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Guest
Das Fliegen der Engel
Na toll. Mein Leben ist ein einziges Chaos: Meine Eltern wollen sich trennen, ich muss umziehen und habe keine Ahnung wohin. Was soll ich nun machen? Meine Eltern haben sich jeden Abend nur gestritten und das hörte man dann durch das ganze Haus bis hinein in mein Zimmer. Jeden Abend saß ich dann da und versuchte mich mit lauter Musik ab zu lenken, aber das ging natürlich nicht. Ab und zu weinte ich sogar. Es ist einfach unerträglich zu hören, wie sich die eigenen Eltern, mit die wichtigsten Personen in meinem Leben, anschreien und dann, wenn ich dazu komme, so tun, als ob nichts passiert wäre. Oft liegen dann Scherben auf dem Boden und meine Mutter, sie heißt Leonie, aber sie will nicht, dass ich sie so nenne, wischt sich eifrig vergossene Tränen weg, sodass ich auch ja nichts mitbekomme. Aber das ist schier unmöglich. Meine Ohren vergleichen andere oft mit denen der Hunde oder der Fledermäuse. Ich habe eine unglaubliche Menschenkenntnis, die andere oft unheimlich finden. Ich finde das alles andere als Angst einflößend. Ich bin stolz darauf so eine Gabe von Gott erhalten zu haben.
Aber nun wieder zum Thema! Meine Eltern sind endlich zu dem Entschluss gekommen sich zu trennen. Ich weiß nur nicht genau, ob ich mich freuen sollte oder mich auf ewig in meinem Zimmer einschließen und mich vor der brutalen Wahrheit verstecken sollte. Ein Teil in mir bestand darauf mich zu freuen, doch der andere verlangte das Gegenteil. Ich bin sehr verunsichert und habe überhaupt keine Ahnung, wie ich reagieren soll. Und außerdem: Wenn sie sich nun trennen sollten und getrennte Wege eingehen möchten, wo soll ich dann hin? Soll ich meinem geliebtem Vater folgen und mit ihm in eine neue, für mich wildfremde Stadt ziehen? Oder sollte ich meiner hilflosen Mutter ein wenig zur Hand gehen? Falls ich mich für meine Mutter entscheide, werde ich in eine sehr einsame Gegend komme, die für mich unbekannt sein wird. Ich denke, da werde ich mich nicht so wohl fühlen, wie in einer riesengroßen Stadt, wo es viele Möglichkeiten gibt unter zu tauchen.
Leonie machte wie jeden Morgen Frühstück und Mike, mein Vater, war bereits aus dem Haus um zu arbeiten. Er führte in einem sehr großen Unternehmen Namens Bilotion, eine Firma, die solche komischen Geräte herstellt, welche man eigentlich nie braucht, die Buchhaltung. Ich wollte ihn schon oft besuchen kommen, doch dazu ergab sich nie der beste Zeitpunkt [...].
Jedenfalls setze ich mich in meiner Schlabberhose und einem alten T-Shirt, so wie es meine übliche Schlafkleidung war, an den Küchentisch.
„Hast du gut geschlafen, Schätzchen?“, fragte sie mit einem Unterton, den ich nicht deuten konnte, während sie sich zu mir setzte.
„Es geht so.“, gab ich zu und schenkte uns beiden Kaffee ein.
„Du siehst müde aus.“
„Ich habe auch kaum geschlafen.“, murrte ich zurück.
Sie setzte einen ihrer überbesorgten Blicke auf und strich mir über die Wange. Ich wollte sie nicht verletzen, also versuchte ich nicht genervt zu reagieren und wollte das Thema wechseln.
„Ich habe mir überlegt heute einen Spaziergang durch den Wald zu machen. Hast du nicht Lust mit zu kommen?“, fragte ich und bemühte mich ein überzeugendes Lächeln hervor zu bringen.
Ich liebe Wälder. Ich liebe es die grünen Blätter der Bäume und Büsche zu betrachten und das grüne, helle und gleichzeitig so dunkle Licht auf meine Haut fallen zu lassen. Als ich kleiner war, bin ich so gut, wie jeden Tag dort gewesen, aber mittlerweile ist mir die Lust dazu vergangen. Deshalb habe ich mir vorgenommen, meinen Lieblingsplatz zu besuchen. Ich vermisse die bunten Blumenwiesen, den Duft der Natur und die Stille. Ab und zu läuft auch ein Reh oder ein anderes scheues Tier vorbei. Ich freue mich immer über jede Art von Tieren. Ich habe das Gefühl, sie können mich verstehen und mir dann Gesellschaft leisten, während ich über gewisse Dinge nachdenke. Sie sind ganz anders, als Menschen. Sie stellen keine Fragen und gehen nicht nach Äußerlichkeiten. Wenn man sie wegschickt, sind sie nicht gleich eingeschnappt und kommen immer wieder. Sie sind meiner Meinung nach eines der sympathischten Lebewesen, die ich kenne.
Ich habe schon oft versucht meine Eltern davon zu überzeugen, einen Hund oder eine Katze anzuschaffen, doch bisher war all meine Mühe unbelohnt geblieben.
Meine Mutter schaute mich verwirrt an. Ich erklärte ihr, dass ich mal wieder etwas in der Natur unternehmen wollte.
„ Naja “, begann sie und ich wusste sofort, dass sie nicht mitkommen würde.
„Ich habe gestern ein bisschen im Internet geguckt und da ist mir ein tolles Haus in der nähe von Phoenix ins Auge gefallen. Es wird dir sicher gefallen! Ich habe heute einen Termin mit der Hauseigentümerin gemacht. Ich hatte eigentlich gedacht, dass wir zwei heute dahin fahren würden..“, sagte sie mit einem flehenden Blick, den ich in meinem bisherigen Leben nur ein paar mal standgehalten hatte.
„Mom, du weißt, dass ich mich noch nicht entschieden habe mit wem ich gehen!“, warf ich ihr schnell vor um nicht nach zu geben und mich auf ihren Blick ein zu gehen.
„Ja, aber ich bin mir sicher, es wird dir dort gefallen! Es ist eine schöner, kleiner Ort, in dem du bestimmt ganz viele nette, neue Freunde finden wirst!“
Sie war ganz schön von sich überzeugt. Aber ich war mir noch total unsicher. Was solche schweren Entscheidungen betraf, ließ ich mir immer gerne Zeit um mich ja nicht für das falsche zu entscheiden.
„Mag ja alles sein, Mom, aber ich möchte lieber noch einmal alles überdenken, verstehst du?“
Sie verschärfte ihren Blick. „ Du musst ja nicht gleich einziehen! Es reicht völlig, wenn du dir das Haus und die Gegend mit mir anschaust, ja?“
Ich versuchte ihrem Blick aus zu weichen, aber es war bereits zu spät.
„Also gut!“, gab ich mich geschlagen und nahm einen Löffel von meinen Cornflakes.
„Super! Zieh dir bitte etwas schickes an, ja?“
Ich konnte ihr ansehen, dass sie sich sehr darüber freute, mit mir „unser neues zu Hause“ begutachten zu können. Und ich war jetzt schon angenervt und wollte nur noch meine Ruhe haben.
„Was verstehst du denn unter <was schickes>?“, wollte ich wissen.
Sie runzelte die Stirn und dachte eine Weile nach.
„Hmm...wie wäre es mit deinem neuen Rock und der schönen blauen Bluse? Ich finde es einfach wunderschön, aber du trägst es nie“, sie sah mich böse funkelnt an.
„Du weißt genau, dass ich mir nichts aus solchen Kleidern mache!“, warf ich ihr vor und im nächsten Augenblick bereute ich es auch schon wieder.
Immer, wenn ich Leonie etwas vorwarf, war sie gleich eingeschnappt und ich musste wiederwillig meine Meinung ändern und alles, was ich gesagt hatte zurücknehmen. Sie war einfach immer in der Lage mich zu etwas zu bringen, was ich nie im Leben getan hätte. Manchmal würde ich sie am liebsten dafür erwürgen, aber im Nachhinein, ging es fast immer gut aus.
„Okay, okay. Ich zieh es an. Aber wenn ich das anziehen muss, dann kaufst du mir auch dieses Buch OK?“ Sie nickte etwas unzufrieden, aber somit waren wir quitt.
Dieses Buch wollte ich schon so lange haben, aber bisher reichte mein Geld dafür nicht. Deshalb musste ich auch Leonie darum bitten, doch bisher war sie dagegen, weil sie der Meinung ist, das ich mich nicht immer in mein Zimmer verkriechen sollte, sondern auch mal an die Luft gehen und etwas mit Freunden unternehmen – so, wie ich es früher, als alles mit meinen Eltern noch okay war getan hatte. Aber nun hat sich halt nun mal alles geändert und damit muss sie leben, ob sie will oder nicht!
Das Buch handelte von einem Mädchen, welches in ihrer eigenen Welt lebt. Sie wird eines Tages Zeugin eines Gewaltverbrechens und begibt sich in große Gefahr, da die Verbrecher sie gesehen hatten und ihr nun dicht auf den Versen waren. Ich liebe solche Krimis. Dieses Buch, genannt <Im Wettlauf gegen den Tod>, war ein Bestseller und den musste man einfach gelesen haben. Unter anderem auch ich!
Zügig mampfte ich meine Cornflakes auf, spülte schnell ab und ging immer zwei Stufen auf einmal hinauf in mein Zimmer. Es war liebevoll eingerichtet. Eine Wand war in einem Aquamarin-Ton gestrichen, die da gegenüberliegende Wand ebenso. Die restlichen wie Wände waren in einem schlichten Karamell-Ton gehalten und eine davon mit zwei großen und offenen Fenstern geschmückt. Ich war sehr stolz auf meine große Stereoanlage, denn nicht jeder in dieser Gegend hatte jenes. Seit meinem 10. Lebensjahr war Mike der Meinung gewesen, dass ich einen Computer gut gebrauchen könnte. Deshalb stand jetzt an einer der aquamarin gefärbten Wänden ein großer, wunderschöner, alter Schreibtisch und darauf ein etwas veraltetes Gerät, was sich Computer nannte. Ich hasste ihn, da er immer Stundenlang brauchte um eine Internet-Verbindung auf zu stellen.
Zum Glück besaß ich einen Laptop, den ich zu meinem 16. Geburtstag geschenkt bekam. Ich habe mich riesig darüber gefreut und sitze oft davor um meine Gedanken zu sammeln und sie dann in ein „Computertagebuch!“ ein zu tragen. Anonym stellte ich diese Einträge dann ins Netz und bekam immer dutzende Kommentare, was ich hätte besser machen können oder wie ich mich nun verhalten sollte. Oft hilft es nicht wirklich, aber es tut gut, seine Probleme mit anderen Menschen teilen zu können. Ich fand es schon immer peinlich mit meinen Freunden, die mich richtig kannten über mein Lebensinhalt zu sprechen. Deshalb fällt es mir leichter sie aufzuschreiben und sie dann unter anderem Namen online zu stellen.
Ich ging in die Dusche, föhnte mir dir Haare und suchte die von Leonie ausgesuchten Klamotten heraus. Ich war immer noch unschlüssig, ob ich das wirklich anziehen sollte, aber das war mir das Buch wert. Als ich mich umgezogen hatte und meine Schminke auf meinem Gesicht platziert hatte, war ich der Meinung, dass ich gar nicht mal so schlecht aussehen konnte, wenn ich was aus meinem Typ machte. Wer weiß? Vielleicht würde ich jetzt öfters einen Rock tragen und mich schminken.
Als ich die Treppe hinunterkam konnte ich den Geruch von Leonies Parfüm schon von weitem riechen.
„Mom?“, rief ich.
„Ich bin im Bad!“, rief sie und winkte mit einem Handtuch aus der offenen Tür heraus. Ich ging zu ihr und war beeindruckt.
Sie trug ein wunderschönes weißes Kleid, welches mit ein paar rosé farbenen Rosen faziert war. Dazu trug sie eine wundervolle silberne Kette mit einem silbernen Stein umringt von verschnörkeltem Silber als Anhänger. Ihre Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengeknotet und ihn rechts über ihre Schultern baumeln ließ. Dadurch kamen ihre schönen, glänzenden dunkelbraun gelockten Haare zur Geltung. So habe ich sie das letzte Mal gesehen, als meine Tante geheiratet hat!
„Wow, Mom! Du hast dich ja anfgebrezelt! Hat das einen bestimmten Grund oder einfach nur aus heiterer Laune heraus?“ Ich grinste breit und vermutete schon, dass sie im nächsten Moment anfangen zu lachen, aber eher das Gegenteil passierte. Sie blieb ganz ernst und sah mich lächelnd an.
„Gefällt es dir?“, entgegnete sie und strahlte in ihr Spiegelbild. Sie war wirklich sehr stolz auf ihr Äußeres, das konnte ich ihr ansehen: Wie sie über ihre Locken strich um sie in die perfekte Position zu bringen, wie sie ihre Wimpern mit Wimperntusche nachstrich, damit sie schwungvoller wirkten, und wie sie ihre Zunge über ihre mit Lipgloss bestrichenen Lippen glitt.
All das hatte mich völlig aus dem Konzept gebracht, sodass ich mich erst einmal von ihrem wunderschönen Anblick reißen musste um einen klaren Gedanken fassen zu können.
„Es ist wunderschön!“, sagte ich, wo ich mir bei meinem Anblick recht hässlich vorkam. „Aber du hast doch einen Grund wieso das machst oder?“
„Vielleicht..“ Sie grinste und ich wusste, dass es einen Grund gab! Ich musste nur noch herausbekommen, was das war!
Leonie war so zu sagen das Ebenbild von mir, nur dass sie mir immer tausend mal hübscher vorkam.
Ich hatte dunklere Haare als sie. Meine Haarfarbe war nahezu pechschwarz und meine Haut in einem natürlichen, blassen rosa gehalten. Leonies Augenfarbe war tiefblau, was einen wunderschönen Kontrast zu ihren dunklen Haaren ergab. Blaue Augen und dunkel braune Haare gibt es nur sehr selten, aber meine Mom besaß dieses exotische Merkmal.
Meine Augenfarbe war im Gegensatz zu ihr eher langweilig. Sie waren tiefbraun, dass hatte ich von Mike, und um die Pupille war ein grün-gelblicher Rand erkennbar. Das gab den Anschein einer Sonnenblume, wie ich fand.
„Jessica?“ Plötzlich riss Leonie aus meinen Gedanken! Hatte sie mich etwas gefragt? Oder nicht?
„Mhm?“, fragte ich.
„Können wir los?“ Sie strahlte und in ihren Augen war dieses Glitzern, dass ich seit so vielen Jahren bei ihr vermisst hatte. Seitdem sie sich so gut wie jeden Abend mit Mike gestritten hatte, sah ich sie kaum noch glücklich. Sie hat nur sehr selten gelacht und wenn sie es tat, dann nur um zu überzeugen, dass sie nicht traurig war oder nicht mit Mike gestritten hatte. Aber das war immer nur halbherzig gewesen und leicht durchschaubar. Wenn ich sie so gesehen habe, war ich immer gleich mit traurig und meine gute Laune wurde wie von einem großen Felsen getroffen und zu Boden gerissen. Es war unerträglich einen Menschen, der einem so viel bedeutet, so leiden zu sehen.
Ich bin mir sicher, Leonie würde eine lange Zeit genauso am Boden zerstört sein, wenn ich nicht bei ihr wäre sondern stattdessen mit zu meinem Vater gehen würde.
Mike würde es hingegen sicher genauso gehen. Er spielte immer auf harten Kerl, der keine Gefühle zeigt, aber ich weiß, dass er tief innen drin einen sehr sensiblen Kern hat und wenn man diesen erst einmal getroffen hat, ist mit ihm nichts mehr an zu fangen.
Ich bin verzweifelt. Ich weiß nicht wohin mit meinen Gedanken. Noch nie zuvor in meinem Leben musste ich solch eine große Entscheidung treffen. Ich habe weder vor Leonie, noch Mike das Herz zu brechen! Aber einer muss wohl dran glauben!
Es muss doch eine andere Lösung geben! Hm... ich könnte einfach eine eigene Wohnung suchen, aber ich bin dazu viel zu unselbstständig. Mir würde der Haushalt hinterher hängen, ich hätte keine Zeit mehr mich mit Freunden zu treffen – was ich gewöhnlich nicht oft tat -, konnte meine Hausaufgaben nicht mehr machen, geschweige denn mich in mein Zimmer verkriechen und ein gutes Buch lesen oder meine Gedanken online zu stellen.
Das geht schon mal nicht. Gibt es noch eine andere Alternative? Eine, die es verhindert, dass das Verhältnis zu meinem Vater oder meiner Mutter nicht beeinflusst oder sogar zerstört? Nein. Ich muss mich entscheiden. Aber wofür?!
Die Autofahrt war lang und das dröhnen des alten Polo meiner Mutter rauschte so laut in meinen Ohren, dass es verhinderte meine Gedanken sammeln zu können. Jeder Versuch auf eine Idee zu kommen, scheiterte. Nach ca. einer halben Stunde gab ich es auf.
Eine weitere halbe Stunde verging, als wir endlich, nach langen Wegen, die umringt von Bäumen und Feldern, aber ab und zu auch einmal ein kleines Häuschen, waren, ankamen.
Nervös öffnete ich die Beifahrertür und stieg vorsichtig aus. Ich hob meinen Blick und sah ein einen riesengroßen Garten, welcher durch einen aus Kieselsteinen gelegten Weg in zwei Hälften geteilt wurde. Die eine Hälfte war mit einer großen Rasenfläche bestückt und zwei sehr hohe und sehr breite Bäume waren in der Mitte gepflanzt worden. Zwischen diesen Bäumen hing eine Schaukel, welche mit Sicherheit Platz für zwei Personen bot.
Fasziniert wandte ich meinen Blick nun der anderen Seite des Gartens zu. Sie wurde durch eine fünfzig Zentimeter hohe Hecke, die rund um des Anwesens verlief, abgegrenzt. In der Mitte stand ein großer Springbrunnen mit einer Marmorskulptur, die auf mich nahezu göttlich wirkte. Sie stellte einen Engel dar. Er war nicht sehr groß, aber wirkte wie allmächtig. Die kurzen Locken fielen Schwungvoll auf die nackten Schultern, die Augen waren geschlossen, aber dennoch wunderschön! Die Hände waren klein und sehr zart und ausgestreckt in Richtung Westen. Sie zeigten genau auf das Nachbarhaus, als ob er dahin gehen wollte. Der Engel war einfach zu perfekt, denn sogar seine Lippen waren sehr eben und hatten genau die richtige Fülle. Es schien so, als ob er gerade die Augen aufreißen wollte und etwas in diese Richtung schreien wollte.
Dieser Engel faszinierte mich eine ganze Weile und ich konnte einfach nicht meinen Blick von ihm nehmen. Er war so nah und doch so distanziert. Ich weiß nicht wieso, aber ich wollte ihn anfassen. Ich machte ein paar Schiritte vorwärts und meine Hand näherte sich langsam und zitternd den blassen, weißen Flügeln. Als ich ihn berührte, schrak ich zurück. Es fühlte sich so an , als ob mich ein Stromschlag getroffen hatte. Er durchzuckte meinen ganzen Körper und ließ jede einzelne Zelle zusammen zucken.
Ich machte einen Satz zurück, konnte aber der Negier nicht wiederstehen und wollte ihn gleich ein zweites Mal anfassen. Es war mir ein Rätsel, wieso diese Skulptur eine solch große Macht auf mich haben konnte!
Ich biss mir auf die Unterlippe und bewegte meine Hand wieder in Richtung des Engels.
Als ich ihn diesmal berührte, passierte nichts. Ich strich über die Wölbungen, die das Gefieder seiner Flügel ausmachten.
Ich hätte ihn noch ewig so bestaunen können, aber Leonie unterbrach mich: „Jessica?“
„Ja?“ Ich drehte mich um und sah sie vorne an den Treppen, der Veranda stehen.
„Komm! Lass uns das Haus ansehen gehen!“
„Ja, ich komme sofort, Mom!“ Ich strich dem Engel noch einmal sanft über die Augen, dann hinunter die Wange bis hin zu seinen Lippen. Sie fühlten sich sehr weich und zart an. Ich konnte mich kaum aus seinem Bannreißen, aber ich wusste auch, das Leonie auf mich wartete!
Ich lächelte kurz und rannte dann über die große Wiese, die Treppen hinauf, auf die Veranda.
Sie war genauso schön, wie der Garten. Ich wollte mich noch mehr umsehen, aber ich konnte Leonie nicht warten lassen. Außerdem wollte ich das Innere des Hauses auch noch begutachten.
Es war genauso eingerichtet, wie ich es mir gedacht hatte.
Die liebevollen Details an jeder Wand machten alles noch vollkommender und ich war mir sicher, dass dies mein Traumhaus war!
Aber die Sache musste doch auch einen Harken haben! Wer verkauft denn schon so ein wunderschönes Haus? Ich würde es niemals über Herz bringen so ein Gebäude an jemand anderen zu vergeben! Nicht so ein prachtvolles Exemplar wie dieses.
„Das hier könnte bald dein Reich werden, Jess!“
Leonie hielt mir eine Tür auf und ich ging hinein. Ich brauchte einen Moment um ein paar Mal zu blinzeln. Es war einfach...wunderschön! Alles an diesem immer wirkte einladend und ich konnte nicht fassen, dass das bald mein sein könnte!
„Mo-Mom?“ Ich brachte kaum noch ein Wort zu Stande.
„Was ist mein Liebling? Gefällt es dir etwa nicht?“ Nun verwandelte sich ihr Lächeln in einen traurigen und enttäuschten Blick.
„Im Gegenteil! Es ist...ich weiß nicht, was ich sagen soll! „ Ich konnte zwar nicht sehen, dass ich strahlte, aber ich kannte mich gut genug um es zu wissen.
„Da bin ich aber beruhigt! Stell dir vor mein Schätzchen, nur noch eine Weile und dann gehört all das uns beiden ganz allein!
Ich musste tief und laut hörbar schlucken um zu verarbeiten, was sie da gerade gesagt hatte.
<Uns beiden ganz allein>! Das hatte sie gesagt! Ich sprach die Wörter in Gedanken noch mal ganz langsam und deutlich um mich zu vergewissern, dass ich nicht doch etwas falsch verstanden hatte. Aber das hatte ich nicht! Sie hatte gesagt <uns beiden ganz allein!> Nur Leonie und ich. Kein Mike, der uns das Leben schwer macht und uns immer überrascht. Kein Mike, der immer zutiefst besorgt ist, wenn wir alleine abends wegfuhren. Kein Mike, der mich jeden Morgen bevor er zur Arbeit fuhr weckte. Ein Leben ohne Mike. Ein Leben ohne Vater. Das konnte ich nicht! Ich kann nicht ohne meinen Vater leben! Das geht einfach nicht!
Plötzlich hörte ich einen Schrei. Es klang so, als ob jemand nicht mehr weiter wüsste und einfach alles herausschreien müsste. Erschrocken sah ich mich im Raum um.
Ich merkte erst jetzt, dass ich auf dem Boden saß und ich diejenige war, die geschrieen hatte. Ich war die jenige, die nicht mehr weiter wusste! Ich war es, die am Boden zerstört war und einfach alles aus sich heraus lassen musste.
Leonie kniete sich sehr besorgt zu mir und in ihren Augen stand ihre Erschrockenheit und ihre Befürchtung, etwas falsches gesagt zu haben, deutlich geschrieben.
„Jess? Alles okay? Jess, hörst du mich?“
Ich nickte nur und richtete mich auf.
„Was ist denn los? Tut dir etwas weh? Bist du verletzt? Nun red doch schon! Jessica?!“
Ich wollte sie irgendwie beruhigen, doch ich wusste einfach nicht wie.
Bin ich verletzt? Eigentlich ja, aber... ich konnte nicht mehr klar denken. Und ehrlich gesagt wollte ich das auch gar nicht! Meine Stimmung schwang innerhalb weniger Sekunden auf den tiefsten Punkt, den ich mir nie hätte erträumen lassen.
„Jessica, nun antworte doch! Was ist denn los?“
Ich schüttelte meinen Kopf damit meine Gedanken sich sortieren konnten.
„Wenn du hier nicht einziehen möchtest, dann suchen wir zwei uns einfach ein anderes Haus, hörst du? Jessica?“ Sie hoffte vergeblich auf meine Antwort.
Schon wieder ging mir etwas nicht aus dem Kopf, das sie gesagt hatte. <wir zwei>! Ich kann nicht ohne Mike! Ich kann einfach nicht! Mein Kopf wurde heiß und in meinem Magen drehte sich alles.
Die Stimmen um mich herum wurden leiser. Bis ich sie nicht mehr hören konnte. Ich starrte an die Decke und ließ alles hinter mir zurück, was passiert war. Zumindest versuchte ich es. Vergeblich! In meinem Kopf schwirrte es immer mehr und auch schneller als zuvor. Einfach unerträglich für einen so zarten und zerbrechlichen Menschen wie mich, der mit seinen 17 Jahren noch nie verletzt worden war. Zu mindest seelisch noch nicht.
Ich war schon oft im Krankenhaus. Oft sogar für mehrere Tage oder Wochen. Meist war es wegen meinem Asthma, aber einmal war ich auch dort gewesen, weil ich von einem Auto angefahren worden war und so viel Blut verbraucht hatte, dass die Ärzte um mein Leben gekämpft haben mussten, als wäre ich Madonna oder sonst eine Berühmtheit. Ich frage mich bis heute, warum sie mich nicht einfach haben sterben lassen. Wahrscheinlich hatten sie das auch vor, aber Mike war dagegen, Leonie natürlich auch, aber wie ich sie kenne hat sie kein Wort gesprochen und einfach hoffnungsvoll an irgendeinen Punkt im Wartezimmer gestarrt hatte, während sie mich operierten. Jedenfalls würde Mike, so wie ich meinen Vater kannte, den Ärzten so viel Druck machen und vor Sorge um mich fast selber sein Leben verlieren, dass die Ärzte gar keine andere Wahl hatten , als mich überleben zu lassen.
Meine Eltern waren immer so glücklich. Und ich mit ihnen. Wenn es ihnen gut ging, dann ging es mir auch bestens. Immer war ich um das Wohl meiner Eltern besorgt und habe kaum an mich gedacht. So auch heute und die letzten Wochen.
Leonie und Mike wollten sich trennen. Ich mache mir Sorgen, wie es den beiden ohne mich wohl gehen wird und wie fertig sie sein werden, doch mich habe ich dabei immer außen vor gelassen.
Jetzt jedoch war es anders. Mein Atem war unregelmäßig und ich konnte nur noch daran denken, wie ich ohne eine meiner beiden anderen Hälften leben sollte. Es war schier unmöglich sich so etwas vorstellen zu können, doch ich machte das unmögliche mal wieder möglich und schlug mir selbst einen Feil in die Brust. Ein tiefes Loch zog all meine Organe und alles um und in ihnen zu einem fetten Kloß zusammen, welcher augenblicklich zerplatzte und in meine Seele schoss. Es fühlte sich an, wie ein riesiges Loch. Ein Loch, dass nie hätte wieder geflickt oder ausgestopft werden können. Ein Loch, so groß, wie die Sonne und so schmerzhaft, wie 10 gebrochene Rippen, wenn nicht sogar schlimmer.
Meine Augen waren geschlossen und ich hatte nicht vor dies zu ändern. Ich wollte nicht die feuchten und besorgten Augen meiner Mutter erspähen. Es wäre noch ein Schlag in meine Brust und dieser wäre dann ausschlaggebend für meinen Tod. Und das konnte ich den beiden einfach nicht antun. Schon wieder: Ich dachte nicht an mich, sondern nur an Leonie und Mike. Wieso konnte ich kein bisschen egoistisch sein? Nur ein kleines bisschen?
Nach ein paar, wie es mir vorkam, Minuten öffnete ich meine Augen und sah in die Augen meiner Mutter. Sie sahen genauso aus, wie ich sie mir gerade eben erst vorgestellt hatte. Und wirklich, etwas spitzes stach in meine Brust, durch die Knochen und brutal in mein Herz, bis es schließlich in meiner Seele ankam. Es fühlte sich an, als ob ich jeden Moment sterben würde, aber vergebens.
Der Boden vibrierte unter mir, jedoch lag es nicht an einem Erdbeben, sondern an mir. Ich zitterte am ganzen Körper. Was sollte ich nun tun? Die Wahrheit sagen? Nein, das konnte ich nicht übers Herz bringen. Es gab nur eine Möglichkeit all dem zu entkommen. Ich musste fliehen.
Ich rannte. Zuerst die Treppe hinunter, wobei ich wegen meiner Tollpatschigkeit beinahe hingefallen wäre und dann wäre es zunichte mit meiner Fluchtaktion. Ich rannte immer weiter und weiter. Ich wusste nicht, wo ich hier war und wo ich hingehen sollte. Aber das war mir auch egal. Ich wollte nur weg. Weg von hier, weg von dem Engel, den ich nun doch nicht mehr wunderschön, sondern total anekelnd und hässlich fand.
Nach einiger Zeit war ich müde geworden und meine Beine wollten auch nicht mehr. Ich gab es auf und ließ mich auf einer Bank an einem See nieder. Es war viel Zeit vergangen, denn am anderen Ende des Wassers ging gerade die Sonne unter. Die gelb, rot und orange leuchtenden Farben der Sonne spiegelten sich auf dem glitzernden Wasser wieder und blitzten direkt in meine Augen. Ich kniff sie zusammen, aber schon im nächsten Moment riss ich sie weit auf.
Wo war ich hier? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, welchen Weg ich eingeschlagen hatte. Alles kam mir plötzlich so verdammt lange her! Ich wusste nicht einmal mehr, sie lange ich gerannt war. Ich wusste einfach gar nichts mehr. Nur eines, daran kann ich mich noch genau erinnern: Der Blick meiner Mutter!
Ich konnte es nicht verkraften sie so zu sehen. So am Boden zerstört, so am Ende. Es reichte völlig, wenn ich es war.