- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 18
Das Experiment
Am Ende des Freitagabends, der manches in Frage stellte, reißt schließlich auch der Himmel entzwei. Als sie Rüdigers Weinstube verlassen, erreicht das Gewitter nahezu zeitgleich Friedelsheim. Schweigend gehen sie die Bahnhofsstraße entlang der Weinreben hinab zu den Gleisen, als der weiße Blitz aus dem Pfälzer Wald steigt, den Himmel durchtrennt und sekundenlang die Nacht verhöhnt. Die Abstände zwischen Lärm und Licht, Licht und Lärm werden kürzer, der Regen kommt plötzlich und heftig, sie rennen die letzten Meter bis zum Bahnsteig und sind völlig durchnässt, als sie das Wartehäuschen erreichen. Die feuchte Luft riecht würzig und schwer, nach Gras, nach Bäumen, es ist Sommer, immer noch.
Es ist beinahe halb zwei, die Rhein-Haardt-Bahn nahezu menschenleer. Martin wischt mit seinem T-Shirt die Regentropfen von seiner Brille, Simon zieht seine Ludwigshafen-Kappe tief in die nasse Stirn, Julia im Vierersitz gegenüber dreht wütend die Flasche Pinot Noir der Winzergenossenschaft Friedelsheim in ihren Händen, Simons Patenonkel Rüdiger hatte sie ihnen zum Abschied geschenkt.
Der Abend hatte entspannt begonnen. Sie ließen sich Hedwigs Käsespätzle schmecken, tranken Wein, den guten aus dem Jahrhundertsommer 2003, Rüdigers ganzer Stolz. Sie feierten Martins Verbeamtung, das Einjährige ihrer Wohngemeinschaft, Julias Trennung von Leonard, den die beiden Männer nicht ausstehen konnten. Sie waren endlich mal wieder beieinander, nur sie drei, ohne planen zu müssen, wer kochen und wer den Abwasch machen würde. Das Wochenende stand vor der Tür, Bilderbuchwetter war angekündigt.
Als Rüdiger später am Abend seine Schürze abstreifte, ein zusätzliches Glas holte und sich zu Simon und seinen Freunden setzte, waren die drei in eine Diskussion vertieft.
„Glaub mir“, sagte Julia zu Simon, „das merkst du. Egal, wo du sie triffst, an der Uni, in der Stadt. Jeder erkennt, ob er einen Theologen oder einen Juristen vor sich hat, ein Primi-Mäuschen oder eine BWLerin.“
„Worum geht´s?“, erkundigte Rüdiger sich amüsiert und füllte sein Glas.
„Um Klischees.“ Simon verdrehte die Augen. „Um nichts als Klischees.“
„Nein“, schaltete sich Martin ein, „ich denke auch, dass es einen Zusammenhang zwischen bestimmten Grundeinstellungen und dem Beruf gibt, meistens zumindest.“
„Apropos Grundeinstellungen.“ Rüdiger schmunzelte und öffnete eine neue Flasche Wein. „Lydia, meine Jüngste, hat mir neulich von einem Seminar an der Uni erzählt, Spieltheorie oder so was in der Art. Auf jeden Fall hat ihr Dozent von einem Experiment berichtet, das mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht.“
„Was für ein Experiment?“ Julia aß ihre letzten Käsespätzle und legte ihr Besteck beiseite.
„Es ist schon alt, ich glaube aus den 60ern. Zwei beliebige Menschen werden in der Fußgängerzone angesprochen und gefragt, ob sie bereit sind, ein kleines Spiel zu spielen, bei dem sie Geld gewinnen können. Die beiden haben sich vorher nie gesehen.“
Martin begann, aus Bierdeckeln ein Haus zu bauen.
„Als erstes wird derjenige bestimmt, der anfangen darf, rein zufällig. Sagen wir, es geht um 100 Euro. Der Beginnende darf festlegen, zu welchem Prozentsatz das Geld aufgeteilt wird – er alles, der andere nichts, oder umgekehrt, 50 zu 50, 70 zu 30, wie auch immer.“
„Und der zweite Spieler? Muss er sich mit dem abfinden, was der andere ihm zugesteht?“, wollte Simon wissen.
„Nein, muss er nicht. Das Ganze ist bewusst so konzipiert, dass beide voneinander abhängig sind.“
„Wodurch?“
„Spieler Zwei entscheidet, ob der Deal zustande kommt, ob er mit der Aufteilung einverstanden ist. Stimmt er zu, bekommt er den von Spieler Eins festgelegten Anteil. Lehnt er ab, bekommen beide nichts.“
„Nicht schlecht. Interessante Konstellation.“ Martin vergaß sein Bauwerk und lehnte sich zurück, Julia nippte an ihrem Weinglas, Simon schob die letzten Spätzle auf seinem Teller hin und her und sinnierte: „Spieler Eins sollte sich also gut überlegen, was er tut, wie weit er gehen kann, ohne dass der andere nicht mehr einwilligt.“
„Exakt.“ Rüdiger nickte. „Das ist das Experiment.“
„Rüdiger, ich brauche dich hinter der Theke“, rief Hedwig in diesem Moment ungeduldig. Rüdiger seufzte, klopfte kurz auf den Tisch und schlurfte in Richtung Zapfanlage davon.
„Die beiden kennen sich nicht und sehen sich anschließend nie wieder?“, rief Julia ihm nach.
„Richtig. Sie sehen sich das erste und einzige Mal im Leben“, bestätigte Rüdiger im Gehen. „Soweit man das jemals behaupten kann.“
Julia, Simon und Martin blickten sich an, beobachteten das Treiben in der Gaststätte, die essenden, redenden Menschen, die Frau am Zigarettenautomaten, den lesenden alten Mann mit seinem Collie unter dem Tisch, hörten die leise Musik im Hintergrund, irgendetwas deutsches.
„Was würdet ihr machen?“ Simon steckte sich einen Kaugummi in den Mund.
Julia überlegte einen Moment. „Keine Ahnung. Hängt glaube ich von der Person ab. Hab ich einen Obdachlosen vor mir, bekommt er mehr, als wenn es irgendein Schnösel im Anzug ist.“
„Außer er sieht aus wie Brad Pitt und lächelt dich an, oder?“ Martin grinste.
„Klar. Der bekommt alles, wenn er mich anschließend zum Essen einlädt.“
Martin schenkte Wein nach, holte einige Geldscheine aus seinem Portemonnaie, legte 80 Euro neben sich und 20 Euro in die Mitte des Tisches. „80 zu 20.“
„Wie, 80 zu 20?“ Simon sah Martin irritiert an.
„Ich 80, er 20, vielleicht noch nicht einmal das. Der andere kann froh sein, dass er überhaupt etwas bekommt.“
„Nicht dein Ernst, oder?“ Simon wechselte einen kurzen Blick mit Julia.
„Doch, sicher. Ich bin der Erste, ich darf entscheiden. Also gebe ich dem anderen genau so viel, dass er noch einwilligen wird. Nicht mehr.“ Martin grinste in die Runde, aber er meinte es ohne Zweifel ernst.
„Ach ja? Und was hast du dafür getan, dass du der Erste bist? Was hast du geleistet? Womit hast du das verdient?“, fragte Simon mit scharfer Stimme.
„Wie würdest denn du entscheiden?“, fragte sie ihn.
„50 zu 50. Egal, wen ich gegenüber habe. Ich habe nichts getan, um das Recht des Ersten zu verdienen, ich habe genau so wenig geleistet wie Nummer Zwei. Wir teilen gerecht.“ Simon nahm sich die 20 Euro von der Mitte des Tisches und zählte von Martins Stapel drei Zehneuroscheine ab.
„Julia, willst du dir anmaßen, zu entscheiden, ob der Banker wirklich nicht mehr auf das Geld angewiesen hat als der Penner, aus irgendeinem Grund?“
Simon sah Julia herausfordernd an, die nur seufzte.
„50 zu 50, definitiv. Alles andere wäre nicht gerecht.“
Martin faltete seine Serviette zusammen. „Gerecht, natürlich ist mein Weg gerecht. Wir reden hier von Chancengerechtigkeit. Überleg doch mal: Er hatte genauso viele Möglichkeiten wie ich, der Erste zu sein. Die Chancen standen 50 zu 50, also war es absolut gerecht. Er hat den Kürzeren gezogen, so ist das Leben.“
Julia stöhnte. „Ich finde, das hier hängt jetzt wirklich von der Situation ab. Wie dringend brauche ich das Geld? Das ist doch eine wichtige Frage.“
„Wie auch immer. Kein Grund, sich da so reinzusteigern. Ist doch nur ein Spiel. Und das gehört übrigens alles mir, ganz in echt.“ Martin sammelte die Geldscheine ein. „Wollen wir noch einen Kaffee trinken?“
„Was heißt hier nur ein Spiel?“, regte sich Simon auf. „Es geht hier um eine ganz elementare Fragestellung.“
„Ich geh mal aufs Klo“, sagte Julia und ließ die beiden alleine.
Rüdiger hatte an der Theke einzelne Diskussionsfetzen mitbekommen. Als Julia zurückgekehrt war, räumte er das dreckige Geschirr vom Nachbartisch auf ein Tablett.
„Ihr streitet euch doch nicht, oder?“ Sie schwiegen.
„Jemand Kaffee? Oder lieber einen Schnaps?“ Martin zuckte mit den Achseln, Julia musterte den Collie des Alten, wie er Wasser aus einer Schale schleckte, Simon starrte auf die beschmutzte Tischdecke.
„Ich sehe schon…“ Rüdiger stellte das Tablett ab und begann, ihre Teller ineinander zu stapeln.
„Ohne noch Öl ins Feuer gießen zu wollen - einen Aspekt habt ihr bisher völlig ausgeklammert. Was ist, wenn ihr der zweite Spieler seid? Wir reagiert ihr?“
Niemand wollte den Anfang machen und eine erneute Diskussion auslösen. Schließlich traf Rüdiger die Entscheidung.
„Simon?“
Simon räusperte sich. „Also gut. Ich nehme natürlich nur an, wenn der erste Spieler mir die Hälfte des Geldes zugesteht.“
„Simon…“, setzte Julia an und zog ihn zu sich heran.
„Nein, ernsthaft. Hier geht es nicht um Geld, es geht um die richtige oder falsche Entscheidung. Wieso begreift ihr das nicht? Ich habe euch gerade erklärt, warum für mich nur eine 50 zu 50 Aufteilung in Frage kommt.“
Martin schnaubte.
„Jede andere Variante wäre ein Fehler, das möchte ich ihn spüren lassen und daher nicht annehmen.“
„Also würdest du leer ausgehen und zum Beispiel diese 40 Euro ausschlagen, die er dir anbieten könnte.“ Martin legte erst einen und dann den zweiten zwanzig Euro Schein vor Simon auf den Tisch.
„Klar. Dafür habe ich die Chance, dass du begreifst, worauf es ankommt, und beim nächsten Mal gerechter handelst. Wenn es nicht nur um ein Spiel geht.“ Simon schob das Geld zurück zu Martin.
„Du überbewertest die Geschichte total.“ Martin schüttelte den Kopf und verstaute die Geldscheine wieder in seinem Portemonnaie.
„Was wäre bei 49 Prozent?“, fragte Julia.
„Das würde bedeuten, dass er von seinem Vorrecht Gebrauch macht, also: Nein, auf keinen Fall.“
Martin lachte spöttisch. „Simon, der große Weltverbesserer, was?“
„Wenn ich die Chance dazu habe, sicher. Und du? Raus damit, was machst du?“ Simons Stimme wurde aggressiv.
Martin nahm sich eines der Schnapsgläser, die Rüdiger mittlerweile auf den Tisch gestellt hatte.
„Die Frage stellt sich für mich nicht. Ich bekomme Geld geschenkt, aus heiterem Himmel, also nehme ich es und freue mich. Prost!“
Ein Kind fing an zu weinen, Hedwig kramte in einer Kommode nach einem Malbuch und Buntstiften, irgendwo kippte ein Stuhl auf den Boden.
„Egal wie viel? Wenn du nur einen einzigen Euro bekämst?“ Julia schob einige Servietten hin und her, der Hund begann zu bellen.
Martin stellte sein leeres Glas ab. „Völlig gleichgültig. Annehmen und auf den Kopf hauen.“
Simon erhob sich, stützte seine Arme auf den Tisch, einige Gäste drehten sich nach ihnen um.
Seine Stimme zitterte, als er sagte: „Weißt du was, mein Lieber? Ich glaube du hast gar nicht begriffen, worum es hier geht.“
Simon ließ zu, dass Julia ihn zurück auf den Stuhl zog, und verschränkte seine Arme vor der Brust. Hedwig klapperte in der Küche mit dem Geschirr, Rüdiger verabschiedete ein befreundetes Ehepaar.
„Julia?“, fragte Martin ruhig und schob den beiden ihre Schnapsgläser herüber.
Julia zögerte einen Moment und musterte Simon und Martin beinahe ängstlich.
„Kommt auch hier auf mein Gefühl an. Wieso gibt er mir das, was er mir gibt, was ist seine Motivation? Und was ist mit mir – brauche ich das Geld dringend oder brauche ich es nicht?“
Beide erschraken, als nach einigen Sekunden Simons Hand auf den Tisch knallte und er Julia anfuhr: „Wieso bist du nicht auf meiner Seite? Der erzählt so einen egoistischen Stuss. Wegen solchen Einstellungen ist unsere Gesellschaft so, wie sie ist.“
„Also, langsam werde ich auch sauer.“ Wütend guckte Julia die Männer an, Martin machte eine abwehrende Geste und zeigte auf Simon.
„Nein, auf euch beide. Dass ihr Sachen immer so pauschal entscheiden müsst. Richtig und falsch, die richtige Zeit um Musik zu hören, die falsche Zeit, der richtige Kerl für mich, der Falsche, was weiß ich. Was soll das? Das Leben ist nicht so schwarz-weiß.“
„Was hat das jetzt hier zu suchen, Julia?“ Martin blieb wie immer ruhig.
„Du musst auch mal Position beziehen, Julia, dein ewiges „It depends“ funktioniert bei so etwas nicht!“, zischte Simon.
Nun trank auch Julia ihren Schnaps.
„Und du, Rüdiger? Sag du doch auch mal was“, sagte Martin, als Rüdiger an den Tisch trat.
Rüdiger lächelte und legte seine Hände auf Simons Schultern.
„Ich? Ich glaube, dass dieses kleine Experiment eine der zentralen Fragen unseres Zusammenlebens berührt.“
„Und die Ergebnisse? Gab es Ergebnisse?“
„Ach, was schon für Ergebnisse. Hängt von der Höhe des Geldbetrages ab, hängt von der Gesellschaft ab, die haben irgendwelche Gegenproben in Lateinamerika gemacht, ist natürlich völlig anders ausgegangen. Ach so, und deshalb bin ich ja überhaupt darauf gekommen: Es gibt Unterschiede zwischen den Berufsgruppen. Zahlen hab ich vergessen, müsst ihr Lydia anrufen, wenn sie euch interessieren.“
Sie versuchten noch, das ein oder andere Gespräch in Gang zu bringen. Julia besuchte Hedwig in der Küche und ließ sich zu einem Stück Schokoladenkuchen überreden, Martin trank einen Espresso, Rüdiger räumte die Terrassenmöbel in den Schuppen und begann, den Boden zu fegen. Simon hatte einen alten Spiegel im Zeitungsständer entdeckt und war scheinbar in ihn vertieft.
„Es ist schon spät. Wollt ihr hier schlafen?“, fragte Rüdiger nach einiger Zeit. „Hedwig würde sich freuen.“ Sie hatten bereits bei Rüdiger übernachtet, zu dritt im Ehebett des Gästezimmers, mit Wein, Kissenschlachten und ausgedehntem Frühstück.
„Ich fahre“, sagte Julia und schaute auf die Uhr. „Die letzte Bahn kommt gleich.“ Simon und Martin schlossen sich an. Sie holten ihre Jacken von der Garderobe, umarmten Hedwig, umarmten Rüdiger und gingen hinaus in die Nacht.
Ab Ellerstadt lässt der Regen nach, der Donner wird leiser und die Blitze weniger, das Unwetter entfernt sich, sie lassen es hinter sich. Die Bahn fährt an Maxdorf vorbei, ohne zu halten, niemand will hinaus, niemand will hinein. Ein Betrunkener lallt vor sich hin, ein Liebespaar ist ineinander verhakt. Martin ist mit seinem Handy beschäftigt, Simon starrt auf die Landschaft, Julia hat die Augen geschlossen.
Die Blitze sind kaum noch auszumachen in der Ferne, als die Freunde die Rhein-Haardt-Bahn am Berliner Platz verlassen. Das Gewitter scheint Ludwigshafen verschont zu haben, das Kopfsteinpflaster ist trocken, die Luft drückend schwül, die Auflagen ruhen noch auf den Gartenstühlen.
Es ist einfach, wenn man denselben Weg hat. Man kann nebeneinander herlaufen, schweigend, ohne Entscheidungen treffen zu müssen. Man muss lediglich gemeinsam die Wohnung erreichen, die Zimmertür schließen, und hoffen, dass sich bis zum nächsten Morgen das Unwetter verzogen hat, vielleicht.