Was ist neu

Das geteilte Erbe

Mitglied
Beitritt
28.08.2025
Beiträge
1

Das geteilte Erbe

Der Himmel stand in Flammen. Ein unheilvolles Rot überzog die Nacht, als ob die Welt selbst in Blut getränkt worden wäre. Donnerndes Krachen zerriss die Stille, Mauern barsten, und Schreie hallten durch die Straßen. Menschen rannten, stolperten, fielen – ein Strom aus Angst und Verzweiflung, der versuchte, der brennenden Stadt zu entkommen. Kinder schrien nach ihren Müttern, Männer nach ihren Familien, doch der Sturm aus Feuer und Eisen verschlang jedes Rufen, bis nur noch Chaos blieb.

Der Marktplatz, sonst voller Leben, glich einem Schlachtfeld. Händlerstände brannten, ihre Holzbalken knisterten und stürzten ein, verkohlte Stoffe flatterten im Wind wie schwarze Fahnen. Die umliegenden Häuser lagen in Trümmern, Stein auf Stein, Balken auf Balken. Zwischen den Flammen marschierten Soldaten in dunklen Uniformen, bis an die Zähne bewaffnet. Ihre Gesichter vermummt, in ihren Augen keine Emotion – doch ihre Haltung ließ keinen Zweifel: Sie suchten. Unaufhaltsam. Gnadenlos.

Die Erde bebte, Fenster zerbarsten, und der Geruch von Rauch, Asche und Blut legte sich wie ein bleierner Schleier über die Stadt. Glutregen stob in den Nachthimmel und tränkte ihn blutrot.


Am Rande der Siedlung brannte noch Licht in einem schmalen Haus.
Ein Mann hastete durch den engen Gang, Schweiß auf der Stirn, Verzweiflung im Blick. In seinen Armen lag ein Kind, kaum mehr als ein Hauch von Leben, eingewickelt in einfache Tücher. Hinter ihm drängte sich eine Frau durch den Korridor, ebenfalls ein Bündel an die Brust gepresst. Auch sie trug ein Kind – das zweite. Ihre Augen waren weit vor Furcht, Tränen glänzten in ihnen, während ihre Schritte durch das Grollen hinter ihnen gehetzt wurden.

„Schneller!“, stieß sie hervor, die Stimme brüchig. „Sie sind uns dicht auf den Fersen!“

Von draußen drang das Stampfen schwerer Stiefel herein, im Gleichschritt, kalt und gleichmäßig. Befehle hallten durch die Nacht, scharf und gnadenlos. Türen wurden aufgestoßen, das Klirren von Stahl mischte sich darunter.

„Noch ein Stück …“, murmelte der Mann, mehr zu sich selbst als zu ihr.

Sie erreichten eine Weggabelung. Der Mann hielt inne, keuchte, sah sie eindringlich an. „Wir dürfen nicht zusammenbleiben“, brachte er hervor, seine Stimme bebte. „Wenn sie beide finden … war alles umsonst.“

Die Frau schüttelte heftig den Kopf. „Nein! Das kannst du nicht verlangen!“
Ihre Finger krallten sich fester um das Kind, als könne sie es so gegen das Schicksal schützen.

Da bebte die Erde. Mit einem Krachen brach die Decke über ihnen ein, Funken stoben, Trümmer donnerten zu Boden. Rauch verschluckte den Gang. Das eine Kind begann schrill zu schreien, das andere stieß ein schwaches Wimmern aus.

„Wir haben keine Wahl!“ Die Stimme des Mannes war brüchig, doch in ihr lag eiserne Entschlossenheit. „Wenn sie zusammen sind, werden sie sie finden. Getrennt haben sie eine Chance.“


Die Frau senkte den Blick. Kleine Finger hatten sich aus den Tüchern geschoben. Beide Kinder – als wären sie eins – griffen gleichzeitig nach einem goldenen Anhänger, der zwischen den Stoffen hervorblitzte.

Ein Drache, kunstvoll geformt, Sinnbild uralter Macht, dessen Klauen einen dunkelroten Stein umschlossen.
Der Stein glühte im Feuerschein, schwach zuerst, dann stärker, als würde er den Herzschlag der Zwillinge widerspiegeln.

„Der Anhänger …“, hauchte die Frau. „Er leuchtet.“

Der Mann sah ihn ebenfalls. Seine Augen weiteten sich, und für einen kurzen Moment schien Hoffnung in ihnen aufzuleuchten. „Er wird sie führen … vielleicht …“

Da fuhr sein Kopf herum. Ein gellender Schrei hallte durch die Nacht – unmenschlich, grollend, als heulte ein Untier, das nie hätte existieren dürfen. Die Frau sog scharf die Luft ein. „Sie sind hier …“


Mit ohrenbetäubendem Donner krachte die Decke zwischen ihnen ein. Balken stürzten herab, Steine barsten, Staub füllte die Luft. Der Mann und die Frau wurden auseinandergerissen.

„Nein!“, schrie sie, panisch zurückweichend, die Augen auf ihn gerichtet, das Kind fest an sich gedrückt.

„Lauf!“, rief er, hustend, verschluckt vom Staub. „Lauf, solange du kannst!“

In diesem Moment geschah es. Der Anhänger, den beide Kinder umklammert hielten, begann gleißend zu leuchten. Ein Riss fuhr durch das Metall. Mit einem schrillen, schmerzhaften Klang spaltete er sich. Der Drache blieb im Griff des Kindes beim Mann, während der Stein sich löste und in den Händen des Kindes bei der Frau glühte.

Zwei Hälften eines Ganzen.
Zwei Kinder, verbunden – und doch getrennt.


Die Frau stolperte zurück, presste das Kind und den Stein an sich und rannte hinaus in die Nacht. Kalte Luft schlug ihr entgegen, doch der Gestank von Blut und Rauch wich nicht von ihr. Hinter ihr hallten Krachen und Schreie, das Donnern der einstürzenden Mauern, und das letzte Rufen des Mannes. Doch sie wagte nicht, zurückzusehen.

„Verzeih mir …“, flüsterte sie, Tränen brannten in ihren Augen. „Verzeih mir, Naila, dass ich dich zurücklassen musste … aber es ging nicht anders.“

Ihre Beine gehorchten kaum, doch sie lief. Durch Straßen voller Trümmer, vorbei an Leichen im Feuerschein, unter dem Krachen einstürzender Türme. Rauch nahm ihr die Sicht, Funken peitschten ihr ins Gesicht, und immer wieder hörte sie die Verfolger hinter sich.

Ein Schrei ließ ihr Blut gefrieren – tief, unheilvoll, wie das Brüllen eines Ungeheuers. Schemen huschten durch den Rauch, zu schnell, zu lautlos, um menschlich zu sein.

Das Kind klammerte sich an den Stein. Er glühte, schwach zuerst, dann heller, als wolle er ihr den Weg weisen. Und sie folgte, stolpernd, taumelnd, doch unbeirrbar.

Endlich erreichte sie den Rand der Stadt. Vor ihr dehnten sich schwarze Felder aus, Asche bedeckte den Boden, der Himmel darüber loderte blutrot. Doch noch war sie nicht frei. Schatten bewegten sich in der Ferne, als wollten sie ihr den Weg abschneiden.

„Nur noch ein Stück … nur noch ein Stück …“, murmelte sie heiser, wie ein Gebet. Hinter ihr hallten Befehle, Schritte, grollendes Rufen.

„Nein!“, schrie sie, und in diesem Schrei lag alles: Angst, Wut, Hoffnung.

Sie stürzte in die Schwärze des Waldes, die Arme wie ein Schild um das Kind gelegt. Der Stein glühte nun heller, als wolle er sie führen – weit fort von der brennenden Stadt, die sie zurücklassen musste.


Im Haus jedoch lag der Mann im Staub, das zweite Kind fest an sich gedrückt. Über ihm erhob sich ein Schatten, gewaltig, drohend, kaum menschlich. Das Baby wimmerte leise, die winzige Hand umklammerte den Anhänger, der nun kalt und schwer geworden war.

Ein Laut hallte durch die Ruinen, tief, grollend, weder Tier noch Mensch. Der Mann schloss die Augen. Sein letzter Gedanke war mehr ein Wunsch: Möget ihr frei sein, weit weg von diesem verfluchten Land.

Dann brach das Chaos über ihn herein.


Draußen rannte die Frau weiter, durch Nacht und Asche, durch Schmerz und Tränen.
Getrieben von der einzigen Hoffnung, dass der glühende Stein in den Händen ihres Kindes eines Tages mehr war als nur ein letzter Rest der Vergangenheit....

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom