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Das erste Mal
Sie erinnert sich genau an den faszinierenden Moment, als sie das Meer das erste Mal sah.
Ihre Reise an die See begann am Abend vorher mit einer Kindergruppe aus Sachsen, die in ein Kinderferienlager der Baumwollspinnerei Mittweida auf Usedom fuhr. Sie fuhr als Ferienbetreuerin mit. Gemeinsam mit zwei Mitschülern hatte sie diesen begehrten Ferienjob ergattert. Inzwischen 18 Jahre alt, durfte sie nun als Helferin mitfahren und brauchte nicht mehr als Küchenhilfe arbeiten. Das Abitur war geschafft, der Studienplatz sicher, das Leben fühlte sich gut an.
Morgens um vier, als die Sonne aufging, fuhr der Zug am Achterwasser entlang, das wie ein Diamant in den ersten Sonnenstrahlen glitzerte. Zinnowitz, das Ziel, war nicht mehr weit.
Sie rannte sofort ans Meer, selber verwundert über diese grosse Sehnsucht, die auf keine realen Bilder zurückzuführen war. Zwischen den Kiefern tauchte das Meer auf. Kleine Wellen mit weissen Schaumkronen trafen auf den Sand, leckten ihn, liessen ihn dunkler werden. Dieses Blau! Es war viel schöner als in ihren Vorstellungen. Völlig verzückt stand stand sie am Waldesrand, schaute, ging jedoch nicht ins Wasser. Das wollte sie mit allen Sinnen geniessen, nicht auf die Schnelle.
Die zu betreuenden Mädels aus ihrer Gruppe waren nicht viel jünger als sie und das machte die Zusammenarbeit leicht und fröhlich. Die meisten von ihnen waren das erste Mal an der See und genauso begeistert wie sie.
In ihren Erinnerungen schien jeden Tag die Sonne und immer waren sie am Meer, badeten, kappelten sich und spielten Volleyball.
Das Lager wurde von mehreren Betrieben genutzt, so dass sie abends mit anderen Helfern in Kontakt kamen. Unter anderem war Jutta Müller, die Eiskunstlauftrainerin, mit ihren Schützlingen dabei. Sie selber wohnte nicht in der Baracke, sondern ausserhalb im Hotel. Ihr Assistent, ein freundlicher, interessant aussehender und sehr sympathischer Mittzwanziger, betreute die Eislaufgruppe in ihrer Abwesenheit. Sie war schnell in ihn verliebt. Am Abend sassen alle zusammen, tranken etwas, schäkerten oder verschwanden mit einer neuen Bekanntschaft in der Dunkelheit. Irgendeiner hatte die Idee, in eine Bar zu gehen und sie sollte mitkommen. Der Assistent, der sie ab und an gemustert, jedoch nie mit ihr gesprochen hatte, war auch dabei.
"Du kommst doch mit?", hörte sie ihn fragen. Sie erschrak.
Natürlich ging sie mit. Es war aufregend, neben ihm zu sitzen, aber sie legte ihre Hemmungen nicht ab. Der Alkohol liess sie etwas lockerer werden, aber die Hemmungen verschwanden nicht. Auf dem Rückweg machte einer den Vorschlag, noch baden zu gehen. Sie war sofort dabei, plötzlich aufgeregt und voller Vorfreude. Der Kiefernwald wurde durchquert, einer holte eine Flasche Wein hervor und liess sie kreisen. Sie trank nichts, sondern lief weiter. Die Stimmen wurden leiser, sie zog sich aus und lief nackt ins Wasser. Es war herrlich! Das Schwimmen war wie ein Schweben, leicht glitt sie durch das Wasser. Immer weiter schwamm sie hinaus. Irgendwann, auf dem Rücken liegend, suchte sie den Strand. Da war nichts zu sehen, es war ringsherum dunkel. Nichts zu hören. Sie versuchte, sich zu orientieren, vergeblich. Panik kam auf, noch leicht. Sie begann zu rufen, versuchte, die Bäume zu erkennen. Nichts. Sie überliess sich den leichten Wellen, hoffte, dass diese sie an den Strand tragen würden. Nach einer Ewigkeit hörte sie eine Stimme, erkannte die Richtung und schwamm dahin. Völlig entkräftet fiel sie in den Sand und in die Arme des Assistenten, fragte ihn, warum er nach ihr gesucht habe.
"Warum nicht?", kam als Antwort. Gern hätte sie gefragt, ob er bemerkt habe, dass sie ihn mag, er ihr gefiel.
Sie traute sich nicht.
Die restlichen Tage warfen sie sich Blicke und am Strand Bälle zu. Ihre Zuneigung war schon längst Verliebtheit.
Am letzten Abend sass sie spät und wieder in völliger Dunkelheit am Strand, um sich vom Meer zu verabschieden. Sie erschrak nicht, als er hinter sie trat, sie hochzog und küsste. Es sollte und musste so sein. Er umarmte sie, flüsterte zärtliche Worte, die sie nicht verstand, nicht verstehen konnte. Sie hörte nichts ausser dem Rauschen des Meeres, ihres Blutes oder war es ihre Erregung?
Sie fielen in den Sand, erkundeten ihre Körper, erzählten sich später aus ihrem Leben.
Im Lager wieder angekommen, ging die Sonne auf.
Ein letztes Mal für sie und ihn am Meer.