Das Geheimnis des unsichtbaren Kerkers
Nisang war schon seit langer Zeit unterwegs - orientierungslos auf der Suche nach ihrem Freund Otaris, dem Waldläufer.
Durch ein Unglück waren sie getrennt worden und es schmerzte sie bitterlich.
Ein kleiner Trost war dieses fremde Land, in dem sie sich verirrt hatte, denn es strahlte eine faszinierende Schönheit aus: weites Land, üppige bunte Pflanzenwelt, viel Sonnenschein - nachts ein strahlender Sternenhimmel; die Menschen braungebrannt von der Arbeit auf dem Felde - offene, freundliche, liebevolle Menschen.
Immer wieder wurde Nisang eines Abends herzlich aufgenommen – von Menschen, die sich freuten, sie beherbergen zu dürfen, um so Nisang’s Reise-Erzählungen neugierig zu lauschen. Ihre Erzählungen erhellten das Alltagsleben der Menschen.
Nisang war eine schöne junge Frau von 23 Jahren. Sie war der Kräuter kundig, hatte viele Jahre bevor sie Otaris begegnet war, bei einem alten Zauberer gelebt und von ihm viele Geheimnisse erfahren. Sie kannte die Gesetzte des Schicksals, wusste um geheime Quellen und Orte tief in den Seelen der Menschen.
Nisang selbst war durchdrungen von einer unstillbaren schmerzhaften Sehnsucht, welche sie durch die Welt reisen ließ. Diese Sehnsucht brannte tief in ihrem Herzen.
Es war die Sehnsucht
nach dem ALL-umfassenden
nach dem Einen, der mit ihr EINSwerde,
nach dem Aufgehen in die Unendlichkeit des Göttlichen.
Es war Abend.
Müde ging sie eine alte staubige Landstraße entlang. Hohe Berge türmten sich zu ihrer linken Seite, rechts war weites Land bis zum Horizont. Der Weg verlief in Serpentinen höher und höher, die Berge hinaufführend. Ab und zu blieb sie stehen, blickte zurück und genoss den Ausblick.
Die Sonne war am Untergehen und schickte ihre letzten Strahlen in bunter Vielfalt über Wolken und Berge. Nisang fing gerade an sich Gedanken zu machen, wo sie wohl diese Nacht verbringen würde, als sie in einiger Entfernung von der Landstrasse eine alte, leicht verfallenwirkende Hütte zwischen Blätterwerk und Felsbrocken erspähte.
So stampfte sie sogleich geradewegs durch das Unterholz bis zu der niedrigen alten Tür jener Hütte. Sie klopfte 3mal kurz hintereinander, wartete und lauschte. Einen Moment lang blieb alles still bis sich schließlich schleifende müde Schritte näherten und knarrend-ächzend die alte Türe geöffnet wurde. Sie staunte.
Vor ihr stand eine kleiner alter Mann, der ihr gerade bis zur Hüfte reichte, mit einem langen Bart bis fast zum Boden. Aus einem runzeligen, kleinen, knolligen Gesicht blickten sie warme Augen freundlich an. „Grüße Dich, Nisang! Ich habe bereits auf dich gewartet.“
Nisang staunte noch mehr und eine Spur Erschrecken mischte sich zu ihren Gefühlen: „Wer bis du? Woher kennst du meinen Namen?“
„Ich bin Jasu, der Wurzelmann. Alles weitere erkläre ich dir bei einer heißen Kräutersuppe und einem würzigen Stück Wurzelbrot. Du hast doch bestimmt Hunger, nicht wahr? Tritt ein in meine bescheidenen Behausung.“
....und Nisang nahm erst jetzt diesen würzig-duftenden Geruch wahr, der ihr in der Nase kitzelte. Oh ja, sie hatte wahrhaft großen Hunger nach dem langen Tagesmarsch durch die Berge! So ließ sie sich nicht zweimal bitten und trat voller Vertrauen ein in das behagliche Heim des Wurzelmannes, und sie spürte, dass dieser Wurzelmann irgendwie zu ihrem Schicksal gehörte.
Als sie voller Genuss die köstliche Suppe und das leckere Wurzelbrot verspeist hatte, fing Jasu an zu erzählen: „vor sieben Tagen hatte ich eine Vision, in der mir mitgeteilt wurde, dass du hierher kommen würdest und ich wurde beauftragt, dir folgendes mitzuteilen: Du bist deinem Glücke nah! Otaris, der Waldläufer sitzt in Makostia im Gefängnis...“
„Wirklich?! Oh Gott, Otaris! Wo genau? Wie weit ist das? Ich will zu ihm...“ unterbrach Nisang ganz aufgeregt den Wurzelmann.
„Gedulde dich Nisang, ich will dir ja alles erzählen!“
„Oh entschuldige – ja. Ich höre dir weiter zu. Ich kann es kaum glauben, weil ich schon so lange auf ein Lebenszeichen von ihm warte und fast schon ein bisschen die Hoffnung aufgegeben hatte.“
„Nun gut Nisang, so bist du vielleicht deinem Ziele nahe. Aber ich warne dich, es wird nicht einfach werden...“ und Jasu erzählte Nisang alles was ihm in der Vision mitgeteilt worden war. Es würde nicht einfach werden Otaris aus jenem Gefängnis zu befreien. Nisang hörte aufmerksam zu und wäre am liebsten sofort losgestürmt. Doch Jasu bat sie, sich erst einmal auszuruhen, auszuschlafen und morgen den Tag gestärkt zu beginnen, da sie viel Kraft brauchen würde.
Am nächsten Tag machte sich Nisang auf den Weg nach Makostia. Sie war drei Tage und drei Nächte unterwegs. Sie schlief unterwegs nur wenige Stunden und ernährte sich ausschließlich von Wasser und dem nahrhaften und stärkenden Wurzelbrot, dass ihr Jasu als Proviant mit auf den Weg gegeben hatte. Ihre Sehnsucht nach Otaris war zu stark, um ausgiebig zu rasten und so gelangte sie erschöpft aber in freudiger Spannung nach Makostia.
Doch was für eine hässliche Stadt! Viele Mauern, keine Bäume, finsterblickende, misstrauische Menschen auf der Straße, ganz anders als das was sie bisher von diesem Land kannte. Ein unheimlicher Ort. Die Menschen starrten sie an. Nisang konnte deren Gedanken beim Vorübergehen lesen: „Was will die denn hier?“
Endlich fand sie das Gefängnis. Ein wuchtiger, großer Bau mit lochartigen Fenstern, sehr düster, dunkel und bedrohlich wirkend. Ihr schauderte. Es waren keine Wachposten zu sehen.
Jasu hatte ihr von der Besonderheit dieses Kerkers erzählt. Er wurde nicht von Wachposten bewacht, sondern von den Ängste seiner Insassen. Die Gefangen wurden grausam gefoltert über Wochen hinweg (genaueres über die Foltermethoden wusste er nicht zu sagen) bis sie schließlich in Verliese geworfen wurden, wo sie in Stumpfsinn und Apathie verharrten.
Nisang hatte jedoch keine Bedenken, Otaris zu befreien. Sie war sich sicher, dass ihre grenzenlose Liebe, Otaris sofort aus diesem Zustand zurückholen würde. Sie dachte voll Schmerz & Wut daran, wie Otaris sich wohl im Moment fühlte, was ihm wohl zugefügt worden war.
Wildentschlossen betrat sie das Gefängnisportal und stand vor einem großen Eisengitter ohne Schloss, ohne Griff. Wie konnte man dieses Tor öffnen?
Da fiel ihr wieder ein, was Jasu erzählt hatte. Gut, sie wollte es probieren. So blieb sie ruhig vor dem Tor stehen, versenkte sich in ihr Innerstes, ließ ihre tiefe Liebe und Sehnsucht nach Otaris sich in ihrem ganzen Körper ausbreiten.
Sie sah vor ihrem Inneren Auge, wie Otaris freudestrahlend auf sie zukam. Sie ging ihm mit ausgestreckten Armen entgegen. Ihr Herz pochte dabei vor wilder Freude wie sie sich so entgegen gehen. Doch in diesem Moment, als sie sich gerade glückselig in die Arme fielen, fuhr sie vor Schrecken zusammen. Ein donnernden Geräusch riss sie aus ihrer Vorstellung. Sie schlug die Augen auf. Das schwere Eisengittertor war aufgesprungen.
Freudig schritt sie durch das Tor. Doch was war das? Sie fand sich in einem herrlich blühenden Garten wieder, mit seltenen Blumen und großen alten Bäumen. So sah doch kein Gefängnis aus!
Sie blickte sich um und erkannte zu ihrer Überraschung, dass die düstren Gefängnismauern nur eine Fassade war, welche das Gefängnis von der Stadt trennte. Hier hinter dem Tor war freie, wilde Natur, wie sie es von diesem Land gewohnt war.
Was hatte all das zu bedeuten? Wo war sie wirklich? Träumte sie? Wo war das Gefängnis? Wo Otaris?
Sie ging ihn in diesem zauberhaften Stück Erde suchen. Da erblickte sie eine kleine Hütte, bestehend aus einer kreisrunden Mauer mit kleiner Öffnung und einem Dach aus Blätterwerk. Von der Form her erinnerte es sie an ein Iglu. Sie bückte sich, um durch die kleine Öffnung ins Innere zu gelangen. Da lag er! Zusammengerollt, verkrampft lag er auf dem Boden dicht an die Mauer gedrängt.
„Otaris!“ stieß sie voller Freude aus und wollte ihm stürmisch in die Arme schließen, wurde jedoch abrupt zurückgestoßen. Was war das? Sie rappelte sich auf und blickte geschockt in weitaufgerissene ängstliche Augen und geballte Fäuste.
„Verschwinde!“ sagte Otaris mit zittriger aggressiver Stimme.
Nisang war fassungslos: „Aber Otaris! Ich bin es doch! Erkennst du mich nicht?“
Da flüsterte er zärtlich: „ Nisang? Bist du es?“
Seine Fäuste öffneten sich und streckten sich ihr entgegen. Sie fielen sich schluchzend in die Arme. Liebevoll hielten sie einander, fest und innig. Für einen Moment verschwanden Raum und Zeit und da war nur diese warme, geborgene Liebe, die sie beide wie einen warmen Mantel einhüllte.
Nisang löste sich schließlich aus der Umarmung, stand auf, nahm Otaris an der Hand und meinte sanft: „Komm, lass uns gehen!“
Otaris zuckte ängstlich zusammen, zog seine Hand zurück: „Was? Wohin?“
„In die Freiheit,“ entgegnete Nisang.
„Nein, ich kann nicht“ sagte Otaris.
„Aber warum nicht, Otaris? Da ist nichts was uns hindert. Wir sind frei. Es sind keine Wachposten da und das Gefängnis ist nur eine Attrape, ein Schutzwall gegen die hässliche böse Stadt. Hier ist wilde Natur und Freiheit. Wir können gehen, wohin wir wollen.“
„Nein, ich kann nicht,“ schrie Otaris und sein ganzer Körper zitterte vor Angst.
„Aber. Otaris, ich verstehe nicht,“ und Nisang fasste erneut zärtlich seine Hand: „Komm, geh mit mir!“
„Nein, niemand kann gehen. Was weißt du schon von Freiheit! Du mit deinen Ideen und sinnlosen Geplapper. Du verstehst gar nichts. Du bist genauso gefangen wie ich. Wir sind Verdammte!“
Nisang schossen die Tränen in die Augen. Fassungslos und verzweifelt starrte sie Otaris an. Was hatte das alles zu bedeuten? Was war nur mit Otaris geschehen, was hatten sie mit ihm gemacht? Sah er nicht das, was sie sah? Welche Wahrnehmung war wahr? Sah sie etwa Freiheit, wo in Wirklichkeit Kerker war? Sie sank tief in Gedanken und spürte eine tiefe Trauer.
Plötzlich erklang zärtlich fragend Otaris vertraute Stimme: „Nisang? Bist du noch da? Bitte geh nicht fort. Bleib bei mir. Ich liebe Dich.“
Wieder fielen sie sich in die Arme und Nisang sagte mit überströmender Liebe: „ Ja. Auch ich liebe dich und will nie mehr von dir getrennt sein. Also lass uns von diesem schrecklichen Ort fortgehen.“
Kaum hatte sie diese letzten Worte ausgesprochen, stieß sie Otaris wieder aggressiv von sich weg: „Ich weiß gar nicht was du willst. Ständig erzählst du mir, dass wir fort sollen. Wozu denn? Das wichtigste ist doch, dass wir uns haben. Du redest ständig davon, weiterzugehen. Wohin denn und warum? Ich will nicht gehen. Ich will hier bleiben mit dir. Wir haben hier alles. Wenn du aber meinst unbedingt wegzugehen, dann ist allein dein Problem!“
„Hm,“ Nisang war verwirrt und dachte sich, dass er ja irgendwo recht hatte und schaute sich in der Steinhütte um. Es war irgendwie behaglich hier: still, ein kühlendes Blätterdach, vor der Tür draußen herrliche Blumen...
„Wie lange bist Du schon hier? Otaris?“
„Eine lange Zeit“ gähnte Otaris „und ich habe hier alles, was ich brauche. Nur du hast mir gefehlt. Aber jetzt bist du ja da.“
„Warum bist du mich nicht suchen gegangen?“
Otaris antwortete: „Die Welt ist so groß – wo hätte ich anfangen sollen, nach dir zu suchen? So habe ich mir gedacht, ich warte hier und eines Tages wirst du kommen und so wartete ich und wartete. Meine Liebe zu dir, Nisang, ist groß genug, dass ich jeden Tag erneut Hoffnung schöpfen konnte.“
Nisang weinte tief berührt und sie fielen sich wieder in die Arme. Doch in ihr überschlugen sich die Gefühle. Sie fühlte sich total durcheinander. Verwirrt. Verzweifelt. Irgendetwas schien ihr faul. War sie es, die nicht bei Sinnen war oder war es Otaris? In ihr kämpfte es. Sie spürte soviel Liebe in sich zu Otaris, war so glücklich, ihn wiedergefunden zu haben. Auf der anderen Seite spürte sie ganz deutlich, dass sie an diesem Ort nicht bleiben konnte und wollte. Dieser Ort hatte eine einlullende, lähmende Energie und sie spürte, wie sie mit jeder Minute, die sie weilte, sich dumpfer fühlte. Was sollte sie nur tun? Sollte sie sich fallen lassen in die sie mehr und mehr einlullende Wohligkeit oder sollte sie sich mit letzter Kraft losreißen und einfach weggehen? Beide Vorstellungen schmerzten sie.
Sie wollte nicht ihre Beweglichkeit verlieren, festgenagelt von unheimlichen Kräften an diesem seltsamen Ort. So spürte sie einen großen Reiz, sich einfach ganz in diese Nähe hineinfallen zu lassen, um alles herum zu vergessen. Andererseits war da die große Sehnsucht weiterzugehen, weiterzureisen, am liebsten zusammen mit Otaris.
Sie würde es aber nicht noch einmal wagen, ihn darauf anzusprechen, ob er mit ihr mitkomme. Das bedeutete, wenn sie sich fürs Weggehen entscheiden würde, müsste sie vielleicht für immer Abschied von Otaris nehmen. Der Gedanke daran tat ihr unendlich weh. Angesichts des Abschiedschmerzes erschien es ihr plötzlich ganz sinnlos alleine weiterzuziehen. Sie erinnerte sich auf einmal nicht mehr an die Zeit vor ihrer ersten Begegnung, als sie alleine gereist war. Jetzt wo sie so selig in seinen Armen lag, wollte sie nie mehr ohne ihn sein.
Da blitzte plötzlich die Erkenntnis in ihr auf, wie dieser unsichtbare Kerker wirkte.
Je länger sie hier saß, ergriff die Angst von ihr Besitz und die Vorstellung zu gehen, begann ihr mehr und mehr Angst einzujagen. Nun wusste sie, warum Otaris, sich so heftig weigerte, weiter zu ziehen. Er war schon zu lange hier, die Angst hatte seinen Geist bereits verwirrt, er war in den Klauen seiner eigenen Angst-Energie gefangen.
„Hilfe,“ schrie es in ihr voller Verzweiflung. Sie spürte wie die Angst-Energie auch an ihrer Seele zu nagen begann, um ihre dynamische Kraft zu fressen. Otaris lag inzwischen wieder ruhig und apathisch da. Er hatte sich an Nisang gekuschelt – zusammengerollt wie ein kleines Kind und sie streichelte ihm gedankenverloren übers Haar. Er schnurrte wie ein Kätzchen – wohlig warm war ihr und sie spürte wie ihre Gedanken immer nebliger kreisten und schweiften. Dösig und schwer wurde ihr Kopf und plötzlich war alles weg
- aufgelöst.