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Das Grammophon
Gewaltig und würdevoll stand das Haus, in dem wir damals wohnten stillschweigend in der Prinzregentenstraße. Es grenzte nur an ein paar Häuserblöcke und an ein Drogeriegeschäft, dessen frühere Besitzer wir kannten. Angesichts des eindrucksvollen Baus, gebaut aus ebenen Stein, und der verspielten Ornamente, die die krönende Kuppel des Hauses farcierten, schien es auf jeden, der es aus der Nähe betrachtete, ein wahres Kunstwerk zu sein. Öfters spähte ich heimlich durch den offenen Fensterspalt auf die Straße und sah die Passagiere der Straßenbahn, die vor unserem Haus verlief, die Münder beim bloßem Anblick staunend öffnen und die Verrenkungen ihrer Hälse verrieten mir ihr Entsetzen darüber, wie ein solch grandioses Haus so latent stumm sein kann. Selbst aus den verrauchten Straßenecken der Stadt, ragten die prächtigen Gemäuer in den Himmel heraus, boten uns Schutz und legten einen Schleier auf die Wirklichkeit, wenn sie uns zu bedrohen schien. Im Sonnenlicht erstrahlte, das auf der Kuppel eingravierte Schild, mit dem Aufdruck „Anno 1889“ prächtig und glanzvoll und war auch das erste, was meiner Mutter damals zuerst aufgefallen war, als sie sich mit meinem Vater und dem ersten Kind im Bauch auf den Weg machte, ein Heim für ihre Familie zu suchen. Meine Mutter vergötterte die Baukunst des Jugendstils. Ihr machte es nichts aus, ihre geliebte Wohnung zu verlassen und in den Keller zu ziehen. Als Kind konnte ich nicht sagen, ob mir an dem Haus etwas monumental besonders gut gefiel. Ich war einfach nur froh, dass es schweigen konnte, wie ein Grab. Es half den Leuten, mit denen ich Mitleid hatte, besser mit der Situation klar zu kommen, und uns, die von einem Tag auf den anderen aufgehört hatten zu existieren, sich in Luft aufzulösen.
Die Innengemäuer unseres Hauses waren kahl und starr gebaut, ließen jedoch trotzdem vereinzelte warme Töne hindurch dringen und ließen das kahle Treppenhaus aus dunklem Holz, heller und erträglicher erscheinen.
Wenn ich von ,wir’ spreche, dann meine ich nicht nur unsere Familie, sondern ebenfalls unsere Nachbarn, die auf den drei Etagen verteilt, wohnten. Meine Eltern, meine beiden älteren Schwestern und ich wohnten ganz unten im Erdgeschoss. Wir besaßen die geräumigste Wohnung, die das Haus zu bieten hatte und beherbergten dort unsere Geborgenheit, indem meine Mutter es liebevoll mit Blümchentapeten und altmodischen Kommoden aus dunklem Holz ausstattete. Ein Stockwerk über uns, wohnten die Rosenbergs. Ihnen gehörte früher der Drogerieladen neben dem Haus. Unsere Eltern kannten sich schon seit Jahren, verbrachten humorvolle Bridgeabende miteinander und wir Kinder unterschieden nicht zwischen den zwei Wohnungen, welche nur ein Treppengeschoss trennte. Meine älteste Schwester, Edith, ging mit Ikzaar, dem Sohn der Rosenbergs oft in den Hinterhof aus. Beide schienen sich sehr zu mögen. Ich beobachtete sie oft, wie sie dort im trügerischen Mondlicht standen. Ob sie ineinander verliebt waren, weiß ich nicht, denn sie blickten einander immer mit zutiefst ernsten Gesichtern, fast wie aus Stein, an. Sarah, das zweite Kind der Rosenbergs war ungefähr in meinem Alter. Mit ihr verbrachte ich zahlreiche Nachmittage auf dem Hinterhof und versuchte sie nicht zu vermissen, als sie eines Tages alle plötzlich weg waren, nachdem er eingezogen war. Doch es gelang mir nicht. Das sah man mir an. Dem Haus nicht.
In der Wohnung im obersten Stockwerk wohnte ein junges Ehepaar, die meinten die Gefahr früh zu erkennen und zogen schließlich aus, nachdem sie Frau Rosenberg erzählt hatten, dass sie dem Staat und unserem Haus nicht trauten, weil beide sie mit durchdringenden und kalten Blicken irgendwann ersticken würden. Wo sie hingegangen sind, haben sie niemandem gesagt. Auch ihr Auszug kam ganz überraschend in einer Mainacht. Den Bewohnern des Hauses fiel das plötzliche Untertauchen des jungen Ehepaares erst nach vier Tagen auf, als meine Mutter, um ein Glas Zucker bittend, vor der leeren Wohnung der jungen Leute stand Die unmittelbare Nachbarschaft in den Häuserblöcken nahm ebenfalls von nichts Notiz, denn das Haus verriet weiterhin nichts, bis hin zu jenem Tag im Sommer, als Herr Stahdler in die leere Wohnung im Obergeschoss einzog und dem Haus die Stille mit seinem krächzenden Grammophon nahm.
Es war ein schwüler Tag und die Luft roch trocken nach den Abgasen der Automobile, die vor unserem Haus auf den Straßen düsten und die Hitze noch unerträglicher machten. Mein Vater stand an dem leicht geöffneten Fensterspalt, aus welchem man die gesamte Prinzregentenstraße überblicken konnte, und blickte verstohlen hinaus. Er wischte sich mit einem nassen Lappen die Schweißperlen von der Stirn, als gerade in dem Moment ein dunkler, schwerbeladener Laster vorfuhr, aus dem drei uniformierte Männer in glänzenden schwarzen Stiefeln ausstiegen. Mein Vater wandte sich von dem Fensterspalt ab. Seine trägen Augen öffneten sich von der einen Minute in die andere und sein leerer Blick ließ uns in unseren Bewegungen erstarren und forderte uns auf zu schweigen. Die Luft schmeckte unglaublich bedrohlich, dass ich kaum glaubte, sie inhalieren zu können. Keiner von uns rührte sich, als einer der Männer, ein schweres schwarzes Gerät in den Händen tragend, aus welchem ein goldenes Rohr heraus ragte, die Stufen im Treppenhaus mit lauten Schritten hinauf trug. Ein Grammophon. Als alle Dinge von dem Laster geladen waren, fuhr das Fahrzeug ab. Die Tür im Obergeschoss schloss sich. Zurück blieb nur unsere Angst. Von diesem Tag an war Herr Stahdler unser neuer Nachbar.
Wir bekamen im Laufe der Zeit Herr Stahdler fast nie zu Gesicht und vermieden seine Bekanntschaft aufs Äußerste, bis hin zu dem Abend, an dem er sich uns schließlich vorstellte:
Als ich erwachte, war es noch dunkel, und als ich das Licht anknipste und auf den Wecker sah, stellte ich fest, dass es drei Uhr morgens war. Ich fragte mich, was mich geweckt hatte. Dann hörte ich es: Irgendwo im Haus spielte Musik, leise zwar, aber sie musste dennoch bis in meinen Schlaf vorgedrungen sein. Es war eine dramatische, aufwühlende, unter die Haut gehende Musik, selbst aus dieser Entfernung. In einer dieser angstgeschwängerten Nächte wirkte sie deplaziert und quälend. Zerreißend und schrill schnitt sie durch die Wände und betäubte meine Ohren. Nicht einmal die dumpfen Gemäuer des Hauses konnten etwas gegen den bebenden Gesang einer ungewöhnlich tiefen Frauenstimme tun, die ein melodisches Lied sang: Lili Marleen.
Inmitten dieser nächtlichen Stille, vor dem Hintergrund der Musik, ging urplötzlich die Eingangstür auf und mehrere Personen stürmten ins Treppenhaus, stemmten ihre schweren Schritte gegen die Stufen und machten vor der Eingangstür in der Etage über uns Halt. Die Tür wurde schmetternd aufgebrochen. Schränke, Schubladen und Betten wurden umgestoßen und prallten scheppernd auf den Boden. Inzwischen saßen wir alle aufrecht in unseren Betten und wagten nicht einmal mit den Augen zu zwinkern. Eine tiefe Männerstimme brüllte etwas, und wie auf Kommando verließen einige Personen mit dumpfen Schritten das Haus, während die anderen den wüsten Lärm in der Wohnung aufrecht hielten. Durch den Fensterspalt sah ich die nackten Füße der Menschen, die nun draußen auf dem kalten Asphalt hin und her liefen. Es folgten eins, zwei, drei Schüsse und ihre Bewegungen verstummten. Drei Leichen lagen vor unserem Haus. Die Stille der Nacht wurde durch das laute Weinen eines Kindes gebrochen. Schluchzend zerrte man es an unserem Obdach entlang, die Treppen runter. Es war Sarah, die weinte. Die Rosenbergs wurden entdeckt, entlarvt, wie Maden in einem Loch, und waren kurz davor ausgerottet zu werden. Jemand fiel auf den Stufen hin und gab einen dumpfen Laut von sich. Meine Schwester fing an zu weinen. Allmählich verstummten alle Schritte im Treppenhaus. Horchend und leise wimmernd, versuchten wir unsere Ahnungen und Ängste, man könnte uns auch finden, zu unterdrücken. Meine Finger gruben sich immer fester in die dünne Decke, mit der ich meine Füße bedeckte, während ich hören konnte, wie jemand im Obergeschoss die Tür leise aufmachte und hinter sich wieder zuschlug. Es konnte nur Herr Stahdler sein, dessen schwere und laute Schritte, die auf die schwarzen Lederstiefel, die er trug, zurück zu führen waren, das Treppenhaus noch einmal beben ließen. Ihr Geräusch war von den letzteren, die wir in dieser Nacht hörten nicht zu unterscheiden. Nachdem er unten angekommen war, murmelte er etwas zu den übrigen Leuten, die draußen standen, machte auf dem Absatz kehrt und klopfte an unsere Tür. In der Dunkelheit des Raumes, dessen einzige Lichtquelle meine Nachttischlampe war, hörte ich meinen Vater laut röcheln und meine Mutter ahnungslos beten. Die Tür wurde aufgemacht, Herr Stahdler trat ein, klopfte mit seinen Stiefeln, eine hohle Stelle suchend, ein paar Mal auf dem Fußboden herum. In dem Moment erhob die Frau, die immer noch aus dem Grammophon von oben zu hören war, ihre raue Stimme und während sie einen hellen Ton aufrecht klingen ließ, öffnete sich über uns die Falltür und verriet unser Versteck. Im gleichen Moment brach jemand den Fensterspalt, unsere einzige Verbindung zur Außenwelt, auf und ich starrte in den Lichtstrahl, der aus dem Zimmer über uns, auf mein Bett fiel und mich blendete. Herr Stahdler sah mich unter seiner Mütze streng an. Seine schwarze Kleidung stand in Kontrast mit dem einfallendem Licht und ließ ihn übermenschlich und heroisch wirken. Die Tränen, die mir aus den Augen liefen, spürte ich nicht mehr. Nichts hatte mich je so geängstigt, wie der silberne Glanz des Totenkopfes, der auf der schwarzen Mütze unseres Nachbarn, wie ein Prachtstück sein erhobenes Haupt schmückte. In dem Augenblick war alles still. Für einen Bruchteil der Sekunde hatte die Nacht ihre Ruhe wieder und konnte weiter schlummern, während ich bewegungslos, versteinert und stumm im Bett lag und das Haus verfluchte. Nur noch leise spielte das Grammophon im Obergeschoss die letzten Töne des Liedes: Lili Marleen, als Herr Stahdler gereizt sagte: „Da sind sie doch, die Drecksjuden!“