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Das Gewicht der Schönheit

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21.12.2007
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Das Gewicht der Schönheit

Die Hitze steht zwischen den Häusern. Chava verschwindet wieder in der Waschküche, den vollen Korb auf der Hüfte. Die Tür hängt schief in den Angeln und sie quietscht, als sie über den Boden schleift. Die letzten Zentimeter wird sie mit Gewalt zugezogen. Es kracht hörbar.

Ich husche die Treppe hinunter zum Hof. Die Waschküche hat zwei Fenster, und eins davon liegt verborgen hinter einem hohen Malvenbusch. Wenn man sich dahinter stellt, ist man vom Haus aus nicht zu sehen.

In dem kleinen Verschlag dampft es. Kondenswasser läuft an der Fensterscheibe hinunter. Chava steht mit dem Rücken zu mir am Becken; ihre weißen Ellbogen bewegen sich in den Schwaden auf und ab. Die Glut des Ofens und des Waschwassers greift durch die Wand nach mir, schwüler als die Nachmittagshitze. Eine Hummel summt durch den Hibiskus. Es riecht nach Staub, Seife und Hinterhof.

Chava ist ein Flittchen, sagt man. Ich weiß es besser. Die Herren, die das Zimmer unter dem Dach betreten, reden nur mit ihr. Sie sitzt auf dem Canapé, die Herren am Tisch. Es gibt Tee aus dem silbernen Samowar und dazu gelbe Zigarretten. Die Herren unterhalten sich oft eindringlich, aber immer respektvoll mit ihr, niemand fasst sie jemals an. Niemand außer Michael.

Von Chava geht Verwegenheit aus. Sie trägt Hosen und fährt jeden Morgen mit dem Motorrad in die Stadt. Ihr Blick und ihr Gang sind zielstrebig. Sie ist schön, auch wenn sie nie lacht. Ihr Haar fällt immer offen über ihre Schultern, nur jetzt, während der Arbeit, hat sie es unordentlich am Hinterkopf zusammengesteckt. Eine dünne Strähne löst sich und bleibt in der feuchten Kuhle ihres Nackens kleben. Zart ist dieser Hals mit der wirren Frisur darüber; ich muss an Tulpen denken, die im Wind nicken. Die geschwungene Linie verrät alles über Chava und ihre geheime Verletzlichkeit. Der Flecken weißer Haut, so schutzlos meinen Blicken preisgegeben, pflanzt Feuer in meine Brust. Dort dehnt es sich aus, süß und sehnsüchtig, ein sachter Schmerz.

Manchmal nimmt Michael Chavas Haar und wickelt es sich um die Hand, als packe er ein Pferd beim Schweif. Dann entblößt er den weißen Nacken und drückt seinen bärtigen Mund darauf. Nichts empört mich mehr als die gierige, gedankenlose Entweihung dieser verborgenen Anmut.

Ich öffne die Tür und stehe im feuchten Dampf. Im strengen Geruch der Lauge schwebt eine Ahnung süßen Schweißes und der verheißungsvolle, puderige Duft ihrer Haut. Chava sieht mich fragend an und wischt sich mit dem Unterarm über die feuchte Stirn. Ich atme tief ein und weiß doch schon, dass ich den Mut nicht habe; ich werde ihr niemals sagen können, dass ich sie berühren würde wie kein anderer es kann.

Sie wartet darauf, dass ich zu sprechen beginne. Als sie die Arme unter der Brust verschränkt, drehe ich mich um und gehe. Zu schwer wiegt das Gewicht ihrer Schönheit.

 

Hallo Richard!

Schöne Geschichte. Die Atmosphäre die du erzeugt hast gefällt mir gut, auch die Beschreibung von Chava (sehr seltsamer Name übrigens ;)) ist dir gelungen, sehr individuell und mal eben nicht so schwarz-weiß. Auch wenn du dich auf Äußerlichkeiten konzentriert hast, Charakter schwingt da immer ein bisschen mit, so indirekt. Was mir ein bisschen gefehlt hat ist der Bezug des Protagonisten zu ihr, unter ihm konnte ich mir ziemlich wenig vorstellen. Offensichtlich spielt die Geschichte nicht heute, aber wann genau, das könntest du auch noch mehr ausarbeiten. Oh und, die Leute reden ja über sie, meinst du nicht, dass ein bisschen wörtliche Rede der Geschichte gut tun könnte? Charaktere kann man so auch besser hervorheben.
Alles in allem hats mir aber gut gefallen (das reimt sich :D).

Liebe Grüße,
apfelstrudel

 

Hallo Apfelstrudel, da schreibe ich gerade einen Kommentar zu einer deiner Geschichten und sehe, dass du exakt im gleichen Moment einen zu meiner verfasst hast - Dankeschön!

Was den Protagonisten angeht, habe ich ihm (oder ihr?) absichtlich keine eigene Geschichte zugewiesen. Wahrscheinlich wohnt er im gleichen Haus, das ist auch schon alles, was es über ihn zu sagen gibt. Zählen sollten für diese Geschichte nur seine Gefühle, was die Frau in der Waschküche angeht - das war zumindest mein Plan. Ob er aufgegangen ist, entscheidest schließlich du und mögliche andere Leser :)

Chava ist eine hebräische Form für "Eva". Das "wann" und "wo" der Geschichte wollte ich ebenso offen lassen wie das Leben des Protagonisten. Deshalb weiß ich auch nicht, ob ich "Sie trägt Hosen und fährt jeden Morgen mit dem Motorrad in die Stadt" stehen lassen werde, lösche oder weiter verbräme.

Wörtliche Rede...oh je, davor fürchte ich mich ein bisschen, das gebe ich zu. In manche Geschichten platzt die wörtliche Rede viel zun laut und rücksichtslos in ein eher leises Geschehen und vermasselt alles. Ich bin da, glaube ich, auch nicht geschickt genug. Vielleicht beim nächsten Mal ;)

Dir auf jeden Fall vielen Dank fürs Lesen und deine Kritik!!

Richard

 

Deshalb weiß ich auch nicht, ob ich "Sie trägt Hosen und fährt jeden Morgen mit dem Motorrad in die Stadt" stehen lassen werde, lösche oder weiter verbräme.
Ja, genau der Satz stiftet nämlich ein bisschen Verwirrung bei mir und ich fange an mich zu fragen, wann die Geschichte spielt. Wenn du es offen lassen willst würde ich die Stelle rausnehmen oder so ändern, dass man sich keine großen Gedanken dabei macht. ;)

 

Wow. Gefällt mir sehr! Da lässt sich ganz gut eine kommende Liebesgeschichte darauf reimen. Was mich einwenig stört ist sein Gedanke, dass er sie "wie kein anderer berühren würde".
Gibt ein falsches Bild, auch wenn mehr oder weniger klar ist, dass er es gut meint.

Ansonsten: Top! Ich sehe die sandigen Bauten mit den stoffigen Vorhängen vor den Fenstern. =)

 

Hallo RichardB,
auch dieser Text von dir gefaellt mir gut. Aber es wuerde mich auch interessieren, wann das spielen soll, Russland der dreissiger Jahre? Oder Emigrantenrussen im Berlin der dreissiger Jahre?
Es liest sich auch mehr wie der Auftakt zu etwas groesserem, als eine eigenstaendige Geschichte. Gerade, wenn man denkt, jetzt geht es los, ist es auch schon wieder vorbei. Schade.

viele gruesse, sammamish

 

Hallo Richard

und noch ein herzliches Willkommen hier auf kg.de :),

deine Geschichte gefiel mir gut - ich hatte auch eine ganz konkrete Vorstellung von dem, was den Protagonisten betrifft.

Ich erzähle es einfach einmal frei heraus:

Der Ich-Erzähler ist ein Heranwachsender, der unsterblich in Chava verliebt ist. Natürlich ist sie ein Flittchen, aber er will es nicht wahrhaben (es täte ihm so weh, würde er es sich eingestehen) - denn es wird aus dem Text nicht klar, dass er tatsächlich weiß, dass die Herren, die ihr Zimmer betreten, nur reden. Es wird nur beschrieben, wie er sie heimlich beim Wäschewaschen beobachtet. Kurz dachte ich, sie wäre ein Ganovenweib, in derer Kammer verschiedene Absprachen stattfinden - aber der Protagonist war mir doch zu romantisch, als dass diese Variante greifen kann.

Überaus erfreulich ist auch die Fehlerlosigkeit in der Rechtschreibung und Zeichensetzung deiner Geschichte, die einem sofort voll in das Geschehen eintauchen läßt, ohne lästige Stolpersteine überwinden zu müssen.

Witzigerweise war bis zur Beschreibung von ihrer Gestalt für mich klar, dass Chava ein typisches "Waschweib" mit deftigen Rundungen sein muss - vielleicht hat mich einfach auch der Titel wortwörtlich dazu verführt ;).

Das ist auch mein einziger Kritikpunkt an deiner Geschichte in der Geschichte: Ich nehme dem Protagonisten nicht ab, dass er aufgrund ihrer Schönheit Muffensausen hat.
Er würde genauso vor einer weniger aufregenden Frau passen - weil er noch zu wenig Courage hat. Aber da diese KG in der ersten Person geschrieben ist, muss man auch das stehen lassen - von daher paßt alles.

Ich freu mich auf mehr von dir.

Liebe Grüße
bernadette

 

Danke Euch fürs Lesen und die Kritik - ich freue mich sehr, dass Euch die Geschichte gefallen hat!

@Schattenwelpe: Es ist mir gar nicht aufgefallen, dass das wie eine Gewaltandrohung klingen kann. Ich hoffe, dass das Gefühl dann tatsächlich beim weiteren Lesen schwindet!

@sammamish: "Gerade, wenn man denkt, jetzt geht es los, ist es auch schon wieder vorbei." - es tut mir leid, dich zu enttäuschen, aber um Enttäuschung über die eigene Feigheit geht's ja auch irgendwie. Beim Schreiben der Geschichte habe ich an eine kleine, unbedeutende Stadt in Nahost gedacht.

@Bernadette: deine "ganz konkrete Vorstellung" ist zuminest teilweise ganz nah dran an dem, was mir so vorschwebte. Was deinen Kritikpunkt angeht, muss ich dir Recht geben - und auch wieder nicht. Ich glaube, dass er an mehr als ihrer Schönheit scheitert. Vielleicht ist es auch ihr Selbstbewusstsein und das, was er hinter den Dachzimmergesprächen erahnt, die ich mir allerdings eher politisch als kriminell motiviert vorgestellt habe. Aber eigentlich wollte ich das gar nicht festlegen - ich mag es, wenn ich Geschichten lese, die Raum für Interpretation lassen und habe versucht, so einen Text zu verfassen. Es soll da auch kein richtig oder falsch geben, von daher kann Chava auch genauso gut Orgien feiern. Ich würde es ihr gönnen :) Nochmal herzlichen Dank für die freundliche Kritik und die Auseinandersetzung mit meinem Geschreibsel!

Viele Grüße an Euch liebe Leser

Richard

 

Hallo RichardB!

Zu keiner Zeit habe ich daran gedacht, dass Chava tatsächlich ein Flittchen wäre, denn der Icherzähler scheint es genau zu wissen, sonst hätte er das mit Michael nicht erwähnt.
Das ist also in Ordnung. Weniger in Ordnung finde ich die ersten 2 oder 3 Absätze, weil da nur eine Aufzählung des Beobachteten stattfindet, es ist, als ob der Erzähler sich beim Beobachten Notizen gemacht hätte, und diese nun fast unverändert an uns Leser weitergibt. Will sagen, da war kein Schriftsteller am Werk, sondern ein Buchhalter.
Und wenn schon nicht Schriftsteller, dann wäre zumindest ein Voyeur angebracht gewesen. Das ist zwar der Icherzähler zweifellos, aber davon spürt man nichts, d.h. du hast das Heimliche seines Tun nicht rübergebracht.
Das ist Schade, denn wäre das deutlich geworden, wäre später auch seine Taten- und Sprachlosigkeit vor Chava verständlich gewesen.
Sonst ist das eine nette, kleine und wahrscheinlich wahre, zumindest aber glaubhafte Geschichte, und das ist nicht wenig.

 

Hallo, Sirius, danke fürs Lesen und deinen Kommentar!

"Weniger in Ordnung finde ich die ersten 2 oder 3 Absätze, weil da nur eine Aufzählung des Beobachteten stattfindet, es ist, als ob der Erzähler sich beim Beobachten Notizen gemacht hätte, und diese nun fast unverändert an uns Leser weitergibt." Stimmt, das war auch meine Absicht. Ich wollte die Sinneseindrücke des Protagonisten so objektiv, wertfrei und schnörkellos weitergeben, wie ich konnte. Das ist bestimmt keine Kunst, aber ich wäre schon mit halbwegs ordentlichem Handwerk zufrieden :)

Dass der Protagonist hinter dem Hibiskus in die Waschküche "spannt", erschließt sich mMn unzweideutig. Müsste ich das in deutlichere Worte kleiden? Muss er sich für sein Tun schämen? Muss er Chava gegenüber Scham empfinden - zumal er die Waschküche ganz "offiziell" betritt, bevor er kapituliert? Ich bin da nicht sicher. Aber ich denke mal drüber nach.

Viele Grüße

Richard

 

Du kannst nicht beides haben, Richard. Eben weil du in den ersten Absätzen „die Sinneseindrücke des Protagonisten so objektiv, wertfrei und schnörkellos“ weitergegeben hast wie du konntest, entsteht da keine Atmosphäre!

 

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