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Das Gespinst
Der alte Mann sah sein Enkelkind traurig an.
„Das Ding kam damals aus der Oortschen Wolke, aus der schon eine Menge eisiger, schmutziger Brocken in unsere Sonnensystem gekommen waren. Als unsere Wissenschaftler ihn entdeckten, konnte noch niemand ahnen, wie sehr er unser Leben verändern würde.“
Leon klebte förmlich an den Lippen seines Großvaters. Egal, wie oft er die Geschichte auch schon gehört hatte.
Der alte Mathias sog mehrmals schmatzend an seiner Pfeife und stieß ein paar kleine Rauchwolken aus, die sich im Wintergarten langsam verteilten und einen nebligen Vorhang bildeten.
„Der Brocken kam schnell näher und raste mit über 40 Kilometern pro Sekunde unserem Sonnensystem entgegen. Sein Entdecker - Gilbert Blade - war der Ansicht, das der Komet unsere Erde treffen oder zumindest streifen könnte. Womit aber niemand gerechnet hatte war, das der ‚Bladerunner’ plötzlich abbremste, um schließlich in den Orbit des Jupiters einzuschwenken. Und dort als weiterer Eismond um den Gasriesen kreiste.“
Großvater Mathias hob seine buschigen Brauen und hustete einen rauchigen Kringel in die Luft. Leon wurde zappelig.
„Was passierte dann?“, fragte er, obwohl er natürlich genau wusste, was sich weiter ereignet hatte.
„Unsere Wissenschaftler schafften es, eine Expedition auf die Beine zu stellen. Doch noch bevor ihr Raumschiff ins All gestartet war, passierte es: Der neue Mond ‚Ladon’ beschoss einige andere Jupiter-Monde mit Laserstrahlen. Später fand man aber heraus, das die Strahlen keine Waffen gewesen waren, sondern der Kommunikation dienten.“
Leon hampelte nervös auf seinem Rattanstuhl hin und her.
„Waren das wirklich richtige Laserfeuer, Opa Mathias?“
„Ja, das waren sie wohl.“ Der alte Mann nickte so innig, das die Spitzen seines Schnauzbarts auf und ab wippten.
„Noch erstaunlicher war aber, das auch unsere Erde so eine Laser-Botschaft erhielt. Kurze Zeit später setzten sich dann die Jupitermonde Thebe, Himalia und der neue Ladon in Bewegung und verließen unser Sonnensystem. Sie beschleunigten ohne erkennbaren Antrieb auf eine unglaubliche Geschwindigkeit und verließen unser Sonnensystem und sogar die Milchstrasse. Nach einigen Wochen konnten sie nicht mehr geortet werden.“
Die Pfeife des alten Mannes war wieder erloschen und er entzündete sie erneut mit einem altmodischen Streichholz.
„Aber wie lautete die Laser-Botschaft, Großvater? Und wer hat sie geschickt?“
Mathias schüttelte den runzeligen Kopf. „Keiner hat je heraus gefunden, wer oder was die Botschaft geschickt hatte. Den Text der Botschaft allerdings konnten sie nach einigen Wochen schließlich entschlüsseln.“
Leons Augen funkelten den Großvater erwartungsfroh an.
Cheng Jin starrte ungläubig auf den Bildschirm. Er las den Text durch, schüttelte mit dem Kopf , und las ihn ein zweites und drittes mal durch. Auch die anderen Anwesenden – Geheimdienstler, militärische Berater, Techniker, Kryptologen und ein Taikonaut – waren von der komplett entschlüsselten Botschaft fasziniert. Die schockierende Botschaft einer fremden Zivilisation, da war sich Cheng ganz sicher. Kein Mensch vermochte ganze Monde zu bewegen...
Der chinesische Raumfahrt-Offizier las den Text ein viertes Mal durch.
„Bewohner der Erde! Lange Zeit waren wir eure Begleiter durch die Zeit, erlebten den Anfang eurer Zivilisation, eure Siege und Niederlagen. Fast hattet ihr den Status erreicht, mit uns in Kontakt treten zu dürfen. Aber dazu kommt es jetzt nicht mehr. Wir müssen euch verlassen, um einer Naturkatastrophe zu entgehen, die so gewaltig sein wird, das sie euer und auch unser Sonnensystem auslöschen wird. Wir werden helfen, unser Heimatsystems zu schützen. Damit es der Katastrophe entgeht. Euch können wir deswegen leider nicht behilflich sein. Ihr müsst das selber schaffen. Noch habt ihr etwas Zeit dazu, aber ihr müsst euch beeilen. In ungefähr 118 Jahren, am 18.06.2141 eurer Zeitrechnung gelangt aus der Oortschen Wolke etwas in euer Sonnensystem, das ungeheure Verwüstungen anrichten wird, sodass weiteres Leben nicht mehr möglich sein wird. Versucht euch zu retten. Ihr könnt es schaffen! Ein langes Leben und auf Wiedersehen...“
Admiral Leon Shaw befand sich auf dem Weg zu einem Krisentreffen. Wieder einmal.
Mittlererweile verfluchte er dieses verdammte Gerede. Worte, immer nur Worte. Endlose Diskussionen, ohne Taten. Endloses politisches Geschwafel!
Der Admiral musste an seinen verstorbenen Großvater denken. Der alte Mattias hatte immer befürchtet, das es so kommen würde. Dass der Menschheit die Einigkeit fehlte, sich zu einer lebensnotwendigen Entscheidung durchzuringen. Zu groß waren die Streitigkeiten untereinander, zu klein die Toleranz anderen Völkern gegenüber.
Die 118-Jahres-Frist war längst zusammen geschmolzen auf 27 kurze Jahre. Zu wenig Zeit, um die drohende Katastrophe abwenden zu können. Und immer noch diskutierten die einzelnen Staatsvertreter...
Silas Rhosenthi starrte auf den Monitor. Da war es! Er hatte das Ding gefunden, nach dem er seit fast 20 Jahren Ausschau hielt. Um Himmels Willen, was war es? Das war kein Komet und auch keine Supernova. Vielmehr schien es ein großer Vorhang aus Licht zu sein.
Einige Tage beobachtete Silas das Phänomen. Und es stellte sich heraus, das es sich unglaublich schnell bewegte. Viel zu schnell für irgendetwas, was er kannte.
Noch 285 Tage, bis zur Stunde X. Bis das Ultimatum der Außerirdischen ablief.
Auch andere Astronomen hatten den Lichtvorhang entdeckt und gemeldet. Und jetzt endlich schien auch Bewegung in die Politik zu kommen. Leider viel zu spät.
Leon saß draußen vor der Haustür und starrte in den Himmel. Der alte Mann beobachtete den Himmel und konnte das Gespinst mit bloßen Augen erkennen. Es sah tatsächlich aus, wie ein Geflecht aus Licht und Energie.
In wenigen Minuten würde es die Erde erreicht haben, ein wunderschönes, unbekanntes Ding, das sich fast mit Lichtgeschwindigkeit dem Sonnensystem näherte. Es schillerte wie ein farbenfroher Schweißbogen.
Leon seufzte, als er daran dachte, dass es der Menschheit bis zum Schluss nicht gelungen war, ein einheitliches Abwehrprojekt auf die Beine zu stellen. Ja, es hatte einige halbherzige, lokale Unternehmungen gegeben, aber die waren kläglich gescheitert. Und bis vor einigen Tagen hatte die Politik noch versucht, die Warnung der Außerirdischen in Frage zu stellen. Sie herunter zu spielen, wie sie es mit allen Problemen tat... Leon schüttelte traurig den Kopf.
Inzwischen war das Chaos auf der Erde ausgebrochen. Viele versuchten, Hab und Gut zu retten und die Katastrophe irgendwie zu überstehen. Hatten sich unterirdische Bunker gebaut oder auf einsamen Inseln verschanzt. Einige Gutbetuchte hatten sich gar auf eine Umlaufbahn um die Erde begeben. Alles vergebens, dachte der alte Mann bitter.
Er starrte wieder in den Himmel. Das Gespinst leuchtete jetzt heller als die Sonne und es zog sich über den gesamten Horizont. Er rieb seine Augen und sah das riesige, funkelnde Ding über sich kommen. Im nächsten Augenblick verbrannte der alte Mann wie ein Streichholz im Hochofen...
Er flog durch das Weltall, sah Sterne und Planeten zerplatzen, steuerte geradewegs durch sie hindurch. Er und die anderen Trilliarden Individuen an seiner Seite.
„Willkommen im Sammler!“, erklang eine körperlose Stimme, durch und durch rein. In Leon breitete sich ein angenehmes Gefühl von Wärme aus.
Er bemerkte seinen Großvater neben sich und nahm ihn in den Arm.
„Hallo Junge! Ich habe schon auf dich gewartet“, sagte der alte Mathias und lächelte.