte ist bedeckt mit verkrustetem Blut, das Auge bläulich unterlaufen, auch aus der Nase muss Blut getreten sein, unbeholfen verwischt bis über die rechte Wange. In ihrer Hand eine P8, bekannt aus unzähligen Krimis. Schnee von gestern.
„Jochen“, er nickt ihr zu und schätzt sie auf keine zwanzig. Ihre Haare sind auf Streichholzlänge gekürzt. Jeans, Hoodie, Parker, Rucksack, Panama Jack an den Füßen. Sie muss darauf vorbereitet gewesen sein. Nur nicht auf die Verletzung.
„Berrit“, antwortet sie. „Waren die da drüben“, zeigt mit der Pistole in Richtung der Insel, der Rauchsäulen. Ohne weiter den Angriff zu erläutern.
„Lass uns gehen – hab keine Angst vor mir, ich hab auch keine Waffen“, wieder lächelt Jochen und schmerzhaft denkt er an seine Tochter. Eigentlich war sie nur die Tochter seiner Partnerin, mit der er sieben Jahre verbracht und die er wie sein eigenes Kind ins Herz geschlossen hatte. Wie eine eigene Tochter. Bis sie mit ihrer Volljährigkeit aus seinem Leben verschwand, um in Spanien in einem unbesiedelten Dorf mit anderen Jugendlichen eine neue Gesellschaftsform zu üben. Drei Monate später folgte ihre Mutter ihr nach. Jochen blieb allein zurück; warum, dafür fand er bis heute keine Antwort.
Unrhythmisch tropft es von den Bäumen auf das Dach des Wagens, eine Spinne schmiegt sich in den oberen Rand des Fensters. Berrit schläft, in seine Decke gewickelt. Nur ihre dunklen Haare sind sichtbar. Drei Tage hat es gedauert, bis sie ihm soweit Vertrauen entgegen brachte, um zu schlafen, während er wachte. Jochen liest, sieht aus dem Fenster und lauscht den Geräuschen draußen; ihrem hörbaren Atem.
Sie hatte kein Wasser und wollte dort auf der Halbinsel welches stehlen. Sie war froh zu entkommen, nachdem sie erwischt worden war. Ohne Wasser, aber mit einer Verletzung, die sie sich im Kampf zugezogen hatte. Glimpflich – so nannte Jochen die geplatzte Beule am Kopf.
„Was liest Du?“ Berrit hält die Bettdecke mit beiden Fäusten umklammert unter ihrem Kinn. Ihre Stimme klingt verschlafen, ihre Augen glänzen wie zwei kleine Kastanien.
„Essbare Kräuter." Jochen hält das geöffnete Buch in ihre Richtung. „In der Hoffnung, auf meine alten Tage noch etwas zu lernen und – sollte ich diesen Winter und die Härte überleben – um im Frühling etwas Essbares zu finden.“ Jochen seufzt, lässt resigniert das Kinn auf die Stuhllehne sinken, sieht sie an und wünscht sich Jahre jünger. Mit ihr, aber wohin. Mein Alter macht mich verrostet für die Zukunft. Dabei dachte ich immer, das Jetzt sei ausschlaggebend und nicht die Illusion an Gestern und Morgen. Ha, platzt es durch seine Gedanken. Der alte Mann und seine Tochter, deren Zukunft er versemmelt hat. Nicht er allein, aber auch nicht ohne ihn. Wir haben die Erde verbraucht und nicht gebraucht. Nachhaltigkeit war ein Zauberwort. Think-Tanks, NGOs, Greenwashing und all die Methoden des Neoliberalismus poltern schwerfällig wie Steinlawinen durch seine Gedanken. Kreiseln, finden keinen Ausgang und immer wieder sieht er nur das Ende.
Berrit hat sich angezogen.
„Wo willst Du hin bei dem Sauwetter?“
Sie schweigt, lässt sich Zeit mit ihrem Parker. Jochen versteht.
Als sie die Pistole auf ihn richtet entgeht ihm nicht, wie ihre Hand zittert.
„Ich hab gestern Sachen in den Rucksack gepackt. Den kannst Du haben. Ich nehme auch den Wagen. Geh jetzt – bitte.“
Langsam kommt sie näher. Jochen erhebt sich nicht, legt das Buch aufgeschlagen auf den kleinen Ausklapptisch. Schaut vor sich auf den Boden.
„Zwing mich nicht“, haucht Berrit, schnieft die Nase hoch.
„Du weißt doch, dass es nicht für uns beide reicht. Es reicht nicht einmal für einen den Winter über." Sie steht jetzt an seiner Seite, die P8 keine Armlänge entfernt von seinem Kopf.
Jochen seufzt und plötzlich ist ihm zu weinen zumute. Wie er das Ende erleben würde war ihm völlig schleierhaft, aber dass ein Mädchen – er lässt den Gedanken los. Langsam steht er auf, sieht ihr in die Augen. Berrit erwidert seinen Blick – so stehen sie eine Weile, das Tropfen auf dem Dach hat nachgelassen.
Als sie sich umarmen, fällt die Pistole mit einem lauten Scheppern unter das Regal.