- Beitritt
- 27.08.2000
- Beiträge
- 2.198
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Das geheime Wissen
Mit einem Beutel Gehirne über der Schulter unterwegs zum vertikalen Horizont. Wäre das eine schwierige Reise, dann wäre es bestimmt die allerschwierigste. Ich muss den Sack absetzen und einige Meter hinterherschleifen, denn er ist so schwer, er wiegt mindestens eine Tonne oder weniger.
Ich erinnere mich an meinen Vater. Er ist bei einem erfolglosen Selbstmordversuch ums Leben gekommen. Ich erinnere mich an meine Mutter, sie starb dreizehn Jahre vor meiner Geburt, ich habe sie kaum gekannt. Ich erinnere mich an meinen Bruder. Er hatte die Gnade der steten Geburt, siebenundzwanzig Jahre Dauerentbindung.
Ich erinnere mich an mich selbst. Ich war ein Narr, doch nun sehe ich.
Mir ist durchaus bewusst, dass das alles für Euch schwer verständlich sein mag. Zerbrecht Euch nicht den Kopf, liebe Freunde. Die Uneingeweihten und die Oberflächlichen, die blinden Materialisten und die sklavischen Plebejer: sie alle haben da keine Chance. Erst, wenn man zum Großmeister des zwölften Vollmondkreises der Loge aufgestiegen ist, zum Operierenden Thaumathanathos, wird man den tiefen Sinn in den Worten erkennen können. Wenn man die Geheimnisse des vierten Zirkels entschlüsselt und die kosmische Weisheit vom GROSSEN POLIER persönlich empfangen hat. Erst dann ist man in der Lage, die Wahrheit hinter der Wahrheit hinter der Wahrheit meiner Sätze zu erfassen. Laien wie ihr, die ihr Dasein in der Gosse der Ignoranz fristen, können es vergessen. Ich speie auf euch.
Meine Geheimgesellschaft ist nämlich tatsächlich geheim. Nicht so pseudo-geheim wie die poplige Bruderschaft der Freimaurer, oder die der armseligen Rosenkreuzer. Da kann ja heutzutage jeder Kegelbruder eintreten, in diese Alibi-Trinkerclubs. Auch sind wir nicht so abgedroschen wie die Templer oder die Illuminaten, die bekannt sind wie bunte Hunde, deren Geheimwissen die Spatzen von den Dächern pfeifen. Und auch nicht so jämmerlich wie die Theosophen, der O.T.O. oder der Golden Dawn, Sammelbecken für sexuell frustrierte Streberleichen und aufgeblasenen Poeten-Abschaum. Nein. Von meiner Geheimgesellschaft weiß niemand etwas, außer seinen Mitgliedern, und deshalb weiß auch niemand, dass es unsere Aufgabe ist, insgeheim die Geschicke der Welt und die Geschichte der Menschheit zu lenken. Und weil niemand über uns Bescheid weiß, hat auch niemand Angst vor uns. Aber das solltet ihr. Oh ja, das solltet ihr.
Ich selbst bin ins Herz, in den Kern der Organisation gelangt, ich bin Malkuth-Meister des dritten Zirkels, Hüter der ewigen Flamme von Grah, und ich bin drauf und dran, in die vierte Stufe aufzusteigen und die letzten Geheimnisse der menschlichen Existenz von HJHVJVH persönlich per Vision zu empfangen, und damit unbegrenzte Macht über Menschen zu erlangen und die Fähigkeit zur Beherrschung von Raum, Zeit und des freihändigen Handstands. Den Status der lustwandelnden Gottheit. Wovon der kriechende, erbärmliche Mensch nur träumen kann, der da hoffnungslos vor sich hin vegetiert, ich werde das alles haben. Plus noch ein wenig mehr.
Ich erinnere mich noch genau. In den Orden eingeführt wurde ich im Sommer des Jahres 1984. Ich studierte damals Theonomie und die Naturwissenschaft der schönen Künste an der Johann-Gottfried-Gotthilf-Fürchtegott-von-Gotthard-Universität in Agnostingen. Es war der Sommer meines dreiundzwanzigsten Lebensjahres, die Bäume warfen mir ihre goldenen Blätter zu Füßen und der Wind blies mir ins Gesicht wie ein Schleier aus kühlen Diamanten. Edwin Zipecki, so hieß mein Zimmergenosse und bester Freund zu Studienzeiten. Wir teilten ein Zimmer und das Interesse an der Wahrheit hinter den Dingen. Lange Nächte diskutierten wir, wetterten gegen den westlichen Materialismus, lasen uns gegenseitig aus dem tibetanischen Totenbuch vor, aus der Gita, den Vedas und den Upanishaden. Er war ein schlanker, hochgewachsener junger Mann mit schwarzem, verwobenen Haarschopf, brünetten Augen und wucherndem Verstand, der sich nicht mit den oberflächlichen Erklärungen der Schulwissenschaft zufrieden geben wollte, der nach Höherem strebte, genau wie ich.
Im Frühjahr des Jahres 1983, die Sonne schien gütig auf uns herab wie ein Blitz aus Zeus‘ Schwert, gründeten wir den Heiligen Orden Der Hermetischen Ritter Vom Goldenen Vlies Und Des Geheimen Tempels, ein kleiner okkulter Zirkel aus Studenten, der im Gewimmel der Universität nicht weiter auffiel.
Aut Deus Aut Nihil, das war damals mein Geheimname.
„ADAN“, sagte Edwin zu mir während einer spiritistischen Sitzung, „wir sind nur ein kleines Stück weit, einen winzigen Hauch entfernt von der Erkenntnis. Von der Erleuchtung. Vom wahren Glück.“
Glücklich, das waren wir. Lediglich Pit Heydenreych, ein Mitstudent, entpuppte sich als unglaublich dämlicher Thomas und trat kurz darauf aus dem Orden aus, aber alle, die blieben, konnten ihren Hunger nach Erleuchtung vorerst stillen, in unserem geheimen Versammlungszimmer, Raum 205, gleich neben der Besenkammer. Wir hielten Séancen ab und praktizierten Gläserrücken, legten Tarot-Karten und befragten das Ouija-Orakel, lasen die Schriften von heiligen Mönchen aus dem Himalaya und meditierten über der Geranie, unserem Symbol für Weisheit. Wir lebten in Askese und praktizierten Sexualmagie. Wir experimentierten mit bewusstseinserweiterndem Wein und verfassten in Trance prophetische Schriften. Wir studierten die Kabbala und spielten Tischfußball. Zur Entspannung. All das brachte uns näher an die Göttlichkeit.
„Die Seele“, sagte ich zu Edwin, „besteht aus 23 Spiralen, die sich in einem ewigen Zirkel der Reinkarnation drehen.“
„Die Menschheit“, sagte Edwin zu mir, „durchläuft 46 Stufen der spirituellen Evolution, bis sie zur Transzendenz gelangt, ins himmlische Paradies des Nirvana.“
„Die Welt“, sagte ich zu Edwin, „ist ein ewiger Kampf zwischen Gegensätzen. Gut und Böse, Ordnung und Chaos, Groß und Klein, Hier und Dort, Oben und Unten, Glaube und Unglaube, Fall und Unfall, Ausgabe und Angabe, Schwarz und Weiß...“
„Was ist mit Grün?“ fragte Pit Heydenreych, der zu diesem Zeitpunkt noch Mitglied war.
„Halt die Klappe, Pit.“, sagten wir beide.
„Die Geschichte,“ sagte Edwin zu mir, „wird bald enden, in einer totalen Apokalypse und der zweiten Geburt des Buddha Krishna Mohammed Christus.“
„Hört, hört!“, riefen unsere Logenbrüder zustimmend.
Dann, im Winter des Jahres 1983, die Baumwipfel sangen ihre Pracht hinaus und die Wiesen und Felder knospten im Wind, behielt Edwin zum ersten Mal Geheimnisse vor mir.
„Wo warst du?“, fragte ich ihn. „Gestern war Logenabend. Offenbarung des Hannes, Exegese des Talmud, Referat über die Edda. Nur du hast gefehlt.“
„Ich war krank.“
Da wusste ich, das etwas nicht stimmen konnte. Erst vor wenigen Tagen hatten wir uns durch den schamanischen Zauber eines Medizinmanns aus Zentralafrika gegen jedwede Krankheit des Körpers geschützt, damit sich unser Geist ungestört von den profanen Blähungen und Zipperlein der irdischen Hülle entfalten konnte.
Als er sich eines Nachts wieder unbemerkt davonschleichen wollte, folgte ich ihm unauffällig. Ich vermutete damals noch, er habe eine Freundin, die er vor der Loge verheimlichen wollte. Sich ins weltliche Vergnügen zu stürzen, und dafür seine Astrologiestudien in der Loge zu vernachlässigen, galt damals als unverzeihlicher Fehltritt.
Es war eine fluoreszierende Nacht und die Vögel schliefen in wilder Verzückung. Immer wieder sah sich Edwin verstohlen um, seine Gesichtszüge reflektierten das Licht des Neumonds. Er schlich eine Weile, dann eilte er, doch ich blieb ihm auf den Fersen wie der Schatten eines Schattens. Bald hielten wir schnurstracks auf das Hauptquartier der Nihilistischen Partei zu. Sollte Edwin etwa zum Feind übergelaufen sein? Nein, er ging daran vorbei. Aufatmen. Schließlich erreichten wir ein großes Haus, ich versteckte mich draußen hinter einer Datteltanne und wartete. Ein verwittertes Gebäude im düsteren, verfallenen Teil der Stadt, eine geheimnisumwobene, uralte Villa, sie ragte in die Finsternis wie ein Felsen aus Stein. Edwin blieb die ganze Nacht über dort.
Am nächsten Morgen wartete ich bereits in unserem Zimmer auf ihn, um ihn zur Rede zu stellen. In meinen Händen hielt ich die schriftliche Austrittserklärung von Pit Heydenreych, die der spirituell verarmte Mehlwurm unter der Tür hindurchgeschoben hatte. Er verlasse den Orden mit sofortiger Wirkung, so schrieb er, da sich unsere Erklärungen der Welt durch nichts von solchen Erklärungen unterscheiden ließen, die man sich einfach ausgedacht hätte. Er wolle jetzt katholisch werden.
Nicht, dass ich traurig über den Austritt dieses Rattenflohs gewesen wäre. Ich hatte ihm immer wieder geraten, unsere ausgefeilten Stufendiagramme der kosmischen Zirkel von Mu mal genauer anzusehen, aber nein. Selbst Schuld, wenn er nun als gehbehinderte Filzlaus wiedergeboren wurde.
Als Edwin schließlich kam, tat ich so, als würde ich in der Avesta lesen, aber ich fixierte ihn über den Rand des Buches hinweg, wie er den Raum betrat, den Mantel weghängte und vorgab, es sei nichts passiert.
„Einen goldenen Morgen, ADAN“, sagte er.
„Du warst lange weg.“
„Nein.“
„Doch. Ich bin dir gefolgt, heute Nacht. Auf Schritt, Tritt und den Pfaden der Düsternis. Ich weiß alles.“
„Ah, aber ich weiß, dass du nichts weißt.“
„Was war das für ein Freudenhaus?“
„Freude ja, Freudenhaus nein. Ich kann darüber nicht reden, oder mein Leben ist verwirkt.“
„Och, bitte.“
„Na gut.“
Und so berichtete er mir von dem wundersamen Treiben in dem alten Gebäude, von den Riten und den Visiten im Jenseits, den Exkursen in Numerologie und den Initiationen ins Schattenreich. Und von den ewigen Jagdgründen, nämlich dem Wildverbiss und der Regulierung der Rehbestände, aber da hatte sich Edwin offenbar in eine Sitzung des Jagdvereins verirrt, der in einem Nebenraum tagte.
Ich war begeistert, ich war Feuer und ewige Flamme für diese geheime Organisation. Sie teilte unsere Ziele, und doch erschien sie im Gegensatz zu unseren amateurhaften Bemühungen um so viel legitimierter und tiefgründiger. Edwin verriet mit ihren Namen nicht, aber versprach mir, mich auf eine der nächsten Sitzungen der Gesellschaft mitzunehmen, sofern der Vorstand dies erlaube. Ich konnte es kaum erwarten. Ich war gespannt wie ein Hochseil.
Der fünfundzwanzigste Juno 1984, der Tag meiner Initiation. Mein Leben war bereit, mit der Wucht einer kolossalen Sintflut verändert zu werden. All die nächtelangen Diskussionen über die Gnosis und die Vorzüge der Heteröopathie hatten sich für Edwins rhetorische Fähigkeiten ausgezahlt. In kurzer Zeit war er in der Lage gewesen, die Oberen des Ordens zu überreden, es mit mir zu versuchen.
Jetzt stand ich da, in die purpurnen Roben des Novizen gehüllt, in freudiger Erwartung des Aufnahmeritus. Eine Prozedur, während der ich mich einer schwierigen und grundlegenden spirituellen Prüfung unterziehen musste. So glaubte ich jedenfalls.
Der große Saal war für den Ritus hergerichtet. Hunderttausende Kerzen, in Pentagrammen und Ankh-Form angeordnet bedeckten den Boden, Räucherstäbchen verbreiteten ihren güldenen Duft, glitzernde Banner mit dem Auge des Ra schwangen sich von der Decke hinab und ein frei schwebender, hell strahlender Kronleuchter aus blauen Rosen beherrschte die Szenerie. So ergriffen war ich nicht mehr, seit sich zum ersten mal alle meine Chakren geöffnet hatten. Ja, dies würde der wunderbarste Moment meines bisherigen Lebens werden.
Vor der Zeremonie wurde mir von einem Ordensbruder mein heiliges Mantra mitgeteilt. Ein Satz, der weniger mit einem Mantra als mit einem Rätsel gemein hatte: „Mit einem Beutel Gehirne über der Schulter unterwegs zum vertikalen Horizont“. So lautete der Orakelspruch. Ich grübelte lange darüber nach, doch ich wusste, dass ich die wahre Bedeutung der Worte erst nach meinem Eintritt erfahren würde. Bis jetzt stellte der vertikale Horizont für mich eine Wand der Rätselhaftigkeit dar, und ich rannte mit dem Kopf voran dagegen.
„Willkommen, Bruder. Ich bin OBAR, Großmeister der vierten Ebene.“ Ich fuhr herum. Ich hatte niemanden hereinkommen gehört, und plötzlich stand diese Erscheinung hinter mir, in grüne, prächtige Roben und goldene Schärpen gehüllt, mit tausend strahlenden Quasten und ultravioletten Stickereien. Der Mann schien lautlos über das Parkett der Initiationshalle zu schweben, leicht wie ein Spektralwesen.
„Meine Aufgabe heute ist es, den Initiationsritus durchzuführen. Bist du bereit, die Weihen zu empfangen, und in den Orden einzutreten, elender Sterblicher? Bist du bereit, die wahre Bedeutung deines heiligen Mantras zu erfahren? Bist du bereit, all deine Überzeugungen aufs Spiel zu setzen und dein voriges Leben aufzugeben, um der großen Wahrheit näher zu kommen?“
Da musste ich nicht lange überlegen. Auf diesen Moment hatte ich lange genug gewartet. Die Aura des Mannes vor mir leuchtete und überstrahlte alles. Ich fühlte mich ätherisch, wie ein Schwarm von Sternen in einem Meer der Transzendenz.
„Ja, ich bin bereit.“
„Nun, so sei es. Aber zuerst zieh dich aus.“
Ausziehen? Einen Augenblick lang wunderte ich mich über diese Anweisung. Aber bestimmt sollte ich so vor den GROSSEN POLIER treten, wie er mich schuf. Nackt und verbunden mit der Natur und den Geistern des Multiversums, eins mit der Herrlichkeit der Schöpfung, eins mit der Aura aller lebenden und atmenden Wesen, eins mit mir selbst und den Dimensionen meines Karmas. Ich zog mich aus.
„Sehr gut. Und nun bück dich!“
Und ich bückte mich.
Ich muss zugeben: Ich hatte mir das Ritual anders vorgestellt. Noch Tage danach schmerzte mein Gesäß. Aber nun war ich Mitglied der Organisation, und das allein zählte. Entzückt schwebte ich auf einer Wolke der Wahrhaftigkeit. Ich erzählte niemandem von dem unerwartet erniedrigenden Verlauf des Initiationsritus, und es fragte mich auch niemand danach, selbst wenn ich sehr krumm lief und mich nur selten setzen wollte. Hin und wieder meinte ich, andere Novizen hinter meinem Rücken kichern zu hören, aber ich ermahnte mich, nicht paranoid zu werden. Das hatte sicher rein gar nichts mit der Einführungszeremonie zu tun. Sogar Edwin stellte keine Fragen, sondern klopfte mir auf die Schultern und beglückwünschte mich zu meinem Beitritt.
Und es hatte sich seitdem einiges geändert. Mein voriges Leben lag hinter mir. Mittlerweile war es Herbst geworden, und der fahle Ostwind fegte über die endlosen Ebenen des Landes.
Mir war klar geworden, dass ich mich in so vielem geirrt hatte. Ein Narr war ich gewesen, wenn ich glaubte, auf eigene Faust in meinem Studentenkabuff neben der Besenkammer hinter die großen Geheimnisse der Existenz gelangen zu können. Hier war eine Organisation, die eben diese Geheimnisse seit Jahrtausenden hütete. Und ich war bestrebt, in ihr aufzusteigen. Ich wollte nach oben. Nach ganz oben. Und dann würde ich hinunter spucken.
Bei der körperlichen Erniedrigung der Aufnahmezeremonie handelte es sich, so war ich mir sicher, nur um eine Feuerprobe, durch die jeder Sucher nach der Erleuchtung hindurch musste, zur spirituellen Reinigung. Dem materiellen Körper wurde physische Tortur zuteil, um zu zeigen, wie nichtig und arg zerbrechlich unsere irdische Hülle war, und dass man sie schlussendlich hinter sich lassen musste, um ganz Geistwesen zu werden und im universellen Spiritus Mundi aufzugehen. Das musste es sein. Kein Zweifel.
„Mit einem Beutel Gehirne über der Schulter unterwegs zum vertikalen Horizont“ – jetzt wurde mir klar, was das heißen sollte. Der zweite Teil des Verses, der mir nach meiner feierlichen Aufnahme mitgeteilt wurde, lautete: „Wäre das eine schwierige Reise, dann wäre es bestimmt die allerschwierigste. Ich muss den Sack absetzen und einige Meter hinterherschleifen, denn er ist so schwer, er wiegt mindestens eine Tonne oder weniger.“ Die Bedeutung wurde immer deutlicher: Körperliche Qualen – der schwere Beutel, den man über der Schulter trägt. Man muss sie aushalten, auf seinem Weg durchs Leben. Der Beutel ist voller Gehirne, Symbol der rein rationalen Betrachtungsweise der Welt, Ausdruck des Materialismus und der Wissenschaftsgläubigkeit, der Beutel zieht den Träger nach unten. „Wäre das eine schwierige Reise“ – ist sie aber nicht, denn eigentlich ist die materielle Welt eine Illusion, und nur, wenn man das erkennt, kann man das Gewicht des Beutels überwinden und der Beutel wiegt schließlich weniger als eine Tonne und immer weniger. Ich war bereit für meine Reise.
Es war allerdings nicht so, dass zwischen den Mitgliedern der Organisation in allen Punkten Einigkeit herrschte. Zwar waren wir die Elite der Menschheit, die Herren der westlichen Hemisphäre und die Prinzen des Universums, doch gab es durchaus Dissens, besonders in den Reihen der Novizen der ersten Stufe, in denen ich mich bewegte. Noch waren wir ja am Anfang unserer Suche und während unserer geheimen Logenabende diskutierten wir über alles was uns beschäftigte. In unseren purpurnen Roben um einen runden Tisch sitzend, wirkten wir wie eine Konferenz der Könige.
„Etwas gibt es, das mich wieder und wieder aufbringt, oh Mitbrüder“ verkündete Bruder ENRI. „Immerfort erdreisten die Menschen sich, zu fragen, aus welchem Grunde Gott dieses oder jenes schlimme Elend zuließe.“
„Ist das keine berechtigte Frage, Bruder?“ fragte Edwin.
„Ha! Was steht uns widerwärtigen Wattwürmern denn zu, über IHN zu urteilen!“
„Wir sind keine Würmer“, warf ich ein, „wir sind Lichtwesen.“
„Meinetwegen, aber der menschliche Verstand ist einfach zu begrenzt, um sich SEINEN Plan vorstellen zu können. Zu klein und zu beschränkt, um die Wunder zu begreifen, die ER bewirkt.“
„Ja, oh ja“, rief Edwin mit furioser Stimme, „ER bringt in seiner unermesslichen Unergründlichkeit den Tod zu so vielen Unschuldigen, es ist ein einziges Krepieren dort draußen.“
„Ach, Tod, hör mir auf damit“, Bruder ENRI winkte ab. „Die sollen mal froh sein, die da sterben, denn sie erfahren das ewige Leben im Lichte der Herrlichkeit und die glückselige Auferstehung im Walhalla des Hades.“
„Und was, wenn es dieses Walhalla des Hades gar nicht gibt?“ fragte Bruder KATO, unser hauseigener Rebell und Maskottchen.
„Kein Leben danach?“, sagte Bruder ENRI, „Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Der Mensch ist zu höherem bestimmt, als zu dieser materiellen Existenz zwischen Fraß und Fäkalien.“
„Hört, hört!“, rief ich dazwischen.
„Ja, aber was ist, wenn das menschliche Gehirn im Laufe der Evolution nur...“, begann KATO.
„Humbug, Evolution!“, Bruder ENRI wurde zusehends ungehaltener. „Wie soll sich dieses wunderbare wundervolle wundersame Wunder des Lebens aus einem schmächtigen Haufen von Zellen durch Zufall entwickelt haben? Das kann ich mir einfach nicht vorstellen.“
„Bruder KATO“, inquirierte Edwin, „erzähl doch mal, wie bist du mit dieser Weltsicht eigentlich zu einem der Unseren geworden?“
Ich hielt mich da vornehm heraus, diese Diskussion war mir zu banal. Pfui, Spinne! Hier wurde doch tatsächlich das ganze Standardrepertoire an Grundsatzfragen abgehandelt. Eine Schande! Und ich hatte gedacht, dass wir über diese niedere Stufe schon längst hinaus wären. Fast kam ich mir vor wie am beduselten Stammtisch einer beliebigen pöbeligen Trinkhalle, dabei sollte dies eigentlich eine Insel der Vernunft sein inmitten des Reiches des profanen Menschenmülls. Doch die Wahrheit war da draußen, genauer gesagt: da oben, über uns, in den höheren Zirkeln, den Sphären der Göttlichkeit.
„Wenn ich erst in der obersten Stufe bin“, warf ich in die Runde, „vierunddreißigster Grad, zwölfter Vollmondkreis, dann lach ich über den kleinkarierten Verbalkehricht, den ihr hier produziert. Dann gibt es keine Fragen mehr.“
„Du komm erst mal in die nächste Ebene“, sagte ENRI.
„Ich habe gehört, die Brüder in der zweiten Ebene können mittels ihrer Gedanken aus der Ferne Politiker steuern“, meinte KATO.
„Wie dem auch sei“, sagte ich, „das hier kann ja nicht alles sein. Stufe eins ist nurmehr ein Test auf dem langen Weg zur endgültigen Wiedergeburt als OTH. Die nächste Stufe wird uns dem geheimen Wissen näher bringen, doch bis dahin schweigt, ihr elenden Kleinstbürger!“
Mit diesen Worten verließ ich den Raum und trat hinaus auf die Terasse, wo ich eine Weile den Schreien von Bruder SHMU zuhörte, die durch die Nacht hallten. Bruder SHMU geißelte sich um diese Zeit immer unten im Garten unter den Kastanienbüschen und ich lauschte seiner Selbstkasteiung mit Erstaunen und Amüsement. Er wollte sich noch die letze anerzogene Denk- und Verhaltensweise seines früheren Lebens weggeißeln. Ich war mir sicher, dass das auch auf andere Weise funktionieren musste.
In der Tat ging mein Aufstieg erstaunlich rasch vonstatten. In der Folgezeit meines Beitritts hatte ich mich auf allen Gebieten hervorgetan: Als Medium und Hypnotiseur, als Guru und Schamane, als Yogalehrer, Niederpriester, Selbstfinder, Zauberdoktor und Raumpfleger. Besonders, wenn ich die Versammlungsräume porentief reinigte, war mir das Wohlwollen der Oberen sicher. Ich durfte sogar einige Räume, die zum Allerheiligsten zählten, säubern. Zwar nur die Toiletten, aber immerhin. So bekam ich schon einen Vorgeschmack auf die spätere Erfüllung, denn der Weg zur Weisheit führt durch den Tempel der exzessiven Sanitärpflege. Heute erniedrigt, morgen erlöst.
Schließlich, der Herbst ging langsam zur Neige, mit seinem dichten Blätterdunst und seinem transparent gleißenden Abendrot, wurde ich erneut in die Kathedrale gerufen, um in die zweite Stufe aufzusteigen. Ich war gut vorbereitet. Ich hatte alle meine Gebete gelernt, alle Riten studiert, alle Chants memoriert und ich hatte mich sogar, nur für alle Fälle, mit einer gefälligeren Unterhose bekleidet.
Ein neues heiligen Mantra hatte ich erfahren, scheinbar ein komplementärer Teil der ersten Sätze: „Ich erinnere mich an meinen Vater. Er ist bei einem erfolglosen Selbstmordversuch ums Leben gekommen.“
Das Sanktuarium war wieder glutheiß erleuchtet mit dem Licht der Liturgie, farbenfroh wie ein Rubin aus Damast, Gebetsmühlen drehten sich in inniger Umarmung und die Gobelins des ewigen Zeitalters säumten ringsum die prachtvollen Mauern.
Sanctus, Sanctus, Sanctus, dann brach ein Lichtschein durch die Tore am Ende des Saales und heraus glitt eine engelsgleiche Gestalt, wie ein frommer Spuk von der jenseitigen Erde.
„Willkommen, Bruder. Ich bin ABAS, Großmeister der vierten Ebene.“
Ich kannte bereits den Wortlaut der heiligen Zeremonie, und harrte den gesegneten Exerzitien, die da kommen mochten.
„Meine Aufgabe heute ist es, den Aufstiegsritus durchzuführen. Bist du bereit zur spirituellen Reinigung, elender Sterblicher? Bist du bereit, die wahre Bedeutung deines heiligen Mantras zu erfahren? Bist du bereit, die erste Stufe hinter dir zu lassen, um der großen Wahrheit näher zu kommen?“
Kein zögern, kein Nachdenken. „Ja, ich bin bereit“, rief ich voll Überschwang.
„Nun, so sei es. Aber zuerst zieh dich aus.“
Mit leichter Resignation entkleidete ich mich, und in weiser Voraussicht drehte ich mich schon mal um und bückte mich.
Nach dem zweiten Ritus war ich noch ein wenig frustrierter als nach dem ersten. Konnte ich mir in der ersten Runde noch einreden, das physische Leid diene der Förderung der Loslösung von der materiellen Welt, fiel mir eine solche Erklärung beim zweiten mal schwerer. Sei‘s drum: Aufgefahren in die zweite Stufe war ich, und Wunder über Wunder sollten mich hier erwarten. Außerdem konnte ich mich dieses mal bereits nach zwei Tagen wieder setzen.
Als ich mich daran machen wollte, die Bedeutung meines ergänzenden Mantras zu ergründen (der zweite Teil davon lautete: „Ich erinnere mich an meine Mutter, sie starb dreizehn Jahre vor meiner Geburt, ich habe sie kaum gekannt. Ich erinnere mich an meinen Bruder. Er hatte die Gnade der steten Geburt, siebenundzwanzig Jahre Dauerentbindung“), wurde mir von einem hilfreichen Bruder, einem depressiven Sanguiniker mit einem Bärbauch und einem Lächeln wie gefrorener Wein, geraten, den zuvor gelernten Spruch ‚zu vergessen‘, weil er, ich gebe hier nur seine Worte wieder, ‚Schwachsinn‘ gewesen sei. Schwachsinn, um die Novizen ein wenig zu beschäftigen, damit ihnen beim Toilettenputzen nicht so langweilig werde.
Zuerst war ich wütend über diese zynische Offenbarung, aber dann dämmerte es mir mit der Plötzlichkeit des Nordlichts: Mit dieser listigen Täuschung sollte mir gezeigt werden, dass meine bisherigen Überzeugungen Ramsch von der esoterischen Resterampe gewesen waren. Sie mussten überwunden werden, um zur Weisheit zu gelangen. Hier, in der Ebene zwei, wurde aktiv gehandelt, wurden Nägel mit Köpfen gemacht. Hier wurde nicht nur über neoplatonische Kosmologie und die Apotheose des Odin gefaselt, hier wurde Ernst gemacht.
Der Vater, das war die falsche Hoffnung, die ich in meinen simplen und primitiven okkulten Glauben gesetzt hatte, und sein Tod bei einem erfolglosen Selbstmordversuch symbolisierte das Ende dieser Illusion – genau wie der Tod der Mutter, die Hoffnung auf Erlösung durch einfältiges Gläserrücken und hirnrissiges Disputieren. Statt dessen war mein Bruder dabei, entbunden zu werden. Der Bruder, das war das brüderlich geteilte Wissen, wie die Welt zu lenken sei, wie wir als Brüder zusammen über den Abschaum gebieten konnten. Diese Erkenntnis kam nicht augenblicklich, sondern Stufenweise, in einer langwierigen Dauerentbindung.
Stolz darauf, dieses Rätsel ergründet zu haben, warf ich mich enthusiastisch in das großartige Abenteuer das vor mir lag.
Inzwischen durchzog ein barbarischer Winterhauch die Lenden der Welt und die sirrende Kälte überkam die Ländereien jenseits der identischen Berge. In blaue Roben gekleidet zogen die Brüder durchs Gebälk des Obergeschosses, bald hierhin, bald woanders hin.
Zuallererst wunderte ich mich über die gedrückte Stimmung, die am Logenabend herrschte. Eine politische Intrige schien ein wenig außer Kontrolle geraten zu sein.
„Das waren bestimmt die Nihilisten, die dem Präsidenten Krankheitskeime eingeflößt haben, um unsere Pläne zu vereiteln“, ereiferte sich Bruder LGP1.
„Ach, was sollen die Nihilisten schon wollen“, entgegnete Bruder RSYC.
„Dreimal verfluchte Nihilisten!“, schmetterte LGP1.
„Und ihr haltet es nicht für möglich, dass der Präsident einfach von allein krank geworden ist?“, wandte ich ein, aber zugegebenermaßen etwas kleinlaut, folglich wurde ich von den erfahreneren Brüdern ignoriert. Fast kam ich mir vor wie der unselige Bruder KATO, der sicher noch eine lange Zeit auf der Novizenstufe seine Einwände vorbringen würde.
„He, verdamme niemanden so leichtfertig!“, sprach Bruder RSYC mit der Bibel in der Hand. „Liebe deine Feinde. Weißt du noch?“
„Kein Mensch liebt seine Feinde, Bruder. Es gibt bloß Leute, die vorgeben, es zu tun“, rief LGP1.
„Ich habe hier den Bericht zur Gedankenkontrolle“, fuhr Bruder MAOK dazwischen, der den Vorsitz hatte. „Darin heißt es, eine Schlechtwetterfront entlang des Golfstroms beeinträchtige unsere Telepathen. Der Premierminister von Ugenda war volle drei Stunden ohne Überwachung.“
„Das können nur wieder die Nihil...“, begann LGP1.
„Ist denn die Wettermaschine immer noch nicht fertig?“, wollte RSYC wissen.
„Unsere Forscher arbeiten noch daran“, antwortete Bruder INTS, der mit den wissenschaftlichen Aufgaben betraut war. „Aber sie haben mit einem denkbar knappen Budget zu kämpfen...“
Bruder LGP1, der Kassenwart, unterbrach ihn: „Die Forscher verpulvern unsere Mittel links und rechts, dabei haben sie nicht mal einen Bruchteil der angeforderten Wanzen fertig!“
„Bruder“, begann INTS, „die Gesamtverwanzung des Globus kostet eben einige Zeit. Wir können jetzt bereits einen beträchtlichen Teil von Agnostingen und Umgebung abhören, es fehlt nur noch das Gewerbegebiet, und...“
„...und 99 Prozent der restlichen Welt“, ergänzte Bruder RSYC.
„Und jetzt sollen wir auch noch die Wettermaschine fertig stellen. Wie soll das gehen?“ INTS klang verzweifelt.
„Liegen denn wenigstens die geplanten Börsenkurse für nächsten Monat vor?“
„Ähh“, begann Bruder LGP1 kleinlaut. „Da gab es dieses Erdbeben im Urangebirge, und das hat die Kurse ein wenig negativ beeinflusst. Aber ich glaube, dahinter stecken wieder diese verdammten Nihil...“
„Ich steck dir gleich deine Nihilisten irgendwo hin!“, rief MAOK wütend.
„Es gibt aber eine positive Nachricht“, sagte Bruder LGP1, „wir konnten den offenen Kanal vollständig unter unsere Kontrolle bringen. Jetzt gehören uns bereits zwei Prozent der gesamten lokalen Medienlandschaft.“
„Ausgezeichnet. Damit können wir eine weitere Welle sublimer Botschaften aussenden.“
„Tut mir Leid, das sagen zu müssen“, sagte Bruder INTS, „aber wir mussten den Großteil unserer Propagandaexperten entlassen, um Geld zu sparen. Ich habe aber einige hörige Brüder bei der Lokalzeitung sitzen, die...“
„Ich habe die Liquidierung des Chefredakteurs bereits angeordnet“, sagte MAOK. „Er wurde zu kritisch gegenüber unserem Bauvorhaben, dem Tunnel zum Hohlraum der Erde. Wir sollten die vakante Stelle mit einem unserer Leute besetzen.“
„Das war einer unserer Leute.“
„Schieben wir es einfach auf die Nihilisten“, schlug Bruder LGP1 vor.
Das gesamte Gespräch war dazu geeignet, mich gehörig zu ernüchtern, und so stand ich nach einer Weile unbemerkt vom Tisch auf und begab mich auf den Balkon, um den heftiger werdenden Schmerzensschreien von Bruder SHMU zu lauschen und nachzugrübeln. Insgesamt wirkte die Sitzung ein wenig unorganisiert, aber ich war mir sicher, dass das ein Täuschungsmanöver war, um eventuell mithörende Nihilisten und sonstige Feinde der Wahrheit in Sicherheit zu wiegen und zu verwirren. Die wahre Kontrolle der Welt wurde in Hinterzimmern der Hinterzimmer ausgeübt, oder gar in der nächsten Ebene, der Ebene mit der mystischen Zahl drei.
Der Winter der frustrierenden Politspiele war vorüber und ein atemloser Frühling wachte über der Welt. Ich hatte wohl gemerkt, dass diese ganze Intrigenspinnerei nicht mein Metier war, und hatte mich unverzüglich auf den Aufstieg in die dritte Stufe vorzubereiten begonnen, der ich nun, da ich dies erzähle, angehöre. Mit dem Ziel vor Augen, so bald wie möglich zum Malkuth-Meister des dritten Zirkels zu werden, und vielleicht sogar einmal die ewige Flamme von Grah zu hüten, hielt ich die Schattenspiele und Scheingefechte der zweiten Stufe geduldig aus, waren sie doch nur eine weitere Prüfung auf dem steinigen Pfad zur Sonne.
Lange schon hatte ich Edwin aus den Augen verloren, doch ich vermutete, er wäre Stolz darauf, was ich inzwischen alles vollbracht hatte. Den ganzen Winter über hatte ich lokal begrenzte Konflikte in der subkontinentalen Region von Lemuria gelenkt, wobei ich die Entwicklungen gelegentlich (und wohldosiert) aus dem Ruder laufen ließ, nur damit das Ganze nicht zu perfekt aussah und niemand Verdacht schöpfte.
Der Frühling entfaltete seine Pracht mit grimmiger Geduld, als meine Initiation in den heiligen dritten Zirkel anstand. Jemand da oben mochte mich, so schien’s, der kometengleichen Geschwindigkeit meines Aufstiegs nach zu urteilen. Der dritte Zirkel, davon war ich inzwischen überzeugt, würde nurmehr der Vorbereitung auf den finalen und alles beherrschenden vierten Zirkel dienen, und so hatte ich brav mein Mantra gelernt („Ich erinnere mich an mich selbst“), die gelbe Robe übergestreift, glimmende Rosenkreuze angelegt, die Krone der Weissagung aufgesetzt und vorsorglich eine Tube Vaseline eingesteckt.
Der heilige Tempel war fein hergerichtet, ein Pfad aus Weihrauch durchzog die Halle, Obelisken aus Jade kreuzten den Weg und laut schillernde Opale scheuchten die Dunkelheit aus der geweihten Stätte.
Der Zeremonienmeister wehte herein, ernst und schweigsam wie der Wind.
„Willkommen, Bruder. Ich bin TOAR, Großmeister der vierten Ebene. Meine Aufgabe heute ist es...“
Nicht das Ende seiner Rede abwartend, wandte ich mich von ihm ab, zog meine Beinkleider hinunter und bückte mich tief. Und es war richtig.
Vorbei die Zeit als ferner Schlachtenlenker, vorbei die Zeit, die ich mit der Verwaltung unserer geheimen UFO-Flotte unter der Wüste Grobi zugebracht hatte, endloses Aktenwälzen und dröger Papierkram. In Stufe nummer drei würde es um die wirklich wichtigen Dinge gehen: Die Seele und die Unendlichkeit. Das war gewiß.
Ein neuer Sommer durchmaß die Zeiten, wohlfeile Glut erfrischte und ermunterte uns. Ich konnte gehen, sitzen, springen wie ein junger Fisch. Die kurz zuvor erlittene Demütigung hatte ich rasch vergessen.
Ich machte mich daran, mein neues Mantra zu ergründen, dessen zweiter Teil lautete: „Ich war ein Narr, doch nun sehe ich“.
Die zuvor gelernten Sprüche waren, laut eines etwas vulgären Mitbruders, nur ‚Hühnerscheiße‘, der Meinung eines anderen zufolge waren sie ‚Unfug, Humbug, Zinnober, Hokuspokus, Augenwischerei‘. Und in der Tat, ich war ein Narr gewesen, ihnen solch kosmische Bedeutung beizumessen. Ich sollte mich vielmehr an mich selbst erinnern, um das Wohlergehen meiner unsterblichen Seele kümmern, anstatt okkultem Tand nachzujagen oder mich allzusehr mit weltlichem Unrat zu belasten.
Doch auch diesem Frieden traute ich nicht – sicher würde ich die Gesamtheit aller bisher erfahrenen Mantras erst in Stufe vier zu deuten vermögen. Die letzte Ebene, deren süße Litanei ihr, unwertes Bauernpack, niemals vernehmen werdet. Denn in diesem Moment, just als ich euch meine Reise in den unendlichen Logos der Schöpfung schildere, stehe ich vor dem Tor des Tempels, in dem der Ritus stattfindet, der mich endgültig zum Status des Operierenden Thaumathanathos befördern wird.
Die letzten Wochen habe ich mit Meditation, Askese und rituellen Waschungen zugebracht, und mit dem Hüten der ewigen Flamme von Grah. Ich war geläutert, mein Karma war blütenweiß und strahlte durch die Nacht wie ein ehernes Gestirn.
Hier stehe ich nun im grünen Büßergewand und bin bereit für die letzten Dinge, bereit vor den GROSSEN POLIER persönlich zu treten und den heiligen Mörtel mit meinen eigenen Händen zu berühren. Die lange Irrfahrt wird nun ihr Ende finden, und das Pantheon der Götter wird um einen reicher sein: ADAN, größter Meister der vierten Ebene, Großwesir aller Engel, stellarer Hohepriester der Weisheit und Heiland der Apokalypse. HJHVJVH, sieh dich vor, dein Thronfolger steht vor den Toren.
Majestätisch öffnet sich die Pforte zur Ewigkeit und ich trete ein, halb in Trance und halb entrückt. Karge Schlichtheit schlägt mir entgegen. Der übliche Schmuck fehlt diesmal, nur eine zugedeckte Tafel ist in der Mitte aufgestellt. Ekstatisch walle ich zum Zentrum des Raumes, weihevoll wabert mein Körper wie eine delikate Sphäre.
Der Großmeister ist schon dort, ganz in grün und überragend in seinem Prunk und seiner Ummantelung aus Gold.
Bevor er irgend etwas sagen kann, wirbele ich in rauschhafter Umnachtung herum und reiße mir die Kleider vom Leib, wobei ich einen euphorischen Veitstanz aufführe, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat.
Zufrieden nickt der Meister und es kommt, wie es kommen musste.
Nach dem Abschluss der Formalitäten stehe ich, wieder vollständig bekleidet, vor meinem Prüfer und harre der Enthüllungen, die da kommen mögen. Lange hat es gedauert, doch das Ziel meiner Wünsche ist nun greifbar nah.
„Was steht auf dieser Tafel? Das finale Mantra?“ frage ich, von Ungeduld erschüttert.
„Auf dieser Tafel“, sagt er, „steht die Antwort.“
„Die Antwort auf alle Fragen, die Weltformel, der Stein der Weisen, der Sinn des Lebens? Das geheime Wissen, das Wissen, das unsere Brüder seit Jahrtausenden hüten wie ihren Adamsapfel?“
„Auf der Tafel steht alles, was du wissen musst.“ Mit diesen Worten zieht er das Tuch von der Tafel und verlässt ohne ein weiteres Wort den Raum.
Sprachlos starre ich die Aufschrift der Tafel an, unfähig, mich zu rühren.
Es war eine schlichte grüne Schultafel, und mit Kreide stand darauf in Druckbuchstaben geschrieben:
„ANGESCHISSEN!“
Ich war gefickt. Und, beim Zeus, was bin ich wütend! Ich Koche wie die Vulkane der Venus. Oh, ich habe es immer noch nicht verkraftet, es nagt an mir wie ein Hungertuch. Ja, diese Enthüllung brachte mich ins Wanken wie den geraden Turm von Pisa, mein Gehirn windet sich und mein Astralkörper schmerzt und meine Gedanken sind unfokussiert wie ein verlorener Faden.
Aber je mehr ich darüber nachdenke, um so klarer wird es: Es ist eine Prüfung. Ja, es muss eine Prüfung sein. Keiner meiner Mitbrüder aus der vierten Stufe redet darüber. Wir sitzen um die Tafel und stärken uns gerade mit Ambrosia aus herbstlicher Stutenmilch und sammeln Kraft für die nächste Orgie, die in Kürze stattfinden soll. Eine Wagenladung Lustknaben und blutjunger Dirnen aus Byzanz wird erwartet. Die Keller sind durchdrungen von freudiger Erregung.
Niemand spricht es laut aus, aber es machen Gerüchte und Andeutungen von einer fünften Stufe die Runde, einer Stufe, die möglicherweise so geheim ist, dass nicht mal ihre eigenen Mitglieder davon wissen.
Bruder HRAZ reicht mir gerade die Opiumpfeife und ich nehme einen kräftigen Zug.
Andere behaupten hinter vorgehaltener Hand, dass einige der Brüder Informationen über die nächste Stufe zurückhalten. Misstrauisch beäugt man sich, es könnte schließlich der Bruder zu deiner Linken oder zur Rechten insgeheim Mitglied der nächsten Ebene sein.
Wartet einen Moment, ich muss kurz ein wenig schlemmen. So, schon kann es weitergehen.
Jedenfalls bin ich überzeugt, dass ein Ort existiert, an dem die wahren Geheimnisse gehütet werden, wo der Schleier über den letzten Rätseln der Existenz gelüftet wird, reserviert für all jene, die die Prüfung der derzeitigen Stufe bestehen. Dort wird man dann ganz sicher auch erfahren, wer der eigentliche Anführer unserer Organisation ist, der Zieher der Fäden, der direkte Kontaktmann zum GROSSEN POLIER, der gewaltige Visionär und Genius der Energie.
Mir ist etwas heiß geworden, kurz weise ich einen nackten Sklaven an, mir Luft zuzufächeln.
Ich persönlich glaube ja, dass sich Bruder KHRA, dieser fette mit dem verschlagenen Dackelblick, und Bruder DMAR, dieses feiste Rattengesicht, heimlich gegen den Rest verschworen haben, so wie sie immer tuscheln und den Blick gierig wandern lassen. Möglich ist auch, dass die beiden Agenten der Nihilisten sind, oder einer anderen Organisation, die verhindern will, dass die finale Wahrheit ans Licht kommt. Auf jeden Fall bin ich sicher, dass ich bald über die vierte Stufe und meine närrische Rolle darin herzhaft lachen werde. Ich Einfaltspinsel konnte doch nicht wirklich glauben, das sei alles gewesen. Ja, stolz wie ein Triumphbogen werde ich auf das Gewürm herabblicken, dass sich irgendwo dort unten mit der Wahrheitssuche abquält, und lachen, lachen, lachen. Doch bis dahin...
Ein rüder Herbst ist geboren, die wilden Stürme zucken hernieder und der Tempel erstrahlt einmal mehr in übermütigem Glanz.
Der Novize, ängstlich wie eine Scheuklappe, nähert sich langsam dem Altar. Der Narr! So voller Hoffnung, noch gar nicht wissend, was auf ihn zukommt.
Und siehe da: Ich kenne die erbärmliche Gestalt. Niemand anderes ist es als Pit Heydenreych, der Deserteur und Verräter von einst. Heimgekommen ist er, wie sie alle schließlich heimkommen, die auf fatale Irrwege geraten sind. Doch frage ich mich, ob er das, was er bei uns bekommen wird, nicht auch bei den Katholiken bekommen konnte. Doch nun wohlan, ein neuer Rekrut wartet zitternd und nägelkauend auf die Einführungszeremonie. So sei es denn!
„Willkommen, Bruder. Ich bin ADAN, Großmeister der vierten Ebene. Meine Aufgabe heute ist es, den Initiationsritus durchzuführen. Bist du bereit, die Weihen zu empfangen, und in den Orden einzutreten, elender Sterblicher? Bist du bereit, die wahre Bedeutung deines heiligen Mantras zu erfahren? Bist du bereit, all deine Überzeugungen aufs Spiel zu setzen und dein voriges Leben aufzugeben, um der großen Wahrheit näher zu kommen?“
„Ja, ich bin bereit.“
„Ausgezeichnet. Aber zuerst zieh dich aus.“
Ängstlich und verwirrt zieht er sich aus.
„Gut. Nun bück dich!“
Und er bückt sich.