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Das Erdloch
Schlaftrunken griff er nach dem blinden Glas, hielt es sich eine Handlänge vor Augen. Blinzelte durch die graue Morgendämmerung und vergewisserte sich, dass kein Insekt in dem Schluck Wasser schwamm. Es schmeckte schwach faulig, linderte aber spürbar das trockene Gefühl im Rachen. Immer, wenn er auf dem Rücken lag und schlief, öffnete sich sein Mund; er begann zu schnarchen und die Feuchtigkeit entwich mit jedem Atemzug.
Es war noch nicht einmal ganz hell draußen und durch die winzige Luke ohne Scheibe über seiner Schlafstatt sah er den Himmel, an dem noch einige Sterne müde blinkten. Von der Straße drangen die ersten Laute bis zu ihm hinauf in die kleine Dachkammer.
Der Tross hatte sich unüberhörbar auf den Weg gemacht. Das Scharren eiliger Füße, das Knarren überladener Handkarren und das monotone Geplapper hunderter Mäuler. Manchmal plärrte ein Kind, rief eine scharfe Stimme unverständliche Befehle.
Auf der Flucht vor den fremden Milizen. Zurück blieben ihre einfachen Siedlungen, ihr Zuhause, ihre Heimat. Seine Geschwister wollten sich ihnen anschließen und schwerfällig tapste er barfuß die Stiege hinab, sah sie bereits im Hof warten.
Feindliche Truppen hatten ihr Erscheinen angekündigt. Auf den violetten Bergen am Horizont stiegen die Einschläge ihrer Geschosse wie Pilze in das staubige Blau der heißen Tage, und immer das leise Wummern der Explosionen, unablässig.
Cetú und Dika hatten sich nachts geliebt, tagsüber die verschwitzten Bettlaken über den wackligen Stühlen vorm Haus zum Trocknen ausgebreitet. Immer, wenn er an ihnen vorbei gehen musste, roch er ihren Schweiß, ihre Lust, die Schwüle ihrer dunklen Haut. Dika war vor einem Jahr wieder aufgetaucht, hatte die tödlichen Sümpfe der Vorstädte verlassen, in denen rivalisierende Banden niemanden mehr unbehelligt ließen. Nachdem sie ihre Arbeit im Chemiekombinat verloren hatte, war sie wieder hinaus in das Haus zu ihren Brüdern Cetú und Mmabe gezogen.
Mmabe, der Ältere, war ihr fremd geworden. Obwohl der Boden fast keine Krume mehr trug, schichtete er Steine gegen den Wind und brachte Saat in den kargen Boden, hegte die wenigen Oliven- und Feigenbäume. Selbst kleinwüchsige Datteln erntete er noch diesen Herbst, aber die Büsche sahen nicht so aus, als wollten sie nächstes Jahr noch einmal Früchte tragen. Mmabe missfiel, dass ein Esser mehr am Tisch saß und nachdem seine Geliebte mit der ersten Flüchtlingswelle über die nahe Grenze geflohen war, richteten sich seine Augen vor Gram nach innen, glänzte das Weiß fiebrig gerötet und manchmal entrang sich seiner Brust ein heftiger Seufzer. Jetzt war die Grenze dicht, wie man sich im entfernten Diolasso erzählte. Trotzdem trieb die Angst vor den Fremden die Menschen bis hinter die großen Flüsse, wo westliche Hilfsorganisationen Lager errichtet haben sollten. Er war geblieben, um das Haus seiner Eltern nicht zu verlassen. War hier geboren und in dieser Erde wollte er auch begraben sein, sollte er die „Säuberung“, wie sie den Angriff nannten, nicht überleben.
Er hatte nie viel verstanden von der Politik, nur fünf Jahre die Schule besucht und das Schreiben und Lesen beherrschte er weniger als mangelhaft. Viele Jahre, nachdem sein Vater im Bauernaufstand gefallen war, trotzte er dem kleinen Stück Land genügend ab, um seine Mutter und Geschwister zu ernähren.
Anfangs half ihm seine Mutter bei der mühsamen Arbeit auf dem Feld, versorgte die Ziegen und das Geflügel. Als die versprengten Truppen der Solidarischen seine Tiere konfiszieren wollten, stellte sich die alte Frau den vier Söldnern in den Weg. Selbst das Flehen ihrer gefalteten Hände vermochte die in Lumpen Gekleideten nicht umzustimmen und Mmabe fürchtete ihre Waffen, ihre offensichtliche Bereitschaft zur Gewalt. Dika und Cetú hatte er in einem rasch ausgehobenen Erdloch versteckt. Er selbst gebärdete sich als schwachsinnig, grinste fortwährend und schüttelte oder wackelte so heftig mit seinem fast haarlosen Kopf, dass dieser von seinem dünnen Hals zu fallen drohte. Sie stießen ihn in den gelben Sand vorm Haus, wo er grinsend liegen blieb und mit ansehen musste, wie sie die Hühner in Säcke füllten, die Ziegen zusammenbanden und vom Hof trieben.
Seine Mutter zeterte erst still wimmernd, dann, als sie aufbrachen und keine Anstalten machten, auf sie zu hören, schrie sie ihnen hinterher, dass sie heute Abend ihre Strohpuppe hervorhole und die rostigen Nägel würden ihnen schon den Arsch aufreißen. Elende Bastarde, die sie wären, Geschmeiß, Tagediebe und Aasfliegen. Wenn sie ihnen die Nahrung nähmen, wäre es doch besser, gleich erschossen zu werden als zu verhungern.
Mmabe schlug die Hand vor den Mund, warf sich in letzter Sekunde flach auf den Boden, sah vor sich die runden Kiesel im Sand, jeder Atemzug von ihm wirbelte eine kleine Staubwolke auf und sein angespannter Körper erwartete jeden Moment den Einschlag einer Patrone, aber es fiel nur ein Schuss.
Er wusste nicht, wie lange er so gelegen hatte. Kleine Käfer krabbelten durch den Sichtbereich seiner feuchten Augen, glänzende Panzer mit gelben Streifen. Eine vorsichtige Spinne tastete mit zwei erhobenen Beinen nach seinem Arm, ließ dann doch ab und entfernte sich rasch. Die Sonne erhitzte seinen Nacken und er wusste nicht, ob ihm übel war vor Schmerz oder weil sich die Gedanken ohne Unterlass wiederholten.
Als er sich auf den Rücken drehte und mit den Ellenbogen abstützte, glitt sein Blick über die fast verdorrten Bäume, als könne er dort Ruhe finden. Leise wisperte der heiße Wind in den Zweigen und raschelte mit den weißlichen, harten Blättern. Seine Mutter lag mit offenen Armen, die Handflächen nach oben gewendet, mit ihrem Gesicht im Sand. Über den leicht abschüssigen Boden hatte ihr Blut eine Bahn gezogen und sich in einer Mulde gesammelt, mittlerweile dunkel verfärbt. Gelb schillernde Fliegen saßen an den Rändern und ihr Surren nörgelte in seinen Ohren.
Langsam erhob er sich, war unschlüssig, ob er seine Mutter erst verscharren, oder seine Geschwister aus dem Erdloch befreien sollte. Mit den Zehen seines linken Fußes stocherte er in der harten Erde, ließ dann ab von seinem unsinnigen Tun und trottete benommen hinter das schmale Gebäude.
Das Gehen fiel ihm schwer, ein trockener Kloß im Hals wollte nicht geschluckt werden, noch ließ er sich würgen und ausspucken. Die Innenseite seiner Haut kribbelte angespannt und sein Geist schnurrte zu einem winzigen Knäuel zusammen. Er wusste nicht, was schwerer wog. Mit bloßen Händen nicht gegen Waffen vorgegangen zu sein oder den Tod seinen Geschwistern zu beichten, dass er feige weggesehen habe, als Mutter starb. Über allem lag das Flimmern der Hitze, das Sirren und Schaben der Insekten.
Mühsam kehrte er mit der Hand den staubenden Sand von der dichten Sisaldecke, schlug sie zurück und entblößte das schartige Loch in der Erde. Cetú blinzelte unter der erhobenen Hand, die ihn gegen das helle Licht schützte. Er habe sie bewusstlos schlagen müssen, sonst hätte sie geschrieen, als der Schuss fiel.
Dika lag mit angezogenen Beinen, die Fäuste vor ihrem Gesicht. Erst als er sich zu ihr hinab beugte und sie zaghaft an der Schulter berührte, blickte sie kurz in sein Gesicht, als wollte sie sich vergewissern, dass sie noch lebte. Rotz war ihr aus der Nase gelaufen, hatte mit dem hellen Sand eine Kruste oberhalb ihrer Lippen gebildet.
Was ist mit Mutter? wisperte sie leise und ihre Stimme zitterte.
Nachdem die Solidarischen von Regierungstruppen besiegt und vertrieben wurden, kehrte vorübergehend Ruhe ein in die von Kämpfen vernarbte Region. Viele Höfe standen leer, wurden nach und nach wieder besiedelt, aber er fand keinen Kontakt mehr zu den neuen Besitzern. Misstrauisch beobachtete er oft deren Arbeiten von seinem kleinen Stubenfenster aus, stand in den heißen Mittagsstunden hinter der dunklen Gaze.
Mmabe bekam eine kleine Entschädigung für den Verlust seiner Tiere, aber die Zuwendung reichte gerade dafür aus, Dika ein anständiges Kleid zu kaufen und um sie im Süden in einer neu errichteten Chemiefirma unterzubringen. Auf dem Weg von der Stadt nach Hause lernte er Kaagna kennen – sie stand die ganze Fahrt neben ihm in dem alten Bus, der mehr als einmal in tiefe Schlaglöcher krachte, dass sie heftig zusammenstießen und sich gegenseitig versuchten, aufrecht zu halten. Nach dem dritten Loch entwickelte sich eine zaghafte Unterhaltung, in der er erfuhr, dass sie ein Haus in seiner Nachbarschaft besiedeln wollte. Kaum hatte sie ihre Absicht ausgesprochen, da verfinsterte sich sein Gesicht und auf ihr Drängen hin verriet er ihr, das Haus habe durch einen Brand sehr gelitten – er glaube nicht, dass es noch bewohnbar sei.
Abends kam sie dann auf seinen Hof und bat um Unterkunft. Bis in die Nacht hinein saßen sie auf der kleinen Stufe vor der fleckigen Haustür und als sein Bruder mit einem geschulterten Bündel Holz aus den Hügeln heimkehrte, stellte Mmabe Kaagna als seine neue Frau vor. Cetú lächelte schief und maß ihre Beine mit lüsternem Blick.
Am nächsten Morgen regelte er den Besitzanspruch mit seinem Bruder. Sollte er ihn dabei erwischen, dass er seiner Frau zu nahe trete, müsse er ihn erschlagen. Ob das klar sei. Cetú sah hinaus in die Steppe, über die lichten Reihen magerer Bäume, deren Laub im ersten Sonnenlicht noch feucht glänzte. Erst als Kaagna aus dem Haus kam, sich hinter Mmabe verbarg und ihr Kinn auf seine Schulter legte, sah er wieder zu seinem Bruder und nickte mit den Augen, ohne den Kopf zu bewegen. Seine dünnen Haare wehten ihm in die Stirn und bedächtig schulterte er die Hacke. Später standen sie wortlos und mit schmerzenden Rücken nebeneinander auf dem Feld.
Das Jahr war kaum um, die Süßkartoffeln und die mageren Zuckererbsen noch nicht einmal geerntet, als Dika eines mittags die alte Landstraße herauf kam. Schief über einer ihrer Schultern hing ein prall gefüllter Rucksack, dessen Nähte notdürftig mit einer farblosen Nylonschnur zusammengehalten wurden. Erst an der flachen Steinmauer der Zisterne stoppte sie ihren schleppenden Schritt, hob den schartigen Zinkeimer an ihre Lippen und trank in heftigen Zügen. Das Wasser glitzerte wie Diamanten, als es in kleinen Rinnsalen an ihrem Hals hinab rann und in ihr verschmutztes Kleid sickerte.
Es habe immer wieder Plünderungen gegeben, nachts zögen Truppen aus den nahen Kasernen über die Grenzen. Lose Banden hatten sich ihnen angeschlossen oder kämpften gegen sie – das Werk habe aufgehört zu produzieren, es sei zu gefährlich, dort zu leben, wo es nichts mehr zu holen gebe. Ihre Worte fielen beiläufig, resigniert.
Aber wir haben hier auch nicht mehr zu verteilen – Kaagna sei vor wenigen Monden geflohen – es habe nicht gereicht für Drei. Mmabe unterstrich seine Erwiderung, indem er ihr seine leeren Handflächen entgegenhielt.
Da stellte sich Cetú hinter seine Schwester, legte einen Arm um ihre Hüfte, drückte die flache Hand gegen ihre Scham und presste seinen Unterleib gegen ihren Hintern. Dann teile ich meine Ration mit ihr; sah mit schräg gelegtem Kopf auf das Ohr von Dika und flüsterte leise, dass sie beide schon einen Weg fänden, wie sie sich nützlich machen könne. Nur halbherzig spielte Dika die Entrüstete, löste sich aus seiner Zudringlichkeit, nutzte aber das Angebot, um mit erhobenem Haupt an Mmabe vorbei zu stolzieren.
Schon wenige Nächte später erwachte Mmabe, hörte, wie im Erdgeschoss leise geflüstert wurde, wie dann draußen im Hof seine Geschwister tuschelten und ihre Schritte hinüber zu den Bäumen raschelten. Offensichtlich wollten sie ihren älteren Bruder nicht wecken. Mmabe stand auf, sah aus dem kleinen Dachfenster ihre Schatten drüben unter den Feigen, wie Dika erst mehrmals seine Hände abwehrte, aber ihr mehrfach leises Kichern drang bis zu ihm hinauf und als sie schließlich ihren Rock vor ihrem Bauch raffte und sich wie ein Hund vor Cetú postierte, wendete Mmabe sich ab, legte sich auf sein Lager und drückte die Fäuste auf seine Ohren, um nicht das Schwitzen draußen zu hören.
Wieder griff er nicht ein, sah vor seinen Augen, wie ihre Mutter dort in der Sonne lag. Selbst als er begann, eine traurige Melodie zu summen, drang das Keuchen und Stöhnen der Kopulierenden bis in die Mitte seines Kopfes.
Immer weniger half Cetú, der kargen Landwirtschaft ihren Ertrag zu entreißen. Seine Geschwister vergnügten sich immer häufiger, ohne die Nähe von Mmabe als störend zu empfinden. Als sie sich eines mittags im Schatten vor dem Haus gegenüber saßen und unter ihren neugierigen Blicken, die Beine weit gespreizt, onanierten, war es um Mmabes Geduld geschehen. Er rannte ins Haus, griff nach einer Hacke und wie er dann vor ihnen stand, zitternd, angewidert und verletzt, lachten sie ihn aus. Aber sie sahen auch, dass es ihm Ernst war und er bat sie zu gehen. Weg von hier, er wolle sie nicht mehr dulden – Geschwister hin oder her. Er wolle nicht enden wie ein Tier, wolle sich nicht nötigen lassen, ihnen weh zu tun. Ab diesem Tag gingen sie ihm aus dem Weg, aber es gab ausreichend Gelegenheit für Mmabe, ihren Spuren, ihren Geräuschen zu begegnen. Die Enge war allgegenwärtig.
Es war nicht viel, was sie in Dikas Rucksack untergebracht hatten, den Cetú schulterte und als sie in der Kühle des Morgens ihrem Bruder gegenüberstanden, baten sie ihn nochmals, doch auch das Haus aufzugeben. Er müsse doch einsehen, dass der kleine Hof nicht mehr zu bewirtschaften sei, schon gar nicht, wenn er übrig bliebe und nur auf sich gestellt alle Arbeiten allein verrichten wolle.
Er habe ja die letzten Wochen auch nichts anderes getan, spottete er vorwurfsvoll und für ihn sei noch ausreichend Frucht vorhanden – solange er Wasser habe, murmelte Mmabe und er staunte über die Wahl seiner Worte. Sie klangen ihm fremd, aber sein Gefühl sagte ihm, dass seine Entscheidung richtig war.
Drüben in den Hügeln stiegen wieder die ersten Rauchsäulen in den blassen Tag und Dika nickte mit ihrer ausgeprägten Stirn in deren Richtung. Sie kommen näher und es sind diesmal keine von uns.
Was das schon heiße, entgegnete Mmabe. Die Unsrigen haben schließlich Mutter getötet, was da für ein Unterschied sei. Irritiert sahen die großen Augen aus den tiefen Höhlen ihres mageren Gesichts. Eine Spur Schmerz konnte er erkennen, Verzweiflung und auch Reue. Wie weit sind wir gegangen als Mensch, wie weit müssen wir uns noch den Tieren nähern. Wo sind wir gewesen, wo wollen wir hin auf unserem Weg der Entbehrung, der Schmach, der Schande, der Erniedrigung. Wie weit lässt sich unser Rückgrat biegen angesichts der drohenden Gewalt aus Hunger und Totschlag. Ist die fleischliche Lust unser letzter Reichtum, die Lust zu töten der letzte Rest vom Dasein? Lässt sich unser Leben auf eine Armseligkeit reduzieren? Mmabe fühlte sich wie ein schwacher Bussard, der sich verflogen hatte und über der Wüste kreiste, dem die Flügel lahmten und der sich nicht mehr halten konnte, unablässig der Erde entgegen sank, der Horizont immer enger schnürte und keine Aussicht auf Schatten, Schutz und Nahrung bot.
Mmabe kletterte in das Erdloch, in dem er Wasser und getrocknete Früchte deponiert hatte. Ohne Worte kniete er sich in die fleckigen Laken, schob konzentriert einen Haufen alter Kleidungsstücke in eine der sandigen Ecken und begann, die schwere Sisaldecke über sich zu ziehen. Cetú warf den Rucksack unachtsam in den Staub, half ihm bei der Arbeit.
Mmabe, flüsterte Dika und durch den letzten Schlitz sah er sie stehen mit ihren dünnen Beinen, das einstmals schöne Kleid abgenutzt und verblasst, ihre zierlichen Arme verschränkt, die grob verknoteten Haare zu einem Turm wirr aufgeschichtet und die ersten Sonnenstrahlen spiegelten sich in ihren feuchten Augen.
Dika, flüsterte er und dann war es dunkel, hörte, wie Cetú Erde und Steine über die Decke schob. Er schloss die Augen, als der feine Sand durch die Ritzen rieselte, öffnete sie erst wieder, als die Schritte seiner Geschwister längst verstummt waren.
Er lag unbeweglich, atmete flach. Die Hitze steigerte ihre Intensität, Mmabe spürte den Schweiß aus den Poren treten, feucht klebte die kurze Hose zwischen den Beinen. Wie ein Pendel schwang seine Stimmung in der gedehnten Zeit, die hier in diesem Erdloch herrschte.
Er dachte an Kaagna, die nur wenige Vollmonde das Bett mit ihm geteilt, die versucht hatte, ein wenig Ordnung in sein Haus zu bringen. Sie war schüchtern und scheu, wenn er nachts ihren Körper erkundete, das Laken behutsam aus ihren Fingern löste. Seine Zunge liebkoste jeden Fingerbreit ihrer straffen Haut und nachdem er sich erlösend in ihren Unterleib ergossen hatte, erhob sie sich oft vom Lager. Stand unter dem kleinen Dachfenster, den linken Arm erhoben, um sich abzustützen, das rechte Bein locker angewinkelt und sah hinaus in die Sterne.
Manchmal summte sie leise ein verträumtes Kinderlied, sah zu ihm hinüber und das Mondlicht spiegelte sich kalt in ihren großen, feuchten Augen. Kurz bevor er einschlief, versuchte er ihr zu sagen, dass er sie lieb habe und sie eine schöne Frau sei, aber jedes Wort hätte die Stimmung zerstört. Diese bleierne Ruhe, das schwerfällige Denken in einem dichten Kokon von Watte verschlossen seine Lippen und lächelnd fiel er in einen traumlosen Schlaf.
Er dachte an Cetú, wie er herangewachsen war und schon früh begonnen hatte, den Nachbarn heimlich Teile der Ernte zu klauen. Niemals so viel, dass es aufgefallen wäre und er entwickelte ein beachtliches Geschick; auch im Umgang mit den Menschen. Er konnte so freundlich und hilfsbereit sein und wenn sein Mund die beiden blendenden Zahnreihen entblößte, schmolz der Argwohn vieler dahin und hinter ihrem Rücken schnitt er ihnen eine Grimasse. Manchmal steigerte er sich, wenn sie in der Mittagshitze im Schatten des kleinen Vordaches dösten, in einen politischen Monolog. Besprach das Für und Wider der radikalen Front, der Solidarischen, der Regierungstruppen, der Milizen, der Gewalt an sich, verstrickte sich in Anschuldigungen, Verspottungen, Beleidigungen und zierte sich auch nicht, der dummen Bevölkerung die verdiente Knechtschaft zu wünschen. Mmabe musste manchmal lachen, wenn er sich derart verstiegen hatte, dass zwischen Fiktion und Realität nicht mehr zu unterscheiden war.
Aber wehe, Cetú sah seinen Bruder lachen! Er verstummte sofort, presste die Lippen aufeinander und konnte so für den Rest des Tages ausharren.
Mmabe drehte sich vorsichtig auf den Rücken, starrte in das Schwarz und versuchte, sich an das Licht zu erinnern. Sehe ich jetzt genau soviel wie ein Blinder oder sieht ein Blinder die Gegenstände vor sich, wenn er sie mit den Fingern abgetastet hat? Denkt er ein Bild oder sieht er jetzt, so wie ich, alles schwarz? Mmabes Herzschlag beschleunigte sich, nervös kreiste sein Fuß und schabte am Kunststoff des Trinkbehälters. Vorsichtig tastete er mit einer Hand zur Seite, berührte das Glas, ließ seine Fingerspitzen über die kühle Oberfläche gleiten.
Es war nicht richtig, dass sich Cetú mit seiner Schwester vergnügte. Ihn wunderte nur, dass Dika nie schwanger wurde, aber sie hatten nie über die Schande zu sprechen gewagt. Jetzt waren sie fort und hatten ihn zurückgelassen. Vielleicht nahmen sie sogar seinen Tod in Kauf, um zu überleben, aber Mmabe verwarf diesen Gedanken, lachte innerlich und schalt sich einen Narren. Er hatte ja dankend abgelehnt, also traf sie keine Schuld. Bilder tauchten auf, er sah seine Schwester, wie sie vor den Augen ihres Bruders die Beine spreizte und mit den Fingern ihre schwach behaarte Scham öffnete. Unwillkürlich schlichen seine Hände über den eingefallenen Bauch, hinab zu seiner Männlichkeit, die er fast wütend durch den Stoff der Hose zu kneten begann. Zornig über seine Schwäche warf er sich zur Seite, schob die Arme unter seinen Kopf und ihm war, als müsse er weinen.
Eine heftige Erschütterung riss ihn aus dem leichten Schlaf, scharfe Stimmen drangen gedämpft bis zu Mmabe in das Erdloch. Die Hitze hatte nachgelassen und angestrengt horchte er in das Dunkel. Offensichtlich waren sie an seinem Haus angekommen. Schritte näherten sich, gingen vorüber – seinen Herzschlag im Hals spürte er fast wie einen Laut, der ihn verraten wollte.
Augenblicke dehnten sich zu qualvollen Ewigkeiten, die Anspannung ließ ihn schwitzen, sein Atem kam stoßweise, flach und unregelmäßig. Jeder Schuss, der jetzt fiel, zuckte wie ein Stromschlag durch seinen Körper – Lachen folgte und wieder kam die Stille. Unkontrolliert strömte das Wasser aus ihm, floss über seinen Bauch, zwischen die Beine, sickerte durch die Hose in die zerwühlte Decke.
Als die Wärme des Tages wieder kam, versuchte er unbeholfen, den Kanister mit Wasser zu öffnen. Trotz der Angst musste er geschlafen haben. Seine Zunge klebte wie ein trockener Fremdkörper unter dem Gaumen und hinter seinen Augen pochte dickflüssig das zähe Blut. Sein Kopf stieß gegen die Decke über ihm, Sand rieselte und sofort wurden Stimmen laut, eilige Schritte kamen auf ihn zu, gleißendes Licht explodierte vor seinen Augen, das Gedämpfte wich und eine kristallene Klarheit aller Geräusche drang in seine Ohren. Erwartete jeden Moment die Patrone aus einem der Gewehre, die sicherlich auf ihn gerichtet waren, doch die Qual blieb wie ein Stiefel in seinem Nacken liegen, drückte ihn in den Staub und langsam öffnete er die Augen, blinzelte und sah das zerbrochene Glas in seiner rechten Hand.
Lebst Du hier allein? Die Stimme klang tief, markant und zog die Selbstlaute ungewöhnlich in die Länge. Ja, wisperte er leise, räusperte sich. Ja, ich bin alleine.
Warum er nicht geflohen sei, wollte eine andere Stimme wissen, die jugendlich forderte und fast unbeherrscht schnatterte.
Es ist mein Elternhaus – ich will hier leben, versuchte er ohne Zittern der Stimme zu sagen, fügte leise hinzu: und auch sterben, wenn es denn sein muss.
Wir ziehen heute weiter – die Rebellen sind den Flüchtlingen gefolgt, versuchen, sich unter den armen Schweinen zu verstecken. Eine Pause folgte, ausgefüllt mit dem Knacken und Klicken von Gewehren.
Komm raus da aus dem Dreck, aber langsam. Mach keine Dummheiten. Hast Du Wasser?
Mmabe erhob sich vorsichtig, die Gelenke schmerzten vom Liegen und er schämte sich seiner feuchten Hose. Der Morgen war noch kühl, über das helle Blau hinter den schäbigen Ziegeln seiner Behausung wehten rosafarbene Streifen dünner Wolken, einst erste Anzeichen der nahenden Regenzeit. Seit sieben Jahren fiel kein Regen mehr und Mmabe wusste, dass die Natur dringend das Wasser benötigte.
Zögernd führte er die Männer in ihren Uniformen zur Zisterne. Es waren ein alter Weißbart mit tiefen Furchen in den Wangen und sechs übermütige Grünschnäbel, die ihre Gewehre pflichtbewusst vor der Brust trugen.
Trink Du zuerst, befahl der Alte. Vorsichtig schöpfte Mmabe mit der hölzernen Kelle aus dem Eimer, in dem kleine Insekten schwammen, schlürfte in kleinen Schlucken.
Sie ließen ihn zurück, brachen fast hastig auf, nachdem sie alle getrunken hatten. Kein Wort wurde mehr gewechselt, Mmabe stand zwischen seinen wenigen Habseligkeiten in der Sonne vor seinem Haus, der Sand erwärmte sich und als sie aus seinem Sichtfeld schwanden, setzte er sich auf die kleine Stufe und sah lächelnd hinüber zum Erdloch.