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Das Gesicht des Windes
Das Gesicht des Windes
„Immer fängst du mehr Fische als ich“, klagte Dschana und zupfte lustlos an der Angelschnur. „Ich habe nur eine Zahnbrasse, du hast schon zwei Tintenfische.“
„Magst du Tintenfische?“, fragte Opa.
„Igitt, nein, das weißt du doch!“ Dschana schüttelte sich.
„Hast du einen so großen Hunger, dass du heute Abend mehr essen möchtest als deinen Fisch?“
„Etwas Brot und den Fisch, das ist reichlich.“
„Dann mache es so wie ich“, riet der Opa, „bedanke dich bei der Adria, den Fischen und bei Gott, dass sie dir heute dein Abendessen gegeben haben.
Für mich müssen heute diese kleinen Fische reichen. Wir rudern zurück, es ist Zeit, es wird ein Gewitter geben.“
Dschana blickte hinauf zum Himmel, dann über die spiegelglatte Adria und sagte verschmitzt und mit einem vorwurfsvollen Unterton in ihrer Stimme: „Das Wetter ist wunderbar, es weht kaum ein Lüftchen. Du hast nur keine Lust mehr oder willst nicht, dass ich genau so viele Fische fange wie du.“
Opa lächelte und fragte, ob er sie jemals belogen hätte. Natürlich hatte er das nicht, und dennoch würde sie kontrollieren, ob das mit dem Gewitter so sein würde.
„Opa“, Dschana sah zu ihm auf, während sie ihre Angelschnur einholte, „Opa, gibt es einen Gott?“
„Das ist eine Frage", sagte Opa und begann zu rudern, "das ist eine Frage, die sich jeder selbst beantworten muss. Ich glaube, so sicher wie es das Meer, die Berge und den Himmel gibt, so sicher gibt es Gott!“
Es war still. Nur leichtes Plätschern war zu hören, immer dann, wenn die Ruder ins Wasser tauchten. Dschana hatte ihre Angelschnur noch nicht ganz aus dem Meer gezogen und saß bewegungslos da. Ihr war anzusehen, dass sie angestrengt nachdachte.
Schließlich schob sich mit einem Knirschen der Bug des Holzbootes in die Kieselsteine am Strand. Ein schwacher Wind war aufgekommen, nicht stark genug die Blätter der Palmen zu bewegen, aber doch genug, ein wenig Abkühlung zu bringen.
„Pater Josip hat gesagt, dass unsere Kirche das Haus von Gott ist“, begann Dschana, „aber auch in Podaca und Brist gibt es eine Kirche? ... Ah, ich weiß“, gab sie sich selbst eine Antwort, „Gott macht das bestimmt wie Onkel Mate. Der wohnt im Sommer hier in seinem Haus am Meer und im Winter in der Stadt, in Zagreb.“
Der Opa war aufgestanden und hatte das Seil, das aufgerollt am Bug gelegen hatte, auf den Strand geworfen. Er drehte sich um, lächelte und setzte sich zurück auf die Ruderbank.
„Wo ist Gott jetzt?“, fragte Dschana, „Sollen wir oben in der Kirche nachsehen?
„Gott muss nicht reisen, wie wir Menschen. Gott ist überall! Sieh dich um! Jeden Tag, jede Stunde schenkt Gott der Erde neues Leben und sorgt sich darum. Er lässt Olivenbäume wachsen, gibt ihnen Wasser und das Licht der Sonne. Damit sind auch wir versorgt mit ihren Früchten und dem Öl. Das Meer ist voller Fische und darüber kreisen die Möwen. Selbst oben in den Bergen, da wo keine Bäume mehr wachsen, finden unsere Ziegen Gräser und Flechten. Alles das gibt es durch Gott, selbst die Steine hier am Strand.“
Der Wind hatte aufgefrischt und das Meer gekräuselt. Erste Wellen rollten auf den Strand. Dschana war so beschäftigt mit dem, was ihr Opa gesagt hatte, dass sie nicht bemerkte, wie sich dunkle Wolken am Himmel zusammenzogen.
„Ja, aber“, kam es zögernd von Dschana, „wie geht das denn, dass er überall ist und wie sieht er aus?“
„Es ist so, wie mit dem Wind“, erklärte Opa, „er weht ständig auf dem Meer, über dem Land, rund um die ganze Welt. Mal spüren wir ihn kaum, mal ganz intensiv. Hier trägt er die Samen der Pflanzen, dort bläst er die Segel eines Schiffes auf. Überall auf der Welt bewirkt er etwas und das überall gleichzeitig. Du kennst den Wind, ich weiß, aber sage mir, kleine Dschana, wie sieht der Wind aus, hat er ein Gesicht?“
Ein greller Blitz, gefolgt von einem gewaltigen Donnerschlag, ließ beide aufschrecken. Währen Opa das Boot weiter an Land zog und es vertäute, wickelte Dschana den Rest ihrer Angelschnur auf. Es ging schwer, so, als ob sich der Angelhaken in Algen verfangen hätte. Dann hatte sie es geschafft.
„Opa!“, rief Dschana gegen den pfeifenden Wind an, „schau dir das an!.“
Der Opa eilte herbei und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
„Da hast du aber einen richtig großen Tintenfisch herausgeholt“, nickte er anerkennend
„Tja“, antwortete Dschana, „ich habe endlich so viele gefangen wie du, und für dein Abendessen ist das nun auch reichlich“ ,und etwas leiser fügte sie hinzu, „vielen Dank Adria, vielen Dank Fisch, viele, vielen Dank Gott.“