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Das Ende
Die Erde dreht sich um die Sonne, und der Mond dreht sich um die Erde. Steine fallen nach unten. Grüne Pflanzen betreiben Photosynthese, Blumen blühen, Wasser gefriert bei null Grad Celsius und Schnee fällt vorwiegend im Winter. Daran besteht kein Zweifel. Ebenso klar war es für den Helden dieser Geschichte, dass er in den folgenden Jahrzehnten langsam aber stetig aufsteigen würde: sicherlich zum Amtsdirektor, vielleicht sogar zum Sektionschef. Aber das Schicksal hatte etwas anderes für ihn vorgesehen, etwas, das nicht minder bedeutend war.
Wie es dem Charakter unserer Zeit und seinen bisherigen Lebensgewohnheiten entsprach, erfuhr er von seiner unmittelbar bevorstehenden Vernichtung aus der Morgenzeitung, nachdem er flüchtig zur Kenntnis genommen hatte, wie sehr der Schaum in einer frisch gebrühten Tasse Kaffee den Spiralarmen unserer Galaxis ähnelt. Das eine spielt keine Rolle im Vergleich zum anderen, oder? So kommt es uns vor, weil wir gelernt haben, die Welt nach unseren liebgewordenen Vorstellungen zu ordnen, und wichtiges von unwichtigem zu trennen...
Der Mensch, den wir in einigen Momenten aus den letzten Tagen seines bedeutenden Lebens begleiten wollen, war dreißig Jahre alt und Beamter im Innenministerium, verheiratet und kinderlos, drahtig und einigermaßen gutaussehend, etwas überdurchschnittlich groß und etwas überdurchschnittlich intelligent. An seiner hohen Stirn gingen ihm schon die Haare aus, und er versuchte seit einem Jahr vergeblich, mit dem Rauchen aufzuhören, worin ihn seine Frau bestärkte. Er mochte Blumen und große Hunde, hatte aber weder Geld noch Muße, sich mit beidem abzugeben. Er zertrampelte Käfer und schlug Fliegen mit zusammengerollten Zeitungen tot, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, und dachte gleichzeitig, sein Leben sei unangreifbar. Es gab einige Fakten, die er nicht kannte.
Durchschnittlich alle 26 Millionen Jahre schlägt ein großer Komet auf unserer Erde ein und tötet fast alles Leben. Das geschieht ebenso beiläufig wie ein bösartiger Wanderer im vorbeigehen einer Sonnenblume mit dem Spazierstock den Kopf abschlägt. Bisher hat sich außer ein paar Wissenschaftlern niemand dafür interessiert, weil unsere Spezies in diesem Spiel immer auf der Gewinnerseite gestanden hat, und das letzte dieser Ereignisse reichlich lang zurückliegt. Und nun war es eben wieder einmal soweit, und diesmal sah es wirklich böse aus. Wieder würde fast alles Leben zugrunde gehen. Mit einem Unterschied zu allen früheren Katastrophen dieser Art: Diesmal betraf es die Menschheit, also uns. Das Hubble-Teleskop hatte vor Tagen einige große Kometen gesichtet, die sich unserer Welt mit 70.000 Kilometern in der Stunde näherten. Die Astronomen erkannten sofort das Ausmaß der Katastrophe, wenn es zu einem Einschlag kam. Die Wahrscheinlichkeit lag bei etwa 60 Prozent, sagten die Fachleute nach Stunden aufwändiger Berechnungen. „Bewahren Sie trotzdem Ruhe!“ hieß es in dem Artikel, „Die besten Köpfe der Menschheit arbeiten an einer Lösung, und es besteht kein Grund zur Beunruhigung.“
Der 30-jährige Mann ließ seine großformatige Zeitung sinken und schüttelte erst den Kopf. Dann runzelte er die Stirn, nahm einige tiefe Atemzüge und las den Artikel noch einmal, dann noch einmal und noch einmal. Der Ärger in ihm wurde immer stärker, und er glaubte noch nicht wirklich, dass sein Leben vielleicht allzu bald schon sang und klanglos vernichtet würde. Diese Ansicht teilte er vielleicht mit so mancher Fliege, die er selbst mit einer zusammengerollten Zeitung in hässlichen Matsch verwandelt hatte. Er richtete sich auf und blickte sich um: Da war sein Lieblingssessel, die Bücherwand, der Fernseher, die Fensterbank mit den Zimmerpflanzen. Alles wie immer. Die Katze kam herein und kletterte träge auf seinen Schoß.
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Eine Woche später war die Hölle los: In allen Teilen der Welt fielen die überreizten und verängstigten Menschen übereinander her. Kaum jemand arbeitete noch, in den meisten Staaten herrschte das Kriegsrecht, Geschäfte wurden geplündert, und überall war Gewalt die herrschende Umgangsform. An einem dieser letzten Tage standen unser Held und seine Frau in der Speisekammer ihrer geräumigen Wohnung und gingen den Lebensmittelbestand durch: Da gab es jede Menge Konserven und mehrere große Säcke Kartoffeln, Nudeln, Saucen, Speck und Brot, Zwiebeln in Mengen und mehrere Arten von Gemüse, Salz und Mehl, Nüsse und Katzenfutter. Es waren die zufälligen Produkte von Notkäufen und Plünderungen. Die Frau war klein und trug ihr braunes Haar kurz. Sie hatte kurze Finger, die spitz zuliefen und außergewöhnlich große Augen, mit denen sie sehr ernst die Liste überflog, in die sie alle Bestände eingetragen hatte. Das Fenster stand offen. Sie hatten sich dicke Bretter und eine Menge Nägel besorgt, um Fenster und Außenwände vor der großen Katastrophe zu verstärken. Viel Sinn machte das nicht, aber die letzten Ausgaben der Zeitungen enthielten genaue Anleitungen für den Bau von Schutzräumen, um den Menschen das Gefühl zu geben, wenigstens etwas tun zu können.
Sie sagte: „Es reicht höchstens für vier Monate. Du musst noch einmal nach draußen gehen und mehr Lebensmittel holen. Wir brauchen genug für mindestens ein Jahr! Es hilft nichts!“
Er stand schlaff daneben und nickte. Dieses „Draußen“ war zu einem feindlichen Ort geworden, aus dem sie immer wieder Schreie hörten, vereinzelt auch Schüsse. Er hatte früher Kampfsport trainiert. Im Abstellraum hatten sie einen alten Schlagring gefunden, der jetzt schwer in seiner Manteltasche lag und ihm ein Gefühl von Sicherheit gab. Seine Aussichten im täglichen Überlebenskampf standen nicht schlecht.
Die Luft draußen war mild und das Sonnenlicht freundlich wie eh und je. In dem Bastelgeschäft in ihrem Haus waren die Auslagen noch heil, wenn auch leer. Bei einigen parkenden Autos lagen die Scheiben in Scherben. Er lenkte seine Schritte zu einem Supermarkt um die Ecke, vor dem sich eine gierige Menge zusammenrottete. Der Pächter war ein großer Mann mit brutalen Zügen, aber man merkte, dass er sich vor Angst in die Hosen machte. Er hielt einen Baseballschläger in den Händen und ließ keinen Zweifel daran, dass er ihn gegen jeden Plünderer einsetzen wollte. Sie drängten gegen die Eingangstür. Er schrie: „Hier ist geschlossen, Leute! Es gibt nichts mehr!“
„Von wegen geschlossen!“ rief einer, „Das ganze Lager ist noch voller Zeug!“
„Ja, das Schwein hortet Lebensmittel! Und unsereiner soll sehen wo er bleibt.“
Er hatte keine Chance. Die Lawine aus wütenden Menschen überrollte ihn und schon Minuten später schleppten sie alle nur erdenklichen Gegenstände davon wie die Vandalen beim Plündern einer römischen Stadt. Unser Held schob einen Einkaufswagen voll mit Kartoffeln, Zwiebeln, Haferflocken, Wurst und Hygieneartikeln, Orangensaft im Tetrapack und Äpfel der Güteklasse zwei durch die zertrümmerte Glastür, als der sah, dass drei Männer immer noch auf den Pächter des Supermarktes einschlugen, obwohl er längst blutend am Boden lag. Hier entschied sich vielleicht sein Schicksal. Er lief zu ihnen und schrie sie an: „Lasst den Mann in Ruhe!“ Den vollen Wagen ließ er achtlos stehen.
Einer drehte sich grinsend um, und im nächsten Moment krümmte sich auch unser Mann unter heftigen Tritten am Boden. Sie hätten ihn übel zugerichtet, wenn ihm nicht eine Unbekannte zu Hilfe geeilt wäre. Sie bückte sich zu ihm hinunter und sagte etwas. Sie war eine unscheinbare junge Frau, aber die Männer ließen ihn sofort in Ruhe. Als die Krämpfe nachließen, sah er sie überrascht an und sagte nur: „Danke.“
Sein voller Einkaufswagen war längst weg. Womit sollte er jetzt nach Hause gehen, zu seiner Frau? Er ging durch einige Nebenstraßen, die seltsamerweise menschenleer waren. Sein Bauch schmerzte, als wäre etwas in ihm gerissen. In einer Seitengasse sah er, wie ein Mann in großer Eile einen Kleinbus belud. Er schwitzte unter riesigen Kartons. Wie ein Raubtier, das Witterung aufnimmt, ging er zu ihm.
„Was machen Sie da?“ – „Das sehen Sie doch! Lassen Sie mich in Ruhe!“
„Meinen Sie, dass Sie sich mit dem Wagen in Sicherheit bringen können?“
Sein eigenes Auto stand noch in der Garage, aber er wusste nicht, wohin man mit dem Auto fliehen konnte, vor fliegenden Gesteinstrümmern und Asche, die sich meterhoch auftürmt. Vermutlich war das nur der Fluchtinstinkt, der einem das Gefühl gab, etwas tun zu können. Aber der Mann hatte Lebensmittel.
Er hatte auch einen Revolver. Plötzlich hielt er ihn in der Hand und fuchtelte unserem Mann damit vor der Nase herum: „Hauen Sie ab! Lassen Sie mich in Ruhe!“
Er wandte sich tatsächlich ab. Der Mann mit dem Lieferwagen ließ die Waffe sinken, aber schon im nächsten Augenblick fiel unser Held, getrieben von einer übermächtigen Wut, über diesen Unglücklichen her. Ein Schuss ging los. Es war ein so alltägliches Geräusch wie eine Fehlzündung oder ein geplatzter Reifen. Das brachte ihn noch mehr in Rage! Wieder und immer wieder trat unser Held auf den Mann am Boden ein. Der Körper schluckte die Tritte wie ein mit Wasser gefüllter Sack. Er konnte aufhören, bevor er ihn umbrachte, aber es war knapp. Er kam wieder zur Besinnung, und fragte sich: Großer Gott, was mache ich da? Er griff hastig nach dem Revolver. Aus seinen Augen rannen Tränen. Was hatte er getan? Er stieg ein und fuhr los.
Als er durch Nebenstraßen zu seiner Wohnung fuhr, sah er die Frau wieder, die ihn vor dem Schlägertrupp gerettet hatte. Wie hatte sie das eigentlich gemacht? Er hielt an, kurbelte das Fenster herunter, und sagte nur: „Steig ein!“
Sie tat es, als wäre es die größte Selbstverständlichkeit. Sie mussten sich beeilen, bevor Plünderer auf den Lieferwagen aufmerksam wurden. Er plante, alles Brauchbare in sein eigenes Auto umzuladen, und dann einfach wegzufahren. Seine Frau würde es ohne ihn schaffen. Er war entsetzt über die Dinge, zu denen er fähig war, und wollte einfach nur weg. Die Chancen, hier zu überleben, waren ohnehin gleich null. Die Unbekannte betrachtete ihn von der Seite. Sie trug einen Pferdeschwanz und eine reichlich abgewetzte Jacke. Ihre zierlichen Füße steckten in Tennisschuhen. Sie fragte: „Wie heißt du eigentlich?“ – „Fritz. Und du?“
Sie hieß Lola, sagte sie. Es dauerte nicht einmal eine halbe Stunde, um die Lebensmittel aus dem Lieferwagen in den PKW umzuladen. Er weinte, aber er fing sich langsam wieder. Einige alte Teppiche kaschierten die Ladung notdürftig. Sie waren bereit zur Flucht.
Was sollten alle diese hektischen Aktivitäten, bei denen Menschen ihre Werte vergaßen, wenn kaum einen Tag später ein Komet mehr zerstören würde als ein totaler Atomkrieg? Was nützte es, draußen zu sein, und über abgelegene Landstraßen in Richtung Westen zu fahren, während die Staus auf den Autobahnen länger und länger wurden? Es nützte vielleicht nicht viel, aber es fühlte sich gut an, vorwärts zu kommen. Es hatte leicht zu regnen begonnen. Sonst wäre es Zeit für die Art von Unterhaltung gewesen, die mit den Worten „Und was machst du so?“ beginnt.
Das schien unter diesen Umständen absurd, wie alles, was ein gewisses Maß an Zurechnungsfähigkeit und guten Umgangsformen voraussetzt.
Stattdessen drehte sie sich zu ihm und fragte: „Was geht einer Fliege durch den Kopf, wenn sie auf der Windschutzscheibe eines fahrenden Autos zermatscht wird?“
Er murmelte wehleidig: „Weiß nicht. Sag du es mir!“
Sie lehnte sich zurück und rief: „Der Arsch natürlich, Mann! Soll ich meine letzten Stunden mit einem verbringen, der nicht einmal die einfachsten Dinge weiß?“
Er sah zuerst etwas pikiert aus, dann lachte er aus vollem Hals.
Sie sagte: „Na also, geht doch! Kopf hoch, wir schaffen das!“
Sie fuhren fünf Stunden lang, dann hielten sie an einem ruhigen Parkplatz und liebten sich im sanften Mondlicht auf den Rücksitzen. Sie schliefen einige Stunden, aßen eine Kleinigkeit, fuhren weiter ohne ein festes Ziel und hielten nach einem Unterschlupf Ausschau, nach einem stabilen Haus oder einer Höhle in den Bergen. Ihre Fahrt sollte zu einem der bestdokumentierten Ereignisse im letzten Akt der Menschheitsgeschichte werden...
Hauptsächlich ging es ihnen darum, zu fahren, einfach so, weg von allem.
Er sagte: „Es ist komisch. Stell dir nur mal vor, wir kämen jetzt noch einmal davon.“
Sie schmiegte sich an ihn und streichelte ihm mit sanften Händen die Schläfen.
„Wie hast du das eigentlich gemacht, dass sie mich in Ruhe gelassen haben?“
Ihr breiter Mund lächelte. Sie schlug die Augen nieder.
„Ich habe gefragt, was sie da tun. Muss ihnen peinlich gewesen sein.“
Er dachte an seine Frau, die wahrscheinlich immer noch auf ihn wartete, an seine Eltern und seine Freunde. Das Denken machte ihn schläfrig, und er fuhr weiter in einem angenehmen Gefühl der Müdigkeit, immer der untergehenden Sonne entgegen. In solchen Situationen gibt es keine Regeln, dachte er.
Doch sehr viel schneller als das Auto, das auf Schleichwegen durch wohlbekannte Landschaften kroch, fiel der Komet auf die Erde nieder. Er kam aus der Oortschen Wolke, wo es Milliarden von seiner Art gibt, lauter schmutzige Eisberge mit mehreren Kilometern Durchmesser, die existieren seit es das Sonnensystem gibt. Es war etwas Urtümliches und Gewaltsames an dieser Himmelserscheinung, ein kaltes weißes Auge, das immer größer wurde. Von ihm ging eine Kraft aus, die etwas Großartiges an sich hatte. Das Ende stand unmittelbar bevor...
Der Aufschlag war kurz und heftig, wie ein Schuss, der einen Körper zerfetzt. Dann stürzten unzählige brennende Trümmer auf die Erde nieder. Dann wurden alle Küsten überflutet, und die Menschen, die sich in diesen Gegenden verkrochen hatten, kamen um. Dann sickerte ein alles erstickender Aschenregen nach unten, und dichte Wolken schirmten die Sonne ab. Zu diesem Zeitpunkt saßen unsere beiden Flüchtenden in ihrem Auto fest, verkeilt unter Trümmern und einem immer höher steigenden Aschenregen. Sie hatten es nicht geschafft. Er gab trotzdem nicht auf. Er wollte sich durchkämpfen, sich mit letzter Kraft nach draußen graben. Sie schüttelte den Kopf und sagte: „Lass es! Es hat keinen Sinn.“
Die Innenbeleuchtung funktionierte noch. Ihm kam der flüchtige Gedanke, wie seltsam das war, jetzt auf eine so unspektakuläre Art zugrunde zu gehen. Vor einer Woche hatte er noch mit einer erfolgreichen Zukunft an der Seite seiner Frau gerechnet. Jetzt saß er hier mit einer Anderen, die er kaum kannte, und wartete auf den Tod.
Er dachte daran, einen Brief an die Nachwelt zu schreiben, aber ihm fiel nichts ein, das von Bedeutung war, nur seine eigene Geschichte. Also kritzelte er im spärlichen Licht mit Kugelschreiber seinen eigenen Nachruf auf ein zerknittertes Stück Papier. Es war sein eigenes Leben, das er hastig fixierte, während der Sauerstoffgehalt der Luft immer geringer wurde. Er schrieb von seinen Hoffnungen und seinen Plänen, der Welt aus der er kam und von der Frau, die er am vorletzten Tag seines Lebens gefunden hatte. Sie lächelte nur und schmiegte ihren Kopf an seine Schultern. Er schrieb über seine Enttäuschung und seine Wut, sein blutendes Herz und ein Leben, das viel zu schnell zu Ende ging.
Es dauerte noch eine Weile. Sie lagen sich bis zum Schluss in den Armen und flüsterten sich tröstende Worte zu.
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Die Archäologen einer fernen Zukunft fanden ihre mumifizierten Körper und das zerfallende Stück Papier, das sich überraschend gut erhalten hatte. Man stand erst am Anfang der Erforschung dieser untergegangenen Zivilisation, und erst seit kurzem konnte man ihre Schriften lesen. Ein Experte sagte: „Dieses Schriftstück ist ohne Zweifel eine ihrer größten Dichtungen.“
Ein anderer fragte: „Wovon handelt es?“
Das Wesen, das auf uns ebenso fremdartig wirken würde wie wir auf die Dinosaurier, sagte: „Es handelt vom unspektakulären Ende einer mächtigen Zivilisation und vom großen Finale im Leben eines kleinen Mannes.“