Das Geschenk
Wie lange hatte Markus diesem Tag entgegengefiebert. Die Aufregung ließ ihn ganz vergessen, was denn eigentlich der primäre Grund für seine helle Begeisterung beim Öffnen des 22. Türchens des Adventskalenders war. Der Julklapp in der Schule? Oder doch eher die Tatsache dass für ihn das Wort "Hausaufgaben" in den nächsten zwei Wochen keine Bedeutung haben sollte? Er wusste es nicht. Nichtsdestotrotz fokussierten sich seine Gedanken nun zunehmend auf den unmittelbar bevorstehenden Julklapp. Welches Geschenk er wohl bekommen würde? Auch diese Frage konnte er für sich nicht beantworten. Vielmehr beschäftigte ihn jedoch die Tatsache, noch keine Antwort auf die Frage nach einem adäquaten Weihnachtsgeschenk für seine Mutter gefunden zu haben. Um dem Abhilfe zu schaffen, beabsichtigte Markus auf seinem Heimweg einen kurzen Abstecher in die Fußgängerzone zu machen.
Es war bereits dämmrig als er das Schulgebäude verließ und sich auf den Weg ´gen Innenstadt machte. Er war alleine. Und doch begleitete ihn die Wut auf seinen Mitschüler Sebastian noch eine ganze Weile. Hatte dieser ihm doch tatsächlich nur ein selbstgebasteltes Weihnachtsgesteck geschenkt und ist damit nicht annähernd an die vier Euro herangekommen, die Markus für sein Geschenk ausgegeben hat. Die Nacht hatte nun endgültig ihren schwarzen Schleier über die Stadt gelegt als er die Fußgängerzone erreichte, die mit ihren unzähligen Straßenlaternen, bunten Neonreklamen und farbenfroh erleuchteten Kaufhäusern die leere Dunkelheit der Nacht mit einem faden Licht auszufüllen versuchte.
Markus schlenderte unentschlossen durch die Einkaufsstraße, in der sich die Menschen hastig ihren Weg von einem Geschäft ins andere bahnten und dabei teilweise mit ihren viel zu vielen Einkaufstaschen aneinander hängen blieben. Nach einem flüchtigen Austausch anschuldigender Blicke setzte schließlich jeder seinen Weg fort. Die Schaufenster der Geschäfte waren ungleich prunkvoller und edler dekoriert als den Rest des Jahres über und übten eine nahezu magische Anziehungskraft auf Markus aus, der vor einem besonders schön geschmückten Schaufenster eines Bekleidungsgeschäftes stehen blieb. Schon von weitem war ihm der mehr als aufwendig geschmückte Weihnachtsbaum in dem Schaufenster aufgefallen, der nun seine Aufmerksamkeit zur gänze in Anspruch nahm. Der Baum war von der Spitze bis zum untersten Zweig überaus großzügig mit goldenden Kristbaumkugeln sowie silbernem Lametta überhangen. Markus war wie hypnotisiert beim Anblick dieses Weihnachtsbaumes, der in seiner glitzernden und blendenden Schönheit alle Bäume in den Schatten stellte, die er bisher gesehen hat. Kein Vergleich, dachte sich Markus, zu dem schäbig anmutenden Baum auf dem Christkindelmarkt, der außer einem Engel an der Spitze und ein paar roten Kugeln keinen Schmuck trug. Noch ganz von der verführerischen Schönheit des Baumes benommen, schweiften seine Blicke über die restlichen Acessoires der Auslage und blieben bei zwei Schaufensterpuppen mit modischer Jugendkleidung stehen, wie sie auch von einigen seiner Klassenkammeraden getragen wird. Nach ausgiebiger Betrachtung blickte er schließlich an sich herab und fing an zu überlegen. Sollte er sich vielleicht ein neues Outfit zulegen? Immerhin war er fast 13. Vielleicht war er wirklich schon zu alt für die Kleidung, die seine Mutter immer für ihn aussuchte und sollte langsam anfangen, seine Kleidungsstücke selbst auszuwählen. Als er sich, immer noch in seine Gedanken vertieft, langsam von dem Schaufenster abwenden wollte, warf er noch einen letzten Blick auf den Weihnachtsbaum. Plötzlich fiel ihm auf, dass die Tanne dermaßen mit Gold- und Silberschmuck überladen war, so dass man kaum mehr als eine Hand voll grüner Zweige sehen konnte. Erneut betrachtet, hatte der Baum für ihn, er wusste nicht genau weshalb, einen Großteil seiner Anziehungskraft verloren. Etwas nachdenklich, ja fast durcheinander, wandte er sich von dem Schaufenster ab und schlenderte weiter durch die Straße, auf die kurze Zeit später vereinzelte Schneeflocken herabsegelten. Aus den anfänglich wenigen Flocken entwickelte sich schnell ein reges Schneetreiben, sodass der Boden innerhalb von Sekunden eine samtweiche Decke erhielt. Es dauerte jedoch nicht lange bis der nasse Asphalt den Schnee in eine matschige und dunkelgraue Masse verwandelte.
Ein paar Meter vor ihm sah er einen Weihnachtsmann stehen. In der linken Hand hielt dieser eine Glocke, mit der rechten verschenkte er Einkaufsgutscheine an vorbeigehende Menschen. Er trug ein wunderschönes Kostüm, dessen Bart nicht weißer und dessen Mantel nicht roter hätte sein können. Markus schreckte zurück. Aus dem Kostüm blickten ihn zwei leblose, kalte Augen an, die so garnicht zu der makellos anmutenden Verkleidung passen wollten. Er drehte sich um und zog schnellen Schrittes von dannen. Die unzähligen bunten Lichter und Neonreklamen, die ihn anfänglich noch so begeistert hatten, empfand er auf einmal trotz ihrer Schönheit als aufdringlich und betrachtete sie mit einem gewissen Unbehagen.
Als Markus sich zur Orientierung einmal um die eigene Achse drehte, bemerkte er das große Kaufhaus, in dem er früher schon seine Weihnachtsgeschenke gekauft hat. An der Fassade war eine gold-gelb schimmernde Lichterkette montiert, die sich einen nahezu aussichtslosen Kampf mit dem Schwarz der Nacht lieferte. Im Kaufhaus war das Gedränge und Stimmenwirrwar noch größer als draußen. Doch er genoss den natürlichen Geruch frischer Tannennadeln, der ihm im Kaufhaus entgegenströmte. Markus atmete tief ein und schloss dabei beide Augen. Mit einem mal war der ganze Trubel um ihn herum verschwunden. Sein Gesicht strahlte Entspannung und Freude aus, womit er sich von dem hektischen Treiben um sich herum deutlich abhob, wie ein einsam und felsenfest stehender Leuchtturm in der tobenden See. Mit einem Mal jedoch begannen sich seine Gesichtszüge zu verkrampfen. Ein beißender Parfümgeruch überlagerte den wohlriechenden Tannenduft und verschlang diesen schließlich ganz. Markus zuckte zusammen. Die Stimmen und lauten Geräusche hatten ihn wieder eingeholt. Der Leuchtturm, der eben noch standhaft den riesiegen Wellen trotzte, brach wie ein Turm Bauklötze in sich zusammen und verschwand in den dunklen Wassermassen. Er fühlte sich wie ein halb Verdursteter in einer schier unendlichen Sandwüste, aber es war das reale Verlangen nach etwas essbarem, das ihn aus seinen Gedanken riss. War doch das Pausenbrot in der Schule seine letzte Mahleit gewesen. Da erschien ihm der Kuchenteller höchst willkommen, den er neben der Kasse entdeckte. Auf einem Teller waren dort mehrere Stücke Marmorkuchen fein säuberlich aufgelegt und weihnachtlich dekoriert. Als Markus sich jedoch der Kasse näherte und zugreifen wollte, ermahnte ihn die noch sehr junge und seiner Meinung nach viel zu sehr geschminkte Kassiererin mehr bestimmt als freundlich, dass der Kuchen nur für zahlende Kunde da sei.
Er hatte genug. Seine Gedanken kreisten nur noch darum, möglichst schnell aus dem Kaufhaus herauszugelangen. Mit größter Mühe bahnte er sich seinen Weg durch den permanenten Fluss von Menschen, die in das Kaufhaus hineinströmten. Doch auch draußen fand er sich in einer scheinbar unendlich großen und homogen wirkenden Menschenmenge wieder, in der trotzdem jeder in eine andere Richtung drängte. Wie ein kleines Ruderboot in Mitten eines gewaltigen Sturmes wurde Markus ohne etwas dagegen unternehmen zu können von einer Richtung in die andere gedrängt, bis er sich schließlich in einer kleinen und beinahe menschenleeren Seitenstraße ohne Geschäfte wiederfand. Der Lärm und die Hektik, die er noch vor ein paar Augenblicken verspürte, waren aprupt verschwunden. Es herrschte eine angenehme Stille, welche das eben noch bedrohlich wirkende Treiben tausende Kilometer weit entfernt erscheinen ließ. Die reichlich vorhandenen Straßenlaternen durchfluteten die schmale Straße mit hellem weißem Licht, das die Gasse beinahe taghell erleuchtete. Auf einer Bank an einer Hauswand saß eine ältere Frau. Ihre Kleidung machte einen ärmlichen, jedoch in keinster weise schäbigen Eindruck. Sie trug eine rote Hose, einen grünen Mantel und dazu eine blaue Wollmütze. Es waren reine Farben, die auf Markus eine beruhigende Wirkung ausübten. Plötzlich drehte sich die Frau zu Markus um und blickte ihn an. Er erschrak ein wenig. Doch sie lächelte. Es war kein aufgesetztes, sondern ein ruhiges, friedliches und von Innen kommendes Lächeln. Markus lächelte zurück. Dann machte er sich auf den Weg nach Hause, denn er hatte gefunden, wonach er suchte.