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Das Erwachen

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30.12.2002
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Das Erwachen

Ich erwache. Jedenfalls glaube ich, dass ich erwache. Ich kann meine Augen nicht öffnen. Alles ist dunkel. Warum kann ich meine Augen nicht öffnen? Wahrscheinlich, weil ich in Wirklichkeit gar nicht wach bin, sondern noch schlafe, und nur träume, dass ich wach bin.
Also muss ich jetzt alle Willenskraft zusammennehmen und versuchen, richtig wach zu werden. Ich reiße mit ungestümer Hilflosigkeit meine Augen auf, versuche, meine Lider zu heben. Ich strenge mich so sehr an, dass es schmerzt. Es bleibt dunkel.
Was nun? Soll ich mich damit abfinden, dass ich nicht aufwachen kann? Soll ich mich dem Schlaf ergeben?
Nein. Ich habe den Eindruck, seit Monaten geschlafen zu haben. Ich habe das ganz bestimmte Gefühl, dass ich jetzt wach werden muss, und wenn es mir nicht gelingt, werde ich für immer schlafen. Das ist dann so, als wäre ich tot. Ein plötzlicher Adrenalinstoß jagt mir einen eisigen Schauer über den Kopf! Bin ich tot? Wann habe ich mich schlafen gelegt? Wo bin ich überhaupt? Haben wir Sommer oder Winter, verdammt, ich habe keine Erinnerung mehr an gestern. Was ist los? Ich werde panisch, versuche wieder und wieder die Augen zu öffnen, es ist sinnlos, aussichtslos. Ein kleiner Anflug von Heiterkeit krabbelt sanft wie eine Ameise über mich hinweg. Ohne Aussicht aus meinen Augen ist es aussichtslos, sehr gut. Aber jetzt ist nicht die Zeit für Heiterkeit. Es ist zu dunkel und zu dumpf. Ich versuche, die Energie, die das Adrenalin in mir freigesetzt hat, in meine Augenlider zu schicken. Kurz vor dem Ziel versickert es irgendwo in mir und es bleibt dunkel. Ich spüre, wie ich in rasender Geschwindigkeit tief und immer tiefer in mich hineinfalle.

Ich erwache. Habe ich das nicht vor Ewigkeiten schon einmal erlebt? Oder war es vor ein paar Minuten? Ich erinnere mich, dass ich schon mal wach werden wollte, es mir aber nicht gelang. Wann war das? Warum ist es so dunkel? Ach so, ich habe meine Augen geschlossen. Ich versuche, sie zu öffnen. Es geht nicht. Ich habe keine Kontrolle über meine Augenlider. Gut, ich nehme das jetzt mal so hin, denn ich kann es im Moment nicht ändern. Konzentriere ich mich mal auf etwas anderes, zum Beispiel auf meine Hand. Ich bin sicher, zwei Hände zu haben, aber wo sind sie? Ich spüre sie nicht. Ich schicke meine Gedanken in die Richtung, in der ich meine rechte Hand vermute. Wieso spüre ich meine Hand nicht? Warum kann ich sie nicht öffnen oder wenigstens die Finger bewegen? Habe ich keine Finger mehr? Da, wo meine Hand sein sollte, fühlt es sich leer an. Ich muss einen Alptraum der allerschlimmsten Sorte haben. Anders kann ich mir das jetzt Erlebte nicht erklären.
Da! Ich spüre etwas Nasses an meiner Nase. Gott sei Dank, ich habe eine Nase, ja, ich kann sie ganz deutlich spüren. Ich bin überglücklich, wenigstens eine Nase zu haben. Meine eigene Nase. Und die Flüssigkeit an meiner Nase muss eine Träne sein, die aus meinen tauben Augen herausgelaufen ist. Ich kann die Bahn, die die Träne genommen hat, nachempfinden. Ich kann sie spüren. Aber das Auge, aus dem sie hervorgetreten ist, fühle ich nicht. Dafür empfinde ich eine tiefe Traurigkeit in mir, die mich rauschend übermannt und mit in die Tiefe reißt.

Ich erwache. Ich weiß, dass ich das mit dem Öffnen der Augen vergessen kann. Ebenso habe ich kein Gefühl in meinen Händen, aber dafür habe ich eine Nase. Ich versuche, mich auf meine Nase zu konzentrieren. Ich empfange einen Geruch, er ist stechend scharf und schmerzhaft. Halt! Ich möchte jetzt nicht wieder einschlafen, noch nicht. Erst muss ich herausfinden, was hier los ist. Dazu versuche ich, so gut es geht, den Geruch zu ignorieren. Ich bin ein Mensch, der seine Augen nicht öffnen und seine Hände nicht spüren kann. Jetzt wird mir klar, dass ich überhaupt nicht weiß, ob ich ein Kind oder ein erwachsener Mensch, ob ich männlich oder weiblich bin. Mit Entsetzen wird mir bewusst, dass ich absolut keine Ahnung habe, wer ich bin. Diese Erkenntnis trifft mich so schwer, dass ich mich gegen den Strudel in die Tiefe nicht länger zur Wehr setzen kann.

Ich erwache. Dieses Mal bin ich erstaunlich schnell wach, spüre meine Nase und sonst nichts.
Nun gut, ich muss mich weiter erforschen, es muss doch noch irgendetwas Spürbares an diesem Körper geben. Ich schicke meine Gedanken zu meinem Bauch. Bemerke ich etwas? Nein, ich würde mir selbst etwas vorlügen, wenn ich das behauptete. Weiter, was ist mit meinen Beinen? Habe ich Beine und Füße? Moment, was ist das für ein Gefühl? Ganz weit unten, da fühlt es sich so an, als kitzele mich jemand. Am Fuß. Ich habe einen Fuß. Und da juckt es. Es juckt höllisch, es ist ein absolut unangenehmes Gefühl, und ich kann mich nicht kratzen, ich kann nicht rufen, ich kann es nicht mehr aushalten! Da höre ich ein seltsames Geräusch, es hört sich an, wie ein Schrei unter Wasser. Was hat das zu bedeuten? Also, zum einen bedeutet es, dass ich über ein Gehör verfüge, ich kann hören! Das ist ein kleiner Trost, wo ich doch nichts sehe. Es baut mich immerhin soweit auf, dass ich das grässliche Jucken am Fuß in den Hintergrund schieben kann. Und nun spüre ich Flüssigkeit in meinem linken Ohr. Ich habe also ein Ohr. Wahrscheinlich ist mir eine weitere Träne aus meinem Auge ins Ohr gelaufen. Ich verspüre wieder eine grenzenlose Traurigkeit, fühle mich schutzlos und vor allem hilflos.
Ich befehle mir selbst, jetzt nicht durchzudrehen und den Verstand zu benutzen, um meine Situation zu analysieren. Was ist mit mir passiert? Hatte ich vielleicht einen schweren Unfall und liege nun in einer Art Wachkoma auf einer Intensivstation, angeschlossen an Schläuche und Apparate, stehe unter dem Einfluss von Drogen, die meine Schmerzen lindern und mich ruhig stellen sollen? Das wäre eine logische Erklärung. Ich horche auf alle Geräusche, die an mein Gehör dringen und langsam aber sicher kristallisiert sich ein Hämmern heraus, das im Hintergrund ständig zu hören ist. Das könnte von einer Herz-Lungen-Maschine oder irgend einem medizinischen Überwachungsgerät stammen. Das monotone und gleichmäßige Geräusch hat eine beruhigende Wirkung auf mich. Der Strudel kommt und reißt mich mit, sie haben mir wohl wieder etwas zum Wegdämmern gespritzt, ich will doch gar nicht schlafen.

Ich erwache. Eben hatte ich eine Vision, und sie war grauenvoll! Ich sah mich nach einem schweren Unfall in einem Sezierraum. Sie haben mir mit einer elektrischen Säge den Schädel aufgesägt und mein Gehirn entnommen. Dann haben sie mein Gehirn in ein Glas mit Formalin gelegt. Da liege ich nun drin und mir ist klar, warum ich meine Augen nicht mehr öffnen kann. Ich habe gar keine Augen mehr. Und der stechende, beißende Geruch, die Flüssigkeit in meiner Nase und meinem Ohr, das ist Formalin. Ich existiere nur noch als konserviertes Gehirn. Mein Glas steht in einer Reihe mit anderen Gläsern, die menschliche Organe und Missbildungen enthalten. Und davor wandern wissbegierige Studenten mit zumeist angewidertem Gesichtsausdruck herum.
Oder ist das gar keine Vision, ist das vielmehr die Realität? Nein, dieser Gedanke ist so schrecklich, dass ich ihn nicht weiter denken will. Ich will nicht! Holt mich hier raus und lasst mich zu Grunde gehen, damit es endlich aufhört.

Ich erwache. Was ist jetzt los? Ich spüre einen starken Druck, überall, unaufhaltsam, überwältigend, unsagbar. Es ist, als ob man mich durch ein Sieb pressen würde. Es ist nicht auszuhalten, was passiert mit mir? Hilfe, ich kann nicht mehr, es schmerzt, ich bekomme keine Luft, es wird auf einmal so kalt. Und es wird hell! Es wird so hell, dass es in meinen Augen schmerzt, ich habe also doch Augen. Und ich habe Hände, ich kann sie plötzlich genau spüren. Ich versuche mich festzuhalten, aber alles ist nass und ich rutsche überall ab. Ich spüre, wie an mir herumgezerrt wird, man will mich scheinbar auseinander reißen, es tut so weh. Ich fange an zu schreien, ich schreie aus Leibeskräften, sie stecken mir einen Schlauch in den Mund und saugen mir Schleim und Wasser aus der Lunge, Todesangst breitet sich in mir aus, und dann legt man mich an einen wunderschönen, warmen und weichen Platz. Ich spüre, wie ich von riesengroßen Händen ganz zart umfasst und liebkost werde, ich höre wieder das so mir vertraute Hämmern, bumbum, bumbum, bumbum…
Und ich höre die Stimme, die jetzt nicht mehr durch Wasser verzerrt klingt. Plötzlich weiß ich, jetzt wird alles gut werden, ich muss mir keine Sorgen und Gedanken mehr machen. Langsam komme ich zur Ruhe und kann die Verantwortung für mich abgeben. Ich bin endlich aufgewacht, ins Leben.

 

Moin, Barkai.
Gute Geschichte, wie ich finde. Du hast die Leiden eines Notfallpatienten gut rüber gebracht (wenn man es denn in dieser Weise nachempfinden kann). Besonders gefiel mir der Abschnitt mit der Vision (Gehirn im Glas). Die Wendung hatte ich nicht vorausgesehen. Sie brachte vor dem Ende eine neue Sichtweise und Schwung hinein.

Ein paar Sachen zum Text, die mir auffielen.

Ein kleiner Anflug von Heiterkeit krabbelt sanft wie eine Ameise über mich hinweg.
--> toller Satz.

Gut, ich nehme das jetzt mal so hin, denn ich kann es im Moment nicht ändern.
-->das Gut und so passt irgendwie nicht zum Rest des Textes, denn der besitzt kurze, prägnante Sätze, in denen der Protagonist unwissend ist und Angst erleidet. Mit dem Gut, ich nehme das jetzt mal so hin, verfällst du in einen saloppen Ton, der nicht zur Stimmung passt. Der Prot. sieht nichts (!), das nimmt man nicht einfach so hin. Meine Meinung. Besser würde einfach passen: Ich nehme notgedrungen es hin, denn ich kann es im Moment nicht ändern.

Konzentriere ich mich mal auf etwas anderes, zum Beispiel auf meine Hand.
--> Gleiches Problem in meinen Augen. Mein Vorschlag: Verzweifelt konzentriere ich mich auf etwas anderes, meine Hand.

Jetzt wird mir klar, dass ich überhaupt nicht weiß, ob ich ein Kind oder ein erwachsener Mensch, ob ich männlich oder weiblich bin.
--> Später erwähnst du spezielle technische Apparaturen und das Konservierungsmittel Formalin. Weiß so etwas ein Kind? Kann ein Kind so empfinden, wie du geschrieben hast? Vielleicht könnte man nur die Unwissenheit über das Alter erwähnen und sich nicht in Klassifizierungen wie Kind, Teen und Erwachsener festlegen.

Nun gut, ich muss mich weiter erforschen.
--> Hmm, ich weiß nicht so recht. Klingt komisch, mir fällt momentan aber auch nichts anderes ein.

Weiter, was ist mit meinen Beinen?
--> Das wort weiter würde ich weglassen. Klingt zu sehr nach Abhandlung, statt Leiden.

Wie gesagt, habe die Geschichte gern gelesen.
Beste Grüße,
Earl Hickey.

 

Danke fürs Lesen und Gedanken machen, und Danke für die konstruktive Kritik.
Was ich eigentlich mit der Geschichte erzählen wollte, ist aber gar nicht rübergekommen, wie ich jetzt bemerke. Es handelt sich auf jeden Fall nicht um einen Komapatienten, es soll etwas ganz anderes dahinter stecken. Vielleicht kommt man ja nach nochmaligem Lesen darauf.

 

Hallo Sabine, es steckt tatsächlich der Reinkarnationsgedanke hinter dieser Geschichte. Die Seele weiß Anfangs noch nicht, dass sie sich von ihrem alten Körper getrennt hat und entdeckt langsam den neuen, noch unfertigen. Zum Schluss erfärt sie aber durch die Geburt, dass sie in ein neues Leben hinein erwacht ist. Die Überlegungen sind nicht dem Embrio zuzuordnen, sondern der lebenserfahrenen Seele. Und in dieser Geschichte erlischt das alte Bewustsein erst in dem Moment völlig, wo die Seele die Verantwortung für sich selbst abgibt, an die Mutter, die ihr das neue Leben schenkt.
Danke für deine Gedanken, und dass du herausgelesen hast, was ich damit erzählen wollte.

 

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