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Das Geheimnis des Nachtwaldes
„Der Nachtwald? Was soll daran so besonders sein?“ Rano hob den Humpen Bier an und nahm einen großen Schluck.
„Hast du denn noch nie die Geschichten gehört?“ Piro war ganz aufgeregt.
„Was für Geschichten?“
„Na, von Hexen und bösen Geistern“, schaltete sich Menz ein. „In dem spukt es. Ich habe noch nie von einem gehört, der lebend aus dem Wald wieder raus kam.“ Bekräftigendes Nicken auch von Piro.
„So, so. Und wie sind dann die ganzen Geschichten entstanden, wenn es keine 'Überlebenden' gibt?“, machte sich Rano über die beiden lustig. Er gab nichts auf diesen Hokuspokus. Vermutlich hatten die Wanderer einfach bloß den Wald durchquert und auf der anderen Seite ein weitaus besseres Leben vorgefunden. Viel schlechter als unter König Ranulf konnte es woanders auch nicht sein. Die Abgaben schrien schon hier zum Himmel, höher ging es fast nicht. Vielleicht würde auch er ein besseres Leben finden.
„Gut, ich werde euch beweisen, dass es im Nachtwald nicht mehr spukt als in irgendeinem anderen. Will mich einer von euch begleiten?“ Entgeisterte Gesichter blickten Rano an. „Dachte ich mir.“ Er warf ein paar Münzen auf den Tisch, um seine Rechnung zu begleichen, nickte seinen Freunden zu und verließ das Wirtshaus mit kräftigen Schritten. 'Wollen wir doch mal sehen, ob der Nachtwald auch mich nicht wieder freigibt.'
Doch so forsch er auch ausgeschritten sein mag, als er die Schenke verließ, je mehr er sich dem Wald näherte, desto unwohler fühlte er sich.
'Du wirst doch nicht an diese Geistergeschichten glauben?', schalt er sich in Gedanken. Dass die Menschen nachts im Wald Angst hatten, konnte er sogar nachvollziehen. Mit Einbruch der Dämmerung entwickelten Wälder ein Eigenleben. Es knackte und knirschte von überall her. Wie von Geisterhand bewegten sich Äste, obwohl doch kein Wind wehte. Die Bäume warfen unheimliche Schatten voller Leben im Mondschein.
Und doch war dies alles nur Einbildung.
Auch ihn hatte schon so manch brechender Ast erschreckt, doch ließ er sich davon nicht abhalten, das Wesen des Nachtwaldes zu ergründen. Vielleicht wohnte diesem Forst wirklich eine unheimliche Kraft inne – obwohl er daran nicht glauben wollte.
Doch als ob ihn sein Körper Lügen strafen wollte, schlug sein Herz in wildem Rhythmus. Rano hatte die Reden seiner Freunde als Unfug abgetan, aber so ganz wollte sein Verstand die Geschichten nicht leugnen. Auch ihm waren ähnliche Erzählungen zu Ohren gekommen, aber nichtsdestotrotz wollte er sich davon nicht verrückt machen lassen.
Rano betrat den Wald. So wenig er sich vor seinen Freunden die Angst hatte anmerken lassen, schon nach dem ersten Schritt schien sie ihn fast zu überwältigen. Dabei gab es – wie er in der Schenke gesagt hatte – keinen rationalen Grund, diese Art der Beklemmung zu spüren. Es war nicht übermäßig kalt, und doch war ihm, als griffen eiskalte Hände nach seinen Knöcheln und versuchten ihn zu Boden zu zerren. Obwohl er noch hätte umkehren können, verbot ihm dies sein Stolz. Er wollte sich keine Blöße geben. Niemand hätte ihn für einen Spinner gehalten, denn zu viele hatten die Gerüchte über den Nachtwald gehört und doch ging es nicht. Er käme sich feige vor. Er, der große, sich vor nichts und niemandem fürchtende Rano.
Nebelschwaden waberten bereits am Boden entlang, sodass er seinen Weg immer schlechter sah. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, immer darauf bedacht, möglichst wenig Geräusche zu verursachen, die die Waldbewohner aufschrecken konnten.
Doch er hätte auch schreien können. Die Wesen, die den Nachtwald bewohnten, störten sich nicht an irdischen Geräuschen. Sie ließen sich davon nicht vertreiben, viel zu sehr wurden sie von dem Geruch der Angst angezogen, der den Menschen hier in ihrem Reich anhaftete.
Je weiter Rano in den Wald eintauchte, desto mehr Nebel bildete sich um ihn herum. Die feuchte Luft ließ ihn noch mehr frösteln, als er es ohnehin schon tat. Die nach ihm greifenden Klauen folgten ihm auch weiterhin. Doch mit jedem Schritt, den er tat, verringerte sich die in ihnen lauernde Bedrohung, vielmehr schienen sie ihn nun weiter in das Innere ziehen zu wollen.
Nur allzu bereitwillig folgte Rano diesem Lockruf, denn ihr Griff war hier weit weniger eisig.
Inzwischen war er schon eine Stunde gelaufen und im Nebel meinte Rano, Gestalten ausmachen zu können. Noch waren sie schemenhaft und doch versprachen sie die Erfüllung seiner heimlichen Fantasien. Er hatte seine Schritte beschleunigt, um diesen reizenden – und doch so scheuen – Wesen schnell näher zu kommen.
Die eisigen Griffe waren nun vollständig verschwunden. Stattdessen erschienen Bilder in seiner Fantasie von den Verführungen, welcher die hier lebenden Schattenwesen fähig waren. Doch schien sein Verstand viel zu beschränkt zu sein, als dass er hätte wirklich fassen können, welche Dinge im Nachtwald alle geschehen konnten.
Schon bald waren aus den Schemen Frauenkörper geworden. Auch wenn der Nebel sie einhüllte, wusste Rano, dass sie nackt waren. Doch obwohl sämtliche Blöße bedeckt waren, war unschwer zu erkennen, dass diese Frauen sehr anziehend waren. Er konnte ihr Kichern ganz deutlich vor sich vernehmen und begann zu rennen. Er wollte keine einzige Sekunde länger von ihnen getrennt sein.
Wenn sie ihn jetzt schon so um den Verstand zu bringen vermochten, wie musste dann eine Begegnung mit ihnen sein!
Ihm war gleichgültig, ob eine Baumwurzel oder anderes Geflecht seinen Weg versperren könnte. So schnell ihn seine Beine tragen konnten, lief er weiter. Er wollte keine Zeit verlieren, um zu diesen göttlichen Wesen zu gelangen.
Und da, plötzlich, wie aus dem Nichts, tauchte eine Lichtung vor ihm auf. Ein bisschen abseits, hinter den Bäumen konnte er sie entdecken. Sie lösten sich von ihrem Versteck und kamen auf ihn zu – und mit ihnen der Nebel. Noch immer waren sie verhüllt. Er konnte ihre Körper nur erahnen, und entgegen seiner Erwartung regte ihn dieser Umstand nur noch mehr an. Allerdings konnte er sie lächeln sehen, während sie von Dingen sprachen, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieben.
Als sie nur noch eine Armlänge von ihm entfernt sein mussten, konnte er nichts mehr erkennen vor lauter Nebel. Seine Welt war weiß – bestand nur noch aus feuchter Luft. Doch das störte ihn nicht. Seine Göttinnen hatten ihn erreicht und zupften verspielt an seiner Kleidung. Er war ihnen so nah, konnte spüren, wenn sie sich um ihn herum bewegten – wenn er sie schon nicht sehen konnte. Völlig in seiner Faszination versunken, kam er der Aufforderung nicht nach, sodass sich das Zupfen an seinem Ärmel etwas verstärkte.
Jetzt endlich konnte er sich aus seiner Erstarrung lösen – und legte langsam seine Sachen ab. Die Stimmen um ihn wisperten Worte, die er nicht verstehen konnte, doch allein der Klang ließ einen wohligen Schauer über seinen Rücken laufen.
Erneut brach eine Woge Gekicher über ihn herein.
"Was führt einen so starken Mann um diese Zeit in unseren Wald?", sprach eines der Wesen mit verführerischer Stimme.
"Ich versuche, das Geheimnis des Waldes zu erkunden."
"Und seid Ihr ihm schon auf die Schliche gekommen?", ließ nun eine andere vernehmen.
"Ich bin gerade dabei, es zu erfahren." Ein dreckiges Grinsen breitete sich über Ranos Gesicht aus.
Während dieser Worte strichen hauchfeine Hände über seinen Körper. Es war nicht bloß ein Paar. Er konnte auch nicht mit Sicherheit sagen, wie viele Wesen sich um ihn versammelt hatten. Es war unmöglich, die Hände auseinander zu halten. Kaum berührten sie ihn, waren sie wieder verschwunden – und doch waren sie überall zu spüren. Er drehte seinen Kopf, um sie eine nach der anderen erblicken zu können, doch lagen ihre Gesichter – ebenso wie ihre Körper – im Nebel verborgen. Zusätzlich wurde es bei ihren verführerischen Händen immer schwerer sich überhaupt auf eine Aufgabe zu konzentrieren.
Kurze Zeit später wusste Rano nicht mehr, was er eigentlich hatte wissen wollen. Ihre verspielten Hände hatten all seine Gedanken weggefegt. Allerdings hatte er es noch nicht geschafft, auch nur eine seiner Nymphen selber zu berühren. Jedes Mal, wenn er – in der sicheren Annahme, ein Wesen direkt vor sich zu haben – den Arm ausstreckte, fühlte er nur Luft. Es war zum Verrücktwerden.
Sie waren ihm haushoch überlegen und er musste sich ihnen völlig hilflos hingeben – und es gefiel ihm, keine Macht und Kontrolle zu haben.
Sie steigerten ihr Spiel – fuhren ihm hier übers Gesicht, streichelten dort an den Beinen entlang, strichen da über seine nackte Brust – bis er völlig am Ende seiner Kräfte in sich zusammenbrach. Er sackte einfach auf den Waldboden.
Die Luft wurde augenblicklich kälter – eisiger. Doch Rano schien jenes nicht zu spüren. Noch immer beseelt von dem eben Erlebten, grinste er vor sich hin. Er hatte es gewusst, dieser Wald hatte nichts – aber auch gar nichts – Schreckliches an sich. All die tapferen Männer, die sich aufmachten, das Geheimnis dem Wald zu entlocken, waren fündig geworden. Sie beschlossen, hier an diesem Ort der süßen Verlockungen zu bleiben und auf immer dem harten Alltag zu entsagen. Und auch Rano hatte sich entschieden, wie sein Leben weiter verlaufen sollte.
Mit einem seligen Lächeln fiel er in einen tiefen Schlaf – den Schlaf des Vergessens.
Der Nebel verzog sich in dem Moment und gab den Blick auf eine Lichtung frei. Die Bäume waren kahl – bahr jeden Lebens. Doch der Waldboden war übersät mit menschlichen Leibern, erstarrt in der Kälte. Allesamt Männer mit einem seligen Lächeln auf den Lippen.
"Du Narr, das Geheimnis des Waldes bleibt auf ewig unser." Hysterisches Lachen war die Antwort auf diese schrille Stimme.