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Das Foto
1: Die Wahrsagerin
„Ich kann es nicht genauer sagen. Es tut mir Leid, das ist alles, was ich sehe.“ Die Frau sah besorgt aus. Auf ihrem Gesicht konnte man deutlich die Spuren des Alters erkennen. Tiefe Augenringe und eine raue, faltige Haut verrieten, dass sie in ihrem Beruf schon sehr erfahren sein musste.
„Ich wusste, dass man auf diesen Mist nicht vertrauen kann. Ich sehe für Sie in die Zukunft... Natürlich, Sie wollen einem doch nur das Geld aus der Tasche ziehen, das ist alles.“ Kayla war wütend über das, was sie da gerade von der alten Wahrsagerin gehört hatte, aber zugleich war sie verwirrt und erschrocken, weil sie nichts damit anfangen konnte.
„Sie werden auf einer Fotoübertragung sterben... das ist alles, was ich sehe.“ sagte die alte Frau noch einmal. „Ich weiß auch nicht, warum ich es Ihnen nicht genauer sagen kann, es ist nicht so wie sonst, ich sehe alles nur verschwommen, wie...“ Sie überlegte einen Moment, bevor sie weitersprach. „Ich weiß es nicht. Alles ist unklar und ich sehe nur diese Worte Sie werden auf einer Fotoübertragung sterben vor mir.“
„Wie soll das denn überhaupt gehen? Man kann nicht auf einer Fotoübertragung sterben. Heißt es nicht vielleicht bei, statt auf einer Fotoübertragung? Ich meine, nicht, dass das nicht schon unrealistisch genug wäre, aber dann gäbe es wenigstens einen Sinn...“
Die alte Frau schüttelte langsam den Kopf. Sie saß in einem weich gepolsterten Eichensessel. Der wiederum stand in einem seltsamen, sehr atmosphärischen Raum. Die Wände waren dunkelrot tapeziert, überall hingen Kerzenleuchter und kleine, goldumrahmte Bilder (allerdings in schlechter Qualität) von Personen, die Kayla noch nie gesehen hatte. Sie selbst saß der alten Wahrsagerin fast gegenüber und zwischen ihnen stand ein kleiner Tisch, der ebenfalls aus Eiche gefertigt war und auf ihm glänzte die gläserne Kugel, die die alte Frau bis vor fünf Minuten immer wieder bearbeitet hatte.
„Ich kann Ihnen nur das sagen, was ich sehe.“ sagte sie sichtlich angestrengt.
„Vielleicht sollten Sie sich eine neue Brille besorgen.“ antwortete Kayla gereizt und stand auf, um zu gehen.
„Sie sollten sich aber keine allzu großen Sorgen machen.“ sagte die alte Frau.
„Ich mache mir überhaupt keine Sorgen!“ protestierte Kayla, aber das war gelogen. Die Wahrsagerin hatte genau ins Schwarze getroffen. Sie hatte Angst, sie war besorgt und verwirrt.
„Kommen Sie, setzen Sie sich wieder. Ich möchte versuchen, Ihnen Ihre Angst nehmen.“ Kayla ging wiederwillig zu ihrem edlen Eichenstuhl zurück und ließ sich auf die roten Polster nieder. „Dafür bezahle ich aber nicht extra...“ sagte sie, um ihren unantastbaren Schein aufrecht zu erhalten. Die alte Frau aber lächelte nur, als ob sie Kayla kennen würde und wüsste, was sie in diesem Moment fühlte.
„Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Nun, was ich in der Kugel gesehen habe, war nur ein sehr vages Bild. In den meisten Fällen hat so etwas nur sehr wenig Wahrheitsgehalt. Das kann praktisch alles bedeuten. Vielleicht verlieren sie nur ein Bild von sich, oder es passiert gar nichts...“
„Meinen Sie? Aber warum nennen Sie sich Wahrsagerin, wenn ich letztlich nicht schlauer bin als vorher?! Offenbar können sie nichts, was ich nicht auch könnte.“
„Kayla, es gibt Tage, an denen funktioniert das Voraussagen der Zukunft nicht so gut wie an anderen. Es hängt von dem Willen der Kunden ab, von der Verbindung zwischen Jenseits und Diesseits und von so vielen anderen Faktoren. In Ihrem Fall war es einfach ungünstig, ich kann es mir sonst auch nicht erklären. Selbstverständlich werde ich Ihnen hierfür nichts berechnen; Sie haben ja nicht das bekommen, worum Sie mich gebeten haben. Wir können es an einem anderen Tag vielleicht wieder versuchen, wenn Sie wollen.“
Kayla stand auf. „Ich glaube nicht. Das mit der Wahrsagerei ist nichts für mich.“ Auch die alte Frau stand schwerfällig aus ihrem Sessel auf und gab Kayla die Hand.
„Aber ich muss mir wirklich keine Sorgen machen, auf einer Fotoübertragung zu sterben?“
„Weder auf, noch bei, noch sonst irgendwie. Bleiben Sie ganz ruhig. Sie sind in Sicherheit, soweit ich das beurteilen kann. Dafür war das Bild zu undeutlich.“
Sie verabschiedeten sich und Kayla stieg in ihren Wagen ein, den sie am Straßenrand geparkt hatte. So ein Blödsinn aber auch, dachte sie. Aber wenigstens hatte die seltsame Frau kein Geld von ihr verlangt. Dennoch wollte sie von dieser ganzen Wahrsagerei nichts mehr wissen und sich erst recht nicht davon den schönen, sonnigen Samstag kaputt machen lassen. Gerade wollte sie demonstrativ die Fenster ganz herunterkurbeln, als ihr wieder einfiel, dass daran irgendetwas nicht in Ordnung war und sie sich nur einen Spalt breit öffnen ließen. Sie musste das dringend reparieren lassen. Aber auch dadurch wollte sie sich ihre Laune nicht verderben lassen. Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss herum und schaltete das Radio ein. Dann griff sie ins Handschuhfach und holte ihren kleinen Block heraus, auf dem sie aufgeschrieben hatte, was sie heute zu tun hatte. Sie tat das seit einiger Zeit, da sie trotz ihres noch jungen Alters immer wieder Dinge einfach vergaß. Aber das hatte sie schon immer gehabt, seit ihrer Kindheit. Hinter den Begriffen Supermarkt, Reinigung, Gardinenstange (3,50m) stand bereits ein dicker, roter Haken. Sie suchte auch den Filzstift aus dem Fach und setzte auch hinter das Wort Wahrsagerin einen Haken; dabei schüttelte sie noch einmal ungläubig den Kopf.
Doch dann spürte sie einen Klos im Hals, als sie den nächsten Punkt auf der Liste las: Fotos abholen.
Sie überlegte kurz, nahm dann den Stift zur Hand und strich es durch. Sie war zwar nicht abergläubisch, aber man brauchte das Schicksal ja auch nicht herauszufordern...
2: FERKEL
Kayla lies die Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen. Mittlerweile ärgerte sie sich darüber, dass sie die Fotos nicht abgeholt hatte. Es waren die Bilder vom Spanien-Urlaub im letzten Sommer. Das war jetzt fast jetzt über ein Jahr her und sie war nie dazu gekommen, den Film entwickeln zu lassen; sie hatte es sich zwar oft vorgenommen, aber dann meistens einfach wieder vergessen.
Sie zog ihre Jacke aus, warf ihre Schlüssel beiläufig auf die Kommode im Flur und zog die schwarzen Schuhe aus. Alles erledigt für heute. Auf Socken lief sie über das sonnengewärmte Parkett-Imitat im Wohnzimmer zum Computer, der vor dem großen Fenster stand und sich immer mehr zu ihrer Lieblingsbeschäftigung entwickelte. Sie drückte den Power-Knopf und lief weiter in die kleine Küche, wo sie den Wasserkocher anstellte. Dann ging sie summend wieder zurück ins Wohnzimmer und schaltete dort die Stereoanlage ein. Sie legte ihre Lieblings CD ein und sang sofort laut mit, als die ersten Töne von I Will Survive erklangen. Danach lief sie ins Schlafzimmer ihrer kleinen Wohnung, zog die enge Hose aus und dafür eine bequeme, weite Jogginghose an. Mittlerweile kochte das Wasser und sie begab sich wieder in Küche, machte den Kaffee fertig – ein Teelöffel Zucker, keine Milch – und schlurfte singend auf ihren Socken wieder zu ihrem PC zurück, der in der Zwischenzeit hochgefahren war.
Bald erklangen die lieblichen Töne des Modems und sie klickte auf den obersten Link in ihrer Favoriten-Liste. Sie hatte sonst nicht viel vom Chatten gehalten, aber nun war sie fast süchtig danach und nicht zuletzt, weil sie dort jemanden aus ihrer Stadt kennen gelernt hatte, der sie mehr und mehr faszinierte.
Nachdem Kayla in das Feld mit der Überschrift NICKNAME den Namen miss-tery eingegeben hatte – den sie im Übrigen selbst für äußerst geistreich hielt – und darunter ihr Passwort, befand sie sich wieder in ihrem geliebten Single-chat. Es war 18.34 Uhr, sie war also nur vier Minuten zu spät zu ihrer täglichen virtuellen Verabredung mit diesem faszinierenden Fremden aus ihrer Stadt gekommen.
„Hey piglet, hab dich vermisst“ schrieb Kayla. Piglet hieß er; Ferkel. Das hatte sie neugierig werden lassen. Sie war begeistert von dem Gedanken, jemanden so gut zu kennen, ohne ihn jemals gesehen zu haben.
„Hey missy, du bist zu spät! Du verdienst was auf den allerwertesten...*g*“ schrieb er zurück. Sie lächelte, trank einen Schluck Kaffee und sang während sie ihre Antwort tippte lauthals die Zeile oh no not I - I will survive, yeah yeah mit.
„Du glaubst nicht, wo ich heute war!“
„Du hast in einem Sexshop Handschellen und Peitschen gekauft und besuchst mich gleich damit...“
„ *lol* Knapp daneben! Ich war bei dieser Wahrsagerin, die du mir empfohlen hast... Ein verrücktes altes Biest...“
„Und, wirst du die nächsten Jahre nach einem Lottogewinn und gesundheitlicher Glückseeligkeit im Paradies auf Erden verbringen?“
Sie überlegte kurz, ob sie ihm überhaupt von diesem merkwürdigen Vorfall erzählen sollte, aber dann glaubte sie, dass die Geschichte wenigstens einen gewissen Unterhaltungswert hatte. Sie trank noch einen Schluck Kaffee und tippte weiter.
„Die Diagnose lautete: SIE WERDEN AUF EINER FOTOÜBERTRAGUNG STERBEN... HUHU! “
„Was soll das denn heißen?“
„Ich hab keine Ahnung...“
„Ach was, eigentlich hatte ich die für ganz zurechnungsfähig gehalten, aber manchmal sind Menschen eben anders, als sie zu sein scheinen... aber da fällt mir gerade noch etwas anderes ein *drohenddenzeigefingerheb*“
„a-ohhh... ich glaub’, ich ahne es!“
„Wo warst du gestern um 18.30? Ich hab dich vermisst!“
Kayla war gestern Abend nach einem harten Arbeitstag auf dem Sofa eingeschlafen und hatte ihren täglichen Termin verpasst. Obwohl sie ganz allein vor dem Computer saß, lief sie leicht rot an, weil sie ihr Ferkel gestern versetzt hatte.
„Ich --- äh --- ich --- es tut mir sooooooooooooooo leid! Kannst du mir noch einmal verzeihen? Nur noch dieses eine mal. BITTEEE!“
„....*beleidigtschweig*.....“
„BITTTTEEEEE“
„Na gut, aber da gibt es eine Bedingung.“
„Ich tu alles, was du willst!“
„Ähm... kannst du mir nicht etwas von dir schicken? Die Hemd mit die Parfüm von letzte Nacht, oder die Sekt, die so schön hat geprickelt... in mein Bauchnabel.. oder ein Nacktfoto von dir!“
Wieder konnte Kayla sich ein Lächeln nicht verkneifen, aber ihr war auch irgendwie unwohl dabei. Sie überlegte eine Weile, was sie ihm antworten sollte.
„Du willst ein Nacktfoto? Du Ferkel...!“ war das Beste, was ihr einfiel. Sie war verunsichert.
„Es muss ja kein Nacktfoto sein, aber langsam interessiert es mich schon, mit wem ich es eigentlich zu tun habe. Geht es dir nicht ähnlich?“
Sicher ging es ihr ähnlich. Aber andererseits auch wieder nicht. Sie mochte diese Anonymität und das Geheimnisvolle. Eigentlich wusste sie gar nicht, was sie wollte.
„Ich weiss nicht... gibst du mir eine Nacht Bedenkzeit?“
„Klar, wenn die Aussicht auf ein Bild von dir besteht, nimm dir alle Zeit der Welt, aber denke dran... Jeder Tag könnte dein letzter sein! Jeder einzelne Tag, vergiss das nicht!“
„Hör auf damit, ich hab schon Angst genug wegen dieser Wahrsagerin und der Foto-Sache... Also bis morgen!“
Sie fuhr den Computer wieder herunter, stellte die Stereoanlage ab und brachte den nicht mal zur Hälfte getrunkenen Kaffee in die Küche und goss ihn ins Spülbecken. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch setzte Kayla sich vor den Fernseher. Langsam wurde es dunkel draußen. Sie wusste nicht, wovor sie sich mehr fürchtete, vor der Preisgabe ihrer Identität oder vor dem, was die alte Frau ihr über diese seltsame Fotoübertragung erzählt hatte. Andererseits, wenn sie ihm ein Foto von sich schicken würde und es überlebte – haha, dachte sie, wie soll ich das nicht überleben?! Wo ist dabei das Risiko? -, dann wüsste sie, dass sie die verrückte Wahrsagerin aus ihren Gedanken streichen konnte. Dann hätte sie wenigstens Gewissheit. Sie konnte ja auch nicht ihr ganzes Leben lang mit einer panischen Angst vor Fotos herumlaufen. Ja, sie würde ihm ein Foto schicken.
Aber wenn nun doch etwas dran war? Wenn die alte Frau tatsächlich ihre Zukunft vorausgesagt hatte? Es passte doch genau: sie hatte eine Fotoübertragung vorausgesagt und am gleichen Abend hatte ihr Ferkel sie gefragt, ob er ein Bild von ihr haben könnte...
Aber das konnte genauso gut ein Zufall sein. Zufälle geschahen eben täglich. So wie sie vor einigen Tagen das Lieblingslied ihrer vor einem Jahr verstorbenen Mutter gleich zwei mal am selben Tag im Radio auf verschiedenen Sendern gespielt hatten, obwohl Kayla es davor über vier oder fünf Jahre nicht mehr gehört hatte. So war das Leben halt. Voller Zufälle.
3: Das Foto
Kayla hatte, wie sie es bei Aufregung gewohnt war, schlecht geschlafen. Sie hatte sich die ganze Nacht immer wieder von einer auf die andere Seite gerollt, das Fenster zwei mal geöffnet und wieder verschlossen, das Kopfkissen aus dem Bett geworfen und wieder zurückgeholt und höchstens vier Stunden Schlaf bekommen. Aber trotz ihrer Zweifel stand ihr Entschluss fest: sie würde ihrem Ferkel ein Foto schicken. Sie wusste auch schon, welches.
Sie hatte vor einigen Monaten professionelle Bilder von sich machen lassen. Wunderbare Portraits, die ihre strahlend blauen Augen hervorhoben und die vollen Lippen betonten. Das waren die ersten Fotos, auf denen sie sich selbst gefiel.
Es war fast 16.00 Uhr und Kayla hatte den ganzen Tag nur herumgelungert, ferngesehen und versucht, ein wenig von dem verpassten Schlaf nachzuholen, jedoch vergebens. Obwohl es ein wunderschöner Sonntag war, fühlte sie sich irgendwie nicht so recht. Da war immer noch dieses merkwürdige Gefühl im Magen, ein Gefühl, dass sie auch gehabt hatte, kurz bevor sie die Nachricht vom Tod ihrer Mutter vor einem Jahr erhalten hatte. Sie hatte damals irgendeine Ahnung, dass bei diesem Rückflug aus Frankreich etwas schief laufen würde und sie hatte Recht behalten. Die Maschine war abgestürzt und alle Passagiere waren qualvoll verbrannt. Sie versuchte, diese beängstigenden Gedanken aus ihrem Kopf zu verdrängen, aber sie kamen immer wieder hoch.
Plötzlich warf sie die Decke zur Seite, unter der sie es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte und stand entschlossen auf. „Bring es hinter dich!“ sagte sie laut in ihr Wohnzimmer hinein. Sie ging zum Computer, startete ihn und ging wieder ins Internet. Am Sonntag war ihr Ferkel fast den ganzen Tag online – eigentlich verrückt, wenn man jeden Sonntag fast ausschließlich vor dem Computer verbringt, dachte sie, aber er war trotzdem kein Freak. Dafür war er einfach zu nett...
Und wie sie es erwartet hatte, war er bereits im Chat.
„Servus, missy! Ausgeschlafen?!“ schrieb er.
„Ganz im Gegenteil... aber wenigstens hatte ich die Nacht zum Nachdenken!“
„Nun mach’s nicht so spannend! Gibt die miss-tery ihre mysteriöse Identität preis?!“
Sie atmete einmal tief ein und wieder aus. Dann schrieb sie weiter.
„Du kriegst dein Foto... Wenn du mir auch eines von dir schickst!“
„Aber sicher doch. Weil ich zuerst gefragt hab’, bist du aber zuerst dran...“ Wie kindisch, dachte Kayla für einen Moment, aber so war er eben. Von allem etwas. Sie bereitete die E-Mail vor – das Foto hatte sie schon auf der Festplatte, da sie damals zu den Fotos noch eine CD-Rom mit allen Aufnahmen bekommen hatte – , schrieb ein paar Worte dazu, fügte das Foto als Anhang an, gab Ferkels Mailadresse ein und klickte schweren Herzens auf -SENDEN-.
„Die Mail ist schon unterwegs, du müsstest sie gleich haben!“
„Moment, ich schau mal nach...“
Sie stand auf. Sie war nervös, vollkommen durch den Wind. So kannte sie sich sonst überhaupt nicht. Das war so lächerlich. Es ist nur ein Bild. Er wird dich schon nicht wegen dieses Bildes sitzen lassen sagte sie sich. Aber hatte sie wirklich nur davor Angst?
Sie ging in die Küche und suchte etwas, aber sie wusste nicht einmal, was es war. Schließlich nahm sie eine Tafel Nussschokolade aus dem Schrank neben dem Herd, riss sie auf und stopfte sich zwei Stücke in den Mund. Vielleicht würde sie das beruhigen. Sie wagte es kaum, zu ihrem Computer zurückzugehen, aber schließlich nahm sie ihren Mut zusammen und lief langsam über ihr Parkett-Imitat auf den Bildschirm zu. Als sie näher kam, erkannte sie, dass Ferkel bereits geantwortet hatte. Die Worte, die sie las, schnürten ihr die Kehle zu. Sie spürte, wie ihre Hände zu zittern begannen.
„Soll das ein Scherz sein?“
Unten auf dem Bildschirm blinkte in einem Feld monoton der schwarze Cursor, der darauf wartete, dass man seinen Text eingab, aber sie wusste nicht, was sie schreiben sollte. Sie brachte nur ein einfaches
„Warum?“
zu Stande. Langsam setzte sie sich auf den Stuhl vor ihrem PC und starrte auf den Bildschirm. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis seine Antwort auftauchte. Gebannt las sie die schwarzen Worte auf dem hell-gelben Hintergrund.
„Ist das eine Fotomontage? Also ich kann da nicht wirklich drüber lachen... Das ist ja ekelhaft.“
Kayla wusste nicht, ob er das ernst meinte. Man wusste oft nicht, ob ihr Ferkel sie verarschen wollte, oder ob er wirklich meinte, was er schrieb. Aber so verletzend war er sonst nicht.
„Was ist denn? Was siehst du auf dem Foto???“ schrieb sie mit zitternden Händen. Und wieder dauerte es eine Ewigkeit. Sie wollte noch ein Stück Schokolade essen, am Besten die ganze Tafel auf einmal, aber sie wagte sich keinen Zentimeter vom Bildschirm weg. Da erschien plötzlich seine Antwort.
„Ich kann fast gar nichts erkennen. Aber was ich sehe, ist...ich weiss nicht,... beängstigend. Eine Frau mit aufgerissenen Augen. Ich glaube, sie ist tot. Sie ist irgendwo eingeklemmt, soweit man das sieht. Es ist alles so verschwommen... so unklar, wie... wie unter Wasser.“
Sie saß da und glaubte nicht, was sie las. Sie bereute, dass sie es getan hatte. Langsam legte sie ihre rechte Hand auf den Mund und sah nur weiter auf den Bildschirm. Die Wahrsagerin hatte Recht gehabt. Und jetzt? War das alles? Was sollte das bedeuten? Wie war das passiert? Lauter Fragen rasten durch ihren Kopf und sie wusste auf keine einzige eine Antwort.
„Hallo... noch jemand da?“
Sie erschrak, als wäre sie aus einem Traum erwacht – einem Alptraum. Sie setzte sich anders auf ihren Stuhl, atmete wieder tief durch und schrieb:
„Ja, ich bin hier. Ich hab nichts damit zu tun, also mit dem Bild. Ich bin ratlos. Das ist das, was die Wahrsagerin mir beschrieben hat. Genau das!“
Sie überlegte kurz und dann schrieb sie weiter, ohne seine Antwort abzuwarten.
„Kannst du es mir zurückschicken, damit ich es auch sehe?!“ Sie musste es sehen. Sie musste wissen, ob sie diese tote Frau auf dem Bild war und sie musste damit zu dieser Wahrsagerin zurückfahren, um sie um Hilfe zu bitten. Nach zwei Minuten erklang das Signal, das ihr mitteilte, dass sie eine Mail bekommen hatte. Sie öffnete sie und klickte auf – ANHANG – . Sie öffnete die Datei und für einen Augenblick dachte sie, der Computer hätte sich aufgehängt, doch dann erschien das Bild endlich. Es zeigte sie selbst, auf einem Stuhl sitzend und fröhlich in die Kamera lächelnd. Genau das Foto, was sie abgeschickt hatte. In voller Schärfe. Sie schickte es ihm noch einmal zu, aber er beschrieb wieder die aufgerissenen, toten Augen, die er zu sehen glaubte.
„Wo wohnst du?“ schrieb sie.
Sie musste zu ihm fahren. Auch wenn sie abgemacht hatten, dass es für ein persönliches Treffen noch zu früh sei. Sie musste dieses verdammte Bild sehen. Er gab ihr seine Adresse und nachdem er ihr den kürzesten Weg zu ihm beschrieben hatte, sagte sie ihm, dass sie in einer Stunde bei ihm sein würde.
Sie fuhr den Computer wieder herunter. Sie ging in ihr Schlafzimmer und zog sich um, sie hatte gar nicht richtig realisiert, dass sie den ganzen Tag im Schlafanzug herumgelaufen war. Sie ging ins Badezimmer, kämmte sich, putzte sich nervös die Zähne und schminkte sich ein wenig. Schließlich war es ihr erstes Treffen und auch unter solchen Umständen sollte man versuchen, einen wenigstens passablen Eindruck zu hinterlassen. Sie hasste diese Aufregung. Wäre sie doch niemals zu dieser verrückten alten Frau gegangen, die Ferkel ihr empfohlen hatte. Dann hätte sie jetzt keine Probleme. Oder doch?
Zwanzig Minuten später saß sie im Auto.
4: Jeder Tag könnte dein letzter sein...
Kaylas Hand zitterte immer noch, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte und den Wagen startete. Sie fuhr aus ihrer Einfahrt auf die Straße. Wen würde sie an dieser Adresse treffen? Hatte er vielleicht nur gelogen, damit sie zu ihm fuhr? Aber hätte er sich diese Beschreibung des Fotos einfallen lassen, dann wäre sie niemals so deckungsgleich mit der Vorhersage der Wahrsagerin gewesen. Sie fuhr schneller, sie hielt diese Angst nicht mehr länger aus. Hinter ihr hupte plötzlich jemand und Kayla musste mit beiden Füßen auf die Bremse steigen. Sie hätte fast die rote Ampel übersehen. Mit quietschenden Reifen kam sie zum Stehen. Ein Fußgänger, den sie beinahe überfahren hätte, lief vor ihrem Auto vorbei und zeigte ihr den Mittelfinger. Normalerweise wäre sie sofort ausgestiegen und hätte ihm ihre Meinung gesagt, aber sie war in ihren Gedanken immer noch bei der Wahrsagerin, bei Ferkel und bei diesem Foto.
Wenn sie doch nur Antworten auf ihre Fragen finden würde. Das Chatten war für sie ab sofort gestorben. Ferkel hin oder her. Man sah ja, in welche Schwierigkeiten einen das brachte. Sie hätte niemals damit anfangen sollen. Sie spürte, dass ihr Rücken nassgeschwitzt war und sie zitterte mittlerweile am ganzen Körper. Hinter ihr ertönte unglaublich laut wieder die Hupe und sie zuckte zusammen. „HALT DEN MUND!“ schrie sie aus voller Kehle. „HALT DEINEN VERDAMMTEN MUND!“
Die Ampel war seit einiger Zeit grün und als sie es bemerkte, trat sie das Gaspedal bis zum Anschlag durch und raste los. Sie schlug mit der Faust aufs Lenkrad und Tränen begannen, an ihren Wangen herunterzulaufen. Sie konnte kaum klar sehen. Verschwommen. Unklar. „REIß DICH ZUSAMMEN!“ schrie sie sich selbst an und schlug sich mit der flachen Hand zwei mal ins Gesicht.
Nach zehn Minuten hatte sie sich wieder einigermaßen im Griff. Sie versuchte, den großen Klos in ihrem Hals herunterzuschlucken, der ihr die Kehle zusammendrückte und ihr die Luft zum Atmen nahm. Sie stellte das Radio an, drehte es laut auf und versuchte sich abzulenken, in dem sie mit sich selbst sprach.
„Also, Kayla, was hat er gesagt? Wo sollst du am Besten herfahren? Die Hauptstraße entlang und dann an der zweiten Ampel links ab, alles klar, das wird schon wieder. Es ist doch nur ein blödes Foto...“
Auf der Hauptstraße war sie schon. Es war Gott sei Dank fast kein Auto auf den Straßen, weil Sonntag war und die meisten Menschen im Park spazieren waren, ihre Eltern besuchten, oder etwas mit ihrer Familie unternahmen. Sonst raste niemand zu einer Person, die er noch niemals gesehen hatte, um ein Foto von einer Toten zu sehen. Das tat nur sie.
„Jetzt beruhige dich. Das kann alles nur ein dummer Zufall sein. So ist das Leben halt; voller Zufälle. Nicht wahr..., nicht wahr?“ Sie gab sich alle Mühe, das zu glauben, was sie da redete, aber es fiel ihr immer schwerer.
Sie raste an der Seitenstraße vorbei, in der die Wahrsagerin wohnte. Sie hatte sogar kurz im Augenwinkel ihr Haus gesehen. Ja, hier war sie gestern gewesen, hier hatte sich ihr Leben so schlagartig verändert. Machen Sie sich keine Sorgen hatte sie gesagt. Natürlich...
Dann kam sie auf die große Brücke. Von hier aus war es nicht mehr weit. Sie betätigte noch ein paar mal den VOLUME (+) – Schalter des Radios und sah dabei kurz von der Straße weg. Plötzlich gab es einen wahnsinnig lauten Krach, eine Explosion, ein Schuss oder etwas ähnliches. Kayla schrie auf, sie sah nach vorne, sie konnte ihren Wagen nicht mehr in der Spur halten. Ein Vorderreifen war geplatzt. Panisch trat sie auf die Bremse, aber es half nichts. Ihr Jeep schlingerte über die breite Brückenstraße auf die Gegenfahrbahn. Sie war zu schnell, um noch anhalten zu können. Dann überschlug sie sich einmal und das Auto durchbrach das Brückengeländer und stürzte zehn Meter tief in darunter verlaufenden Fluss.
Kayla war benommen und blutete am Kopf. Als sie das Geschehen wieder wahrnahm, fühlte sie, dass ihre Beine nass waren. Der Wagen füllte sich mit Wasser. Panisch schrie sie um Hilfe und schlug gegen die Scheibe, doch das Wasser strömte von überall ein. Bald war der Wagen vollkommen untergegangen. Die Türen ließen sich nicht öffnen, da der Druck von außen zu stark war. Kayla hatte kaum noch Luft. Sie wollte durch das Fenster hinaus, doch es ließ sich wieder nur ein kleines Stück öffnen. Sie hatte es nicht reparieren lassen. Mit aller Kraft versuchte sie, weiterzukurbeln, aber es tat sich nichts. Sie brach sogar die Kurbel aus ihrer Halterung heraus. Jetzt hatte es erst recht keinen Zweck mehr. Wenn sie Glück hatte, würde sie sich gerade noch durch den schmalen Spalt quetschen können. Sie kam bis zur Hälfte hinaus, aber dann saß sie fest. Sie war schlank, aber dennoch war ihre Hüfte ein paar Zentimeter zu breit. Für einen Bruchteil einer Sekunde dachte sie an die beiden Stücke Schokolade von vorhin. Da hing sie nun. Der Kopf und der Oberkörper waren frei, aber die Beine hingen noch gefangen im Wagen. Sie war eingeklemmt. In wilder Panik ruderte sie mit den Armen durch das Wasser und riss die Augen weit auf.
Eine Minute später war sie tot.
5: Die Wahrsagerin
Die alte Wahrsagerin schloss die Haustür hinter sich und packte den Koffer, in dem sie das Präzisionsgewehr aufbewahrte, wieder in den Schrank. Dann ging sie zu ihrem bequemen Eichensessel, lies sich darin nieder und nahm Kaylas Foto zur Hand, das sie ausgedruckt hatte, bevor sie losgegangen war. Ein wunderschönes Portrait von ihr. Sie strich mit dem Daumen darüber und fand, dass dieses Bild ihre strahlend blauen Augen hervorhob und die vollen Lippen betonte. Mit einem feinen, schwarzen Stift schrieb sie auf die Rückseite die Namen Piglet + Miss-tery und malte darum ein Herz. Darunter schrieb sie die Zahl 14 und lächelte zufrieden. Aus der Kommode neben dem Sessel holte sie einen goldenen Rahmen und legte Kaylas Bild hinein. Nachdem sie ihn wieder fest verschlossen hatte, ging sie zu der Wand, an der die vielen anderen goldumrahmten Bilder hingen. Ein Nagel war schon in die Wand geschlagen worden und die alte Frau hängte das Bild direkt unter das eines älteren Herren, den sie vor einem halben Jahr im Chat kennen gelernt hatte. Genau wie Kayla.