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Das Fresspaket
“Wo warst du denn so lange? Ich hab´ Dich schon am Dienstag erwartet. Komm rein, mein Sohn, setz Dich!”
Ehe er auf dem Bänkchen hinter den Tisch gerückt war, hatte Doña Maria ihm schon einen Teller mit Chili vorgesetzt.
“Hab´ ich heute gemacht. Greif zu, mein Sohn!”
Santi ließ sich nicht betteln.
“Jetzt erzähl mir, Santi, wie geht es meinem Jungen?”
Santi nickte versichernd, weil er den Mund voll hatte. Er schluckte einen großen Brocken Fleisch herunter.
“Ihm geht es gut, Doña Maria, seien Sie beruhigt.”
“Ich hab´im Radio gehört, da war schon wieder eine Schießerei in einem Dorf.”
“Stimmt, Doña Maria, aber Rafael ist weit weg von da, viel tiefer im Dschungel drin. Das Militär hat das ganze Gebiet umzingelt, aber die Eingeborenen, die verstecken sich gut, da finden die ihn nie.”
Santi nahm noch eine Tortilla.
“Außerdem sind in der Ortschaft auch Ausländer, Spanier, Deutsche, sogar Iren. Das ist sicherer. Wenn denen was passiert, wird daraus eine internationale Affäre.”
Das sagte er ihr zum tausendsten Mal. Sie hörte nicht zu.
“Warum lässt er sich denn auch immer auf solchen Ärger ein? Im Urwald hausen und sich mit dem Militär anlegen... Ein Bierchen, mein Sohn?”
Da sagte er auch nicht nein. Doña Maria schenkte sich auch einen Schluck ein.
“Sie wissen doch, wie er ist, Señora. Er hat halt diesen guten Kern… will den Armen helfen. Den Indianern geht es schlecht. Ihnen wird ihr Land weggenommen. Rafael will ja gar nicht kämpfen. Er ist nur dort und bewacht die Situation. Schreibt, fotografiert, zeichnet alles auf, damit diese Ungerechtigkeiten nicht unbestraft durchgehen.”
“Ungerechtigkeiten! Was ich ungerecht finde ist, dass ausgerechnet mein Sohn im Dschungel herum hüpft und Abenteurer spielt. Ich habe ihm doch alles ermöglicht, ihn studieren lassen, was mich mein gutes Geld gekostet hat Jawohl, das ist ein großes Unrecht. Womit habe ich das verdient, kannst du mir das sagen?”
Nun war das Gespräch wieder mal an diesem Punkt angelangt. Santi trank noch einen Schluck Bier und versuchte es heute mal auf folgende Weise:
“Doña Maria, Sie haben einen wunderbaren Mann großgezogen, der auf der Welt nur das Beste für die Menschen tun will. Das liegt sicher an den Werten, die Sie Ihrem Sohn beigebracht haben. Gott wird´s Ihnen vergelten, Doña Maria, und Ihrem Sohn bestimmt auch.”
“Red doch keinen Blödsinn, Santi!”, fuhr sie ihm über´s Maul. “Rafa hat schon seit Jahren keine Kirche mehr von innen gesehen, und du ganz bestimmt auch nicht, also komm mir jetzt bloß nicht mit Gott daher. Wenn Gott wollte, dass wir im Urwald auf Bäumen lebten, hätte er uns nicht seinen Sohn geschickt und das Evangelium.”
So also auch nicht. Er schälte eine Banane und entschied, dass er sich zu diesem Thema in Zukunft gar nicht mehr äußern würde.
Ihre zornige Falte auf der Stirn wurde weicher und es kam wieder der Ausdruck der Sorge durch. Sie schenkte beiden noch einen Schluck Bier ein.
“Ach, wär’ er doch in Mexiko City geblieben, und nie nach Chiapas zurückgekommen. Er hätte dort eine gute Arbeit und eine schöne Wohnung haben können und ein nettes Mädchen heiraten, aber nein – dort müssen ihm diese Revolutzer erst einreden, dass er hier bei uns Indianer retten soll. Du hast wenigstens eine Familie gegründet.”
Das “wenigstens” in dieser Aussage wurmte ihn. Er schluckte.
“Er wird bald dreißig, weißt Du?”
Er wusste.
“Jetzt ist er schon fast ein Jahr weg. Wann kommt er denn endlich nach Hause?”
“Schwer zu sagen. Er ist ziemlich beschäftigt und Sie wissen ja, wie ernst er seine Arbeit nimmt.”
“Arbeit…” Sie schnalzte verächtlich mit der Zunge.
Schon wieder falsch. Aber diesmal ersparte sie ihm, was sie für ehrenhafte Arbeit hielt.
“Wenn er mich doch wenigstens mal besuchen würde. Du kommst ja auch alle paar Wochen mal.”
“Das ist anders. Meine Aufgabe besteht darin, Nachrichten durch die Militärsperre zu bringen.”
“Wie kannst du dich auch in diese Gefahr bringen mit einer Frau und drei Kindern? Wie Ana das aushält, ist mir ein Rätsel.”
“Sie ist eine starke Frau. Übrigens – wir bekommen noch ein Baby.”
“Gratuliere, Santi, mein Sohn. Was für eine Freude. Ach, Santi, bleib doch zu Hause! Sollen die Revolutzer doch machen, was sie wollen. Du hast doch Verantwortungen.”
“Doña Maria. Sie haben ja recht, aber die Eingeborenen, die Leute in den Dörfern, die haben auch Kinder, die nichts zu Essen haben. Ich gehöre dazu, zu den Zapatisten, da habe ich auch Verantwortungen, Doña Maria, und meine Frau und Kinder sind stolz auf mich.”
Er konnte die Falte wachsen sehen. Sie wurde wieder verärgert.
Er lächelte sie zärtlich an.
“Außerdem, Doña Maria, wer würde denn sonst ihrem Rafa alle zwei Wochen Ihr gutes Essen bringen, und Nachrichten von zu Hause?”
Da wurde sie wieder weich.
“Hat er endlich gelernt, Tortillas zu machen?”
“Sie gelingen ihm immer besser, fast schon wie die Ihren.”
“Glaubst du, dass ein Kilo Käse die Reise übersteht bei der Hitze? Rafael liebt Käse.”
“Ich weiß, vor allem den Chiapaskäse. Das letzte Mal hat er gesagt, er hat davon geträumt. In zwei Tagen bin ich dort. Das müsste der Käse schon aushalten. ”
“Ich war am Montag beim Fleischer und habe zwei Kilo Hartwürste gekauft. Wenn ich gewusst hätte, dass du heute kommst, hätte ich ihm seinen Lieblingskuchen gebacken.”
“Den mit Schokoladenguss? Das könnte sich noch ausgehen. Ich muss noch bei einem Bekannten vorbeischaun. Der Bus nach San Cristobal fährt erst um acht.”
“Wunderbar. Um halb sieben ist er fertig. Ach, wenn ich dich nicht hätte, Santi, dann würde ich noch ganz verzweifeln. Ich pack das Chili in die große Dose. Da hast du aber schwer zu tragen.”
Der Lastwagen rollte die steile Bergstraße hinunter. Er hockte zwischen Bauern und Eingeborenen auf der Ladefläche. Zwei Rucksacktouristen hatten sich auch auf dieses unbequeme Vehikel verirrt. Wie oft hatte Rafael diese Strecke zurückgelegt. Vor dem Studium war er fast jedes Wochenende nach San Cristobal gefahren, um Freunde zu besuchen und Mädchen aufzureißen. Den Weg hinauf hatte er immer aufregender gefunden als den herunter nach Tuxtla, meist katrig und bewusst, dass es zurück in die wöchentliche Routine ging. Von Routine hatte diese Fahrt nicht viel. Sicherheitshalber war er nicht einmal in San Cristobal stehen geblieben. Das fühlte sich besonders seltsam an. Wie gerne hätte er bei Rosa angeklopft! Er wusste nicht einmal, ob sie in der Stadt war. Trotzdem hatte er sich beim Durchfahren dabei ertappt, dass er nach ihr Ausschau hielt. Auch Ricardo sah er nicht, obwohl sie direkt an seinem Haus vorbei fuhren. Wie ging es wohl Santi und Ana? Irgendwie hatte er sich immer schon in San Cristobal, oben auf dem Berg, mehr zu hause gefühlt als im öden Tuxtla. Als er es im Hintergrund verschwinden sah, überkam ihn eine plötzliche Sehnsucht nach den mit Kopfstein gepflasterten Straßen und den gemütlichen Bars. Die Landschaft schien ihm schöner als je zuvor. Sehnsucht hatte er die ganzen Monate nicht verspürt. Das intime Gefühl des Vertrauten, der Heimat, kam erst wieder in ihm auf, als er ihr nahe war. So war es ihm immer ergangen, wenn er weg war. Er würde bald nach San Cristobal fahren. Zuerst wollte er aber seine Papiere und die Filme bei einem Freund in Tuxtla verstauen. Der würde sie nach Kanada weiter schicken. Und dann war da auch noch seine Mutter.
Er fand sie im Hof in der Hängematte, so als hätte sie die letzten elf Monate dort gelegen. Sie fiel fast zu Boden bei dem Versuch, schnell aufzuspringen. Die Umarmung und ihre Tränen erweckten in ihm wieder dieses lästige Schuldgefühl. Wie ein trotziger Schuljunge fand er das immer wieder ungerecht. Warum musste man Menschen, die man liebt, verletzen dadurch, dass man einfach nur sein Leben lebt?
“Mein Gott, du bist mager geworden, mein Junge.”
Nun kam das wieder, und er fühlte sich zu hause.
Man begab sich in die Küche und die Mutter war in ihrem Element.
“Diesem Santiago glaube ich kein Wort mehr.”
“Wieso?”
Wie hatte er diese Enchiladas vermisst. Das bemerkte er erst jetzt.
“Er hat gesagt, du hättest sogar ein Bisschen zugenommen.”
Er kaute.
“Es war wohl eine barmherzige Lüge. Er wollte nicht, dass ich mir Sorgen mache. Dass du dort so sicher warst, habe ich ihm auch nie so ganz abgekauft. Waren da wirklich Spanier?”
“Kanadier, und im Mai kamen zwei Schweizer.”
“Er ist ein guter Junge, der Santi. Ich war ja schon froh, dass ich überhaupt was von dir gehört habe. Vor allem hat mich beruhigt, dass du wenigstens alle paar Wochen etwas Anständiges zu Essen bekommst, dort bei den Wilden.”
Rafa musste schlucken.
“Was hat er denn sonst noch erzählt?”
“Ach, was du so machst, von deiner Arbeit… Arbeit. Ach, lassen wir das, Junge”
Ihn störte das schon gar nicht mehr.
“Oft hat er mir lustige Geschichten erzählt: wie ein Affe mit deiner Hose davon gerannt ist, oder wie du in der Nacht in die Letrine gefallen bist. Das war wieder mal typisch. Weil du auch nie schaust, wo du hin trittst. Er schätzt dich sehr, der Santi, hat mir immer nahe gelegt, dass du Gutes tust, Kind. Dass du den Wilden das Schreiben beigebracht hast, das finde ich lobenswert.”
Er ging zum Kühlschrank und holte noch eine Flasche Bier. Die Mutter betrachtete ihren Sohn von oben bis unten.
“Er hat auch gesagt, wie alle Indianermädchen um dich herumschwirrten, und sogar Ausländerinnen, aber dass du noch immer an deiner Rosa hängst.”
“Das hat er gesagt?”
“Hast du sie schon gesehen?”
“Noch nicht.”
“Aber jetzt erzähl doch endlich selber mal!”
“Ach Mutter, es ist so viel passiert in diesen Monaten. Ich weiß gar nicht, wo anfangen. Wir haben ja Zeit.”
“Sag mal, wusste Santiago gar nicht, dass du schon zurückkommst? Er war erst vorgestern noch bei mir.”
“Das konnte er nicht wissen.”
“Ich habe ihm diesmal auch Hartwürste mitgegeben, die vom Fleischer Prados, die du so gerne magst, und ein Kilo Käse. Sogar einen Schokoladenkuchen hab´ ich dir gebacken.”
“Wird schon jemand essen.”
Ana saß auf der Veranda, aber sie hatte ihn nicht kommen sehen. Er schlich sich von hinten an, drückte sie und küsste sie auf die Wange. Sie drehte sich um und stieß einen Freudenschrei aus.
“Rafa! Das darf nicht wahr sein.”
“Du bist ja schon wieder schwanger. Habt ihr zwei nichts Anderes zu tun?”
“Santi, komm raus! Schau, wer da ist!”
Santiago erschien in der Tür.
Rafael sah auf und ging auf den Freund zu.
“Du verfluchter, hinterfotziger Schweinehund, kennst du gar kein Schamgefühl?”
Santi stutzte und sah ihm tief in die Augen. Dann brachen sie gleichzeitig in schallendes Gelächter aus. Sie umarmten sich. Es war lange her.