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Das große Fußballfest
Benno hatte sich seit Wochen, ach was, seit Monaten auf diesen Tag gefreut. Nein eigentlich hatte er sich die letzten 364 Tage darauf gefreut. Jeden Morgen an dem er seine alkoholgeröteten Augen aufschlug, war sein erster Gedanke, dass er diesem wunderschönen Ereignis wieder eine Nacht näher gekommen war. Und dieser Gedanke machte seinen täglichen Arbeitstrott immer ein bisschen erträglicher. Es würde phantastisch werden, wie jedes Jahr.
Ja, Benno war sogar der Meinung, sein Geburtstag und Weihnachten zusammengenommen könnten im direkten Vergleich mit dem jährlichen Sommerfest der Sportfreunde Otterbach einpacken, so begeistert war er von dieser Veranstaltung die „sein“ Verein seit Jahrzehnten ausrichtete.
Warum sich Benno darauf so freute, ist relativ leicht nachvollziehbar: Zum einen hasste seine Angebetete Gundula alles was mit den Sportfreunden Otterbach auch nur entfernt zu tun hatte. Sie konnte es partout nicht nachvollziehen, was so toll daran war, mit einem Bier in der Hand an einem Fussballfeld zu stehen und keuchenden Freizeitkickern jenseits der vierzig beim Gebolze zuzuschauen, wobei man hin und wieder obszöne Beleidigungen in Richtung der Gästemannschaft grölt. Und bei dem Sommerfest würde es nur ums Saufen und Grölen gehen. Dieser Umstand war Benno aber nur recht. So hätte er seine Ruhe vor dem alten Dragoner, der ihm immer nur den Spaß verderben wollte.
Zweitens würde er Leute treffen, die ihm im Gegensatz zu Gundula wirklich wichtig waren und die mit ihm stets auf einer Wellenlänge lagen. Nämlich seine versoffenen Kumpels vom sonntäglichen Frühschoppen, den Benno immer derart zelebrierte, dass er beim Mittagessen desöfteren Schwierigkeiten hatte das Gleichgewicht zu halten. Mit diesen könnte er stundenlang herumgrölen und über Prominentenoberweiten diskutieren. Er liebte diese Jungs und wenn sie anatomisch weiblich gewesen wären...frage nicht.
Vielleicht würden sie wieder irgendeine Scheiße bauen, wie Neunzehnhundertachtundneunzig, als sie morgens um drei im Vollrausch die Müllcontainer neben dem Geräteschuppen abgefackelt hatten. Eigentlich wollten sie das gar nichts, aber Ralf hatte steif und fest behauptet, er könne jedes Feuer der Welt nur mit seiner gefüllten Blase löschen, da er schließlich Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr Otterbach war.
Ingo hatte einen Zehner dagegengehalten und ruckzuck stand der ganze Container in Flammen und natürlich hat Ralf es nicht geschafft ihn auszupinkeln. Die Polizei hat tagelang ermittelt und sogar die Kripo war da. Benno jedenfalls zuckte in der Folgezeit immer zusammen, wenn er Sirenen hörte. Aber Spaß hatte es doch gemacht.
Der dritte und für Benno sicherlich wichtigste Grund war jedoch die Tatsache, dass die Sportfreunde Otterbach auf jedem Sommerfest den Vereinsmitgliedern Freibier spendierten. Das würde dem sparsamen Benno Saufen bis zum Kollaps ermöglichen, ohne ein schlechtes Gewissen wegen ausgegebenem Geld zu haben. Letztes Jahr hatte er den halben Bierwagen leergesoffen und war am nächsten Morgen mit zerfetzten Klamotten neben den Bahngleisen am Stadtrand aufgewacht. Außerdem hatte er um kurz vor zwei, also wenige Minuten bevor der rote Faden des Abends im Nirvana auf Hopfen und Malz verschwand, um ein Haar mit der Bierwagenbedienung rumgeknutscht. Diese war zwar auch schon über die fünfzig hinaus, aber optisch drei bis vier Klassen höher anzusiedeln als Bennos bessere Hälfte. Leider konnte er sich beim besten Willen nicht daran erinnern, was passiert war nachdem sie sich über Bennos Schnurrbart unterhalten hatten.
Das war immer so. Bier hatte für Benno die Eigenschaft, wie der Spinat für Popeye zu sein. Allerdings mit der fatalen Nebenwirkung, dass dieser Positiveffekt erst dann eintrat, wenn er derart viel gesoffen hatte, dass er sich am nächsten Morgen an gar nichts erinnern konnte. Trotzdem war Benno heute Abend optimistisch:
„Naja vielleicht wird das ja heute mit der Alten noch was werden!“ dachte er, als er sich im Spiegel seine Uniform anlegen sah. Dieses Outfit, die „Uniform“, würde ihn unwiderstehlich machen.
Sie bestand aus seinem besten Karohemdchen, nämlich dem mit dem türkisen Rautenmuster und dem Stehkragen, dazu der extra engen, arschbetonten Karottenjeans und den schwarzen Lackschühchen Größe Sechsunddreißig. Da konnte keine Frau „Nein“ sagen! Und somit erst recht nicht die Bierwagenfrau.
Benno steckte noch die HB Big Box in die rechte Brusttasche und träufelte sich einen Spritzer Eau de Cologne auf den roten Orang-Utan-Hals und grinste dann zufrieden in den Spiegel.
Er sah auf die Uhr. Viertel nach sechs. Dann könnte es ja losgehen. Die Bälger wären jetzt mit ihrem blöden Fussballturnier fertig und Benno könnte die kurze Flaute am Bratwurststand zu seinen Gunsten ausnutzen. Schnell verabschiedete er sich von Gundula und stieg in sein Auto.
Sicherlich ist es unsinnig, einen knappen Kilometer an einem lauen Spätsommerabend mit dem Auto zurückzulegen, wenn man obendrein nach einer halben Stunde eh zu besoffen ist um selbiges noch steuern zu dürfen, aber Benno hatte noch das Vereinsfest Zweitausend im Kopf, wo urplötzlich das Freibier ausgegangen war und dabei war es noch nicht mal Mitternacht gewesen! Er hatte wochenlang schlechte Laune gehabt und schwor sich, nie wieder ohne Notreserve dort aufzulaufen. Diese besagte Notreserve bestand aus zwei Kisten Oettinger, die Benno seit zwei Wochen in seinem Kofferraum spazierenfuhr. Nur falls es ganz dicke kommen sollte.
Zweieinhalb Minuten Fahrzeit später stellte Benno seinen Biertransporter am anderen Ende des Sportplatzes ab. Er war kaum ausgestiegen, da hörte er aus der Entfernung Wolfgang Petry vom „Waaahnsinn!“ singen und der Geruch von Grillgut stieg ihm in den Zinken.
Der Fußballplatz war inzwischen leer, dennoch hatte Benno sich verschätzt: Es war brechend voll in diesem Jahr und eine riesige Menschentraube stand demzufolge auch um den Bratwurststand herum. So dicht, als würde es die Bratwurst hier umsonst geben, wie er nach einigen zaghaften Annäherungsversuchen feststellte. Der eher schwächliche Benno wollte sich das Gedränge noch nicht antuen und steckte sich erstmal eine Zigarette an. Die erste Ladung Teer in der Lunge, hörte er ein lallendes „Schwuppe alter Verbrecher!“
Benno drehte sich um. Ingo aus der Ü40 wankte auf ihn zu. „EYYYY!“ grölte er und fiel Benno um den Hals, dass dieser fast die eigene Kippe verschluckt hätte. „Hab ja gewusst dass du kommst! Heute wird gesoffen wa' Bennochen?“ Benno nickte eifrig. Ingo war ein ähnlicher Schluckspecht wie Benno. Mit dem Unterschied, dass er es tat, um über den Suizid seiner Frau hinwegzukommen und nicht über deren Existenz, wie Benno es tat. Und zwar täglich.
Klar, wenn du deine schneeweiße Frau auf deinem Lieblingsteppich findest, vollgekotzt und mit verdrehten Augen, wie das immer so ist nach einer Schlaftablettenüberdosis, dann musst du dich nicht wundern wenn du auf kurz oder lang zur Pulle greifst. Und ruckzuck bist du auch deine Arbeit los weil du den eigenen Streifenwagen mit Zweieinhalb Promille in den Graben fährst und hast noch mehr Zeit zum Saufen. Ein Teufelskreis. Und in diesem Teufelskreis war auch Ingo mit der Thomas Anders-Frisur gefangen.
„Bierchen?“ fragte er wieder etwas klarer und zog eine 0,33er-Maurergranate aus der abgeranzten „Hello Kitty“-Umhängetasche, die mal seiner Frau gehört hatte. „Klar!“ erwiderte Benno mit leuchtenden Augen und schoß den Kronkorken der gereichten Pulle mit einer geübten Bewegung in Richtung Bratwurststand. „Und? Alles paletti?“
Benno erzählte gerade von dem Krankenhausaufenthalt, dem ihm die letzte Radtour eingebracht hatte, da wechselte die Musik von Wolfgang Petry zu DJ Ötzi. Benno und Ingo begannen schon erste zaghafte Mitgrölversuche, da kamen Kalle vom Vorstand und Ralf, der ehemalige Stürmerstar und jetzige geschiedene Fabrikarbeiter dazu.
Kalle war der dicke Bruder von Willy Thomczyk aus „die Camper“ und ein Prolet vor dem Herrn. Er hatte mal ein Speditionsunternehmen gehabt, war pleitegegangen und jetzt lebte er von der Stütze. Bei dem kleinen Ralf sah es ähnlich düster aus, mit dem Unterschied, dass er wenigstens noch für einen Hungerlohn schuften ging. Feuer löschen konnte er trotzdem nicht, davon zeugten die angekohlten Balken des Geräteschuppens, der bei dem Feuer im Müllcontainer natürlich auch nicht schadlos geblieben war.
Nach weiteren höhlenmenschartigem Rumgegröle zur gegenseitigen Begrüßung und dem ersten Anstoßen auf die Sportfreunde Otterbach begann das nun zum Quartett angewachsene Säuferensemble das zu tun, was sie jedes Jahr taten: Saufen und dumme Sprüche kloppen. Zunächst diskutierten sie, wessen Nachbarin die geilste sei, dann warum „wir“ den Krieg nicht gewonnen haben und schließlich „warum die nicht mal ein paar mehr Dixiklos aufstellen, wenn es ihnen hier nicht passt, dass wir ins Gebüsch schiffen!“ wie ausgerechnet Vereinsvorstandsmitglied und Mitveranstalter Kalle herausgrölte.
Die Sonne war inzwischen beinahe untergegangen und langsam wurde der Weg zum Bratwurststand frei. Benno hatte in den letzten zwei Stunden sechs Nulldreier aus Ingos Beständen gekillt, dazu noch zwei Halbe von Ralf. Jetzt musste ein erster fester Ausgleich her. „Ich hol mir mal was zu Beißen Jungs!“ rülpste er und entsorgte die letzte Pulle per Hakenwurf ins Gebüsch.
Noch recht aufrecht ging Benno auf den Stand zu, erst das grelle Licht dort blendete ihn und verengte seine leicht geröteten Augen zu regelrechten Sehschlitzen. Er sah sich leicht benebelt um. Reges Treiben herrschte hier. Die beiden Typen dort hatten alle Hände voll zu tun. Der eine wendete an die fünfzig Bratwürste und der andere flitzte nur so im Wagen herum, um die rund herum umstehenden hungrigen Mäuler zu stopfen.
„EINE BRATWURST! ABER MIT ORDENTLICH SENF!“ grölte Benno und reckte ein Euro-Stück empor. Doch weder der Typ der gerade die fette Frau abkassierte, noch der bulligere Typ mit der Glatze der am Grill stand und der irgendwie so gar nicht in das zartrote Shirt und die weiße Kücxhenschürze passte, schienen ihn gehört zu haben. „HEY! GIB MIR MA' NE BRATWURST!“ grölte Benno erneut und wedelte mit dem Geldstück herum. Keine Reaktion.
Jetzt nahm der Schmalere die Bestellung von jemand anderem auf. Das war zuviel für den gerechtigkeitsliebenden Benno. Er war schließlich zuerst gekommen, also war das auch seine Bratwurst! Benno begann jetzt richtig laut herumzukrakeelen, sodass es auch den beiden Bratwurstmännern nicht entgehen konnte. Der Alkohol hatte seine Zunge bereits leicht gelockert, sodass Benno die empfundene Ungerechtigkeit auch in aller Deutlichkeit äußerte: „WAS GIBSTE DEM ZUERST DIE BRATWURST? ICH STEH HIER SCHON NE HALBE STUNDE!“ Doch nicht einmal den schmalen Bratwurstmann schien das zu beeindrucken. „Mach hier nicht so'n Lauten!“ gab sein stiernackiger Kollege vom Grill zurück, der Bennos Anklage mitbekommen hatte, „Sonst kriegste gleich was anderes!“
Benno sah beleidigt und auch ein wenig schockiert zurück. Erst wurde er hier um seine Bratwurst beschissen und jetzt drohte ihm das Arschloch auch noch unterschwellig Prügel an.
Dann allerdings wurde ihm klar, dass dieser Mann mit der fettigen Kittelschürze die alleinige Gewalt über die Bratwürste und deren Verkauf hatte und begann sogleich diesen zu beschwichtigen:
„Ja so war das ja nicht gemeint!“ rief Benno und sah ihm tief in die Augen. Dann fixierte er den Anderen, setzte er seinen Dackelblick auf und schob ein „Tschuldigung!“ hinterher, dass es selbst den unglaublichen Hulk zu Tränen gerührt hätte.
Er schämte sich, dass er sich bei dem Gehörlosen da entschuldigen musste, aber anderenfalls wäre es Essig mit der Bratwurst gewesen. „Gut, was darfs denn sein?“ fragte ihn der nicht bullige Bratwurstmann nun und Benno gab artig seine Bestellung auf. Im selben Moment in dem der Typ ihm seine Bratwurst mit Senf und alles überreichte, stand für Benno schon fest, dass diese Schmach nicht ungesühnt bleiben würde.
Doch zunächst würde er sich noch ordentlich einen in die Rüstung knistern. Er sah zum Bierwagen hinüber. Wenn Ingo kein Bier mehr hätte müssten sie hier weiter saufen. Er kniff die Augen zusammen um die Bedienungen zu erkennen. Die geile Alte vom Vorjahr schien nicht dabei zu sein. „So'n Mist!“ knurrte Benno. Hatte er seine Aufreißermontur völlig umsonst angezogen? Dabei hatte er sogar extra vorhin für einen kostbaren Euro eine Packung Gummis auf dem Vereinsklo gezogen. Natürlich erst, als er sich ganz sicher war, dass niemand mehr da war, der ihn dabei hätte sehen können. Kondome ziehen, sowas tat ein Benno Schwuppe nicht. Zumindest nicht offiziell. Naja und jetzt schien er das Risiko ganz umsonst auf sich genommen zu haben. Fast wäre ein Anflug schlechter Laune aufgekommen, da sah er auf die leckere Bratwurst, die er sich jetzt reinknallen würde.
Er schlenderte an den Garagen vorbei, ein wenig in die Peripherie des Festes, wo er sein erworbenes Grillgut innerhalb von höchstens anderthalb Minuten gierig verschlang, damit auch bloß keiner seiner Kumpels auf die Idee käme ihn anzuschnorren. Er war schließlich nicht König Midas. Ständig wollen die Leute was von einem geliehen oder ausgegeben haben. Erst letzte Woche hatte eine von den Schwesternschülerinnen im Krankenhaus in der Kantine ihr Portemonnaie vergessen. Und was fiel ihr ein? Natürlich, gammeln wir doch einfach den Krankenhaustechniker an!
Nun muß man aber sagen, dass zwischen Realität und wütenden Gedanken immer noch Welten liegen. Benno hatte der gut dreißig Jahre jüngeren Frau den Wunsch natürlich nicht abgeschlagen und ihr die drei Euro achtzig fürs Mittagessen GESCHENKT, während er ihr lüstern grinsend aufs Dekollete geglotzt hatte und schon wieder ein schweinisches kleines Filmchen vor seinem geistigen Auge ablief. Auch als die Schwester sagte, sie würde es ihm morgen früh sofort wiedergeben, hatte Benno noch den großen Wohltäter gespielt und lässig abgewunken. „Kein Thema!“ hatte er gesagt und kam sich vor wie dieser amerikanische Schauspieler, mmh, jetzt komme ich nicht auf den Namen. Naja Benno hatte sich jedenfalls nur wegen drei Euro achtzig schlagartig um Jahrzehnte jünger gefühlt. Mit stolz geschwellter Brust war er durchs Krankenhaus stolziert und hatte den Krankenschwestern zugezwinkert. Er war sich sicher, jetzt könnte er alle haben.
Aber das war letzte Woche gewesen. Jetzt stand er hier und wusste genau, wenn er mit der restlichen Bratwurst bei seinen Kumpels ankäme würde er dreimal den gleichen Satz hören: „Lass ma beißen!“ Und dann wäre nix mehr da!
Als die Wurst sich zerkaut auf dem Weg in Richtung Magen befand, steckte sich unser Altruist vom Dienst eine Zigarette an und stapfte zurück zu seinen Kumpels. Er kam gerade rechtzeitig um in die Diskussion über die Höhe der vor wenigen Minuten eingeschalteten Flutlichtmasten einzusteigen. Kalle war nämlich schon wieder so rotzevoll, dass er regelrecht stur auf seiner Meinung beharrte: „Ich sage das sind...mindestens zweihundert Meter!“ lallte er und war schon kaum mehr für den nüchternen Beobachter zu verstehen. Der kleine Ralf kicherte und gackerte ob dieser kühnen Behauptung und Ingo stand einfach nur daneben und starrte die beiden an, während er mit der freien, nicht bierhaltenden Hand seine „Hello Kitty“-Umhängetasche umklammerte und so vor etwaigen Taschendieben bewachte.
Jetzt war aber Ralf dran: „Kalle! Das sind nichtmal dreißig Meter! Mann, Mann zweihundert Meter! Wasn Schwachsinn!“ Dann begann er wieder loszugackern. Kalle stutzte. Seine Augen bekamen einen gefährlichen Glanz. „Was heißt hier Schwachsinn? Glaubst du etwa ich bin betrunken?“ Der sonst so gemütliche Kalle schien auf einmal überaus aggressiv zu sein.
Der kleine Ralf kam aber gar nicht mehr dazu etwas beruhigendes zu sagen, nicht nur, weil er immer noch über die zweihundert Meter-Schätzung seines zwei Köpfe größeren und gut hundert Kilo schwereren Saufbruders lachte, sondern auch, weil ebendieser ihn am Kragen gepackt hatte, und mit einem Satz in eine Gruppe jüngerer Typen hinter ihnen reinwarf.
„EY DU PENNER!“ schrie der Kerl in der Lederjacke, auf dem der kleine Ralf gelandet war und der diesem jetzt den Kiefer streichelte. Allerdings mit der Faust. Und nur einen ganz kurzen Moment, ehe ebendieser kleine Ralf wie ein Zollstock zusammenklappte. Dann war schon Benno an der Reihe und auch er machte seinem Ruf als Memme alle Ehre, als er nach einem einzigen, gezielten Schlag zu Boden ging. Von dort sah er, wie sich jetzt Ingo und der dicke Kalle auf die prügelnde Lederjacke und ihre zwei Kumpels stürzten. Benno bemerkte gerade das Blut welches aus seiner aufgeplatzten Lippe schoß, da konnte Urgewalt Kalle einen schönen Treffer landen. Die Lederjacke lag jetzt da und Kalle verpasste ihm welche, dass es Benno schon vom zugucken ganz unheimlich wurde. Auch die anderen beiden Typen mit denen der Kontrahent angetreten war, schienen von Kalles Performance durchaus beeindruckt, da sie es nicht wagten, einzugreifen. Und selbst wenn sie es versucht hätten, Ingo war trotz seiner „Hello Kitty“-Tasche nicht zu unterschätzen. Wenn es ums Prügeln ging konnte er ein ganz unangenehmer Gegner sein. Das hatte zumindest seine Frau bei der Polizei erzählt. Ein paar Monate vor ihrem Tod auf dem guten Designerteppich in Ingos Wohnzimmer. Aber das ist ja auch immer eine situationsbedingte Sache. Weil hier war schon wenige Sekunden später der Sicherheitsdienst da. Und weil man Kalle als Mitveranstalter nicht rauswerfen konnte und dieser auch nicht seine Kumpels hätte rauswerfen lassen (nicht einmal den kleinen Ralf), blieb für diese die Sache auch folgenlos. Im Gegensatz zur Lederjacke, der sogar ein Hausverbot aufgedrückt bekam.
Kalle hatte kaum den kleinen Ralf zusammengeschissen, wozu er ihn wieder getrieben hatte, da sah er, dass es Benno erwischt hatte. „Mensch!“ sagte er und man konnte dabei überdeutlich merken, dass er nicht gerade nüchtern war, „Bernie du hast ja n richtigen Cut! Den müssen wir verarzten!“ er schnappte sich Benno, der noch protestierte, weil er Angst hatte, dass man ihm das Freibier wegtrinkt und zerrte diesen hinter sich her ins Vereinsheim. Er setzte ihn auf die Bank auf dem Flur vor der alten Rumpelkammer: „Warte hier, ich schick meine Schwägerin vorbei! Die ist Krankenschwester und weiß was zu tun ist!“ Benno rollte mit den Augen. „Ja gut, aber mach hinne!“ raunzte er. Er wusste, dass das Freibier während seiner Behandlung auch nicht mehr wurde. Und nun saß er hier und musste auf eine Möchtegernärztin warten.
Benno sah sich um. Er sah Urkunden, Medallien und Mannschaftsfotos der letzten zwanzig Jahre. Da fiel ihm alles wieder ein: Hier, genau hier hatte er zuletzt vor dem großen Spiel gesessen. 1994 war das, soweit er sich erinnern konnte. Bennos Sportskarriere lag damals bereits in den letzten Zügen. Er war zwar nie ein großer Fussballer gewesen, aber an diesem Frühlingstag hatte er für die Jungs nochmal seine bananengelben Schuhe ausgepackt, denn ihnen fehlte ein elfter Mann um gegen die Truppe vom VfB Lüttmerode anzutreten. Und es ging um den Gewinn der Kreisklasse Sechs. Ohne den elften Mann hätten sie das Spiel aber von vornherein mit 2:0 verloren und dann wäre es Essig gewesen mit der Meisterschaft. Und natürlich auch mit der alkoholreichen Meisterschaftsfeier des SV Otterbach.
Also hatten sie Benno tagelang eingelullt, mit abgegriffenen Komplimenten über seine Ballbehandlung, die der eines jungen Maradona gleiche und ähnlichem Zeug. In Wirklichkeit machten seine Mannschaftskollegen der Ü40 sich ständig im Geheimen über ihren Ex-Kameraden lustig, vor allem über Bennos Schußkraft, die laut dem Mannschaftskapitän mit der eines O-Ton „achtjährigen Mädchens“ vergleichbar war. Aber auch seine merkwürdige Art zu laufen war ein nie enden wollender Quell der Belustigung auf seine Kosten. Trotzdem, wen hätten sie sonst fragen sollen, es gab ja niemanden anderes.
Benno jedenfalls war damals stolz wie Oskar aufgelaufen und hatte sich nach sieben Minuten derartig das Knie verdreht, dass so gut wie alles was sich da an Bändern und Sehnen befand kaputt war. Er wurde heulend im Notarztwagen ins Krankenhaus gefahren, war vier Monate krankgeschrieben und lag drei Mal auf dem Tisch, ehe er wieder halbwegs normal laufen konnte. Wenigstens das Spiel hatten sie 3:2 gewonnen und Benno stand sogar in der Zeitung als Mannschaftsmitglied. Trotzdem wollte er seit diesem Tag von aktivem Fußball nichts mehr hören.
All diese negativen Erinnerungen verflogen jedoch, als plötzlich SIE um die Ecke kam. „Hi, ich bin die Sabine! Der Kalle hat gesagt, dir hat wer einen eingeschenkt?“ fragte die rothaarige Frau mit dem kleinen Köfferchen und setzte sich neben ihn auf die Bank. „Zeig mal her!“ Benno glotzte wie ein Auto. „Boah!“ dachte er und scannte mit seinen dicken Schweineaugen den Körper von Kalles Schwägerin. Klar, die beiden waren nicht verwandt, aber Benno konnte dennoch in diesem Moment kaum glauben, dass der fette Kalle und so eine hübsche schlanke Frau ein und derselben Familie angehören.
„Äh ja, hab einen Moment nicht aufgepasst, sonst hätt ich 'ne natürlich umgehauen!“ gab Benno zurück und versuchte möglichst lässig zu wirken. „Schon klar!“ antwortete Sabine und schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln. „Da reicht ein einfaches Druckpflaster!“ Sie nestelte in dem kleinen Notfallköfferchen rum und Benno wagte einen Blick auf ihr Dekollete. Wie alt sie wohl sein mochte, dachte er sich. Er war sich sicher, dass sie über die 40 raus war und damit potentielles Beutegut. Während sie mit ihrem Druckpflaster an Bennos Lippe herumfingerte, hatte er schon wieder die verkommensten Gedanken. „Jetzt bleib ganz ruhig Schwuppe!“ dachte er „Versau es nicht!“
Benno hatte es weiß Gott oft genug versaut. Nach der Scheidung von seiner ersten Frau hatte er erkennen müssen, dass Fünfzigjährige im Normalfall auf dem Markt nix mehr finden. Und wenn, dann nur das, was eh keiner mehr will. Heute hatte er eine Chance, das fühlte er, ebenso wie er fühlte, das angeschickerte Krankenschwestern das Anlegen von Druckpflastern auch nicht besser beherrschen als man selbst. „Auatsch!“ sagte er und zog den Kopf weg. „Tschuldigung!“ sagte Sabine, strich das Pflaster glatt und klappte dann den Koffer zu. Benno wusste, dass das jetzt schon wieder einer der Momente war, an dem er unbedingt aktiv werden müsste, sonst wäre es für lange Zeit die letzte Chance gewesen.
Also fasste er all seinen Mut zusammen und äußerte, er würde jetzt ein Bier brauchen und ob sie nicht auch eins trinken wolle. Benno war schließlich jemand, nach dessen Meinung Großzügigkeit auch mal mit gespreizten Beinen belohnt werden könnte.
„Ein Freibier?“ Sabine sah ihn ein wenig belustigt, ein wenig nachdenklich an. Bei dem Wort Freibier wurde Benno mal wieder klar, was für eine Flasche er im Bezug der Kommunikation zum anderen Geschlecht war und dass er mit diesem Spruch den er sich eben aus dem schiefen Kreuz geleiert hatte und für eine Sekunde als fast genial erachtet hatte, nur seine eigene Unfähigkeit herausgekehrt hatte, mit Frauen zu reden.
Doch zu seiner großen Überraschung hatte das scheinbar noch nichts ruiniert: „Klar, warum nicht?“ Fragte Sabine und eh Benno sich versah stand er mit ihr an der Bierbude und reichte ihr den Nullfünfer-Plastikbecher. „Zum Wohl!“ sagte er und bemühte sich, nicht den kleinen Finger abzuspreizen. Das passierte ihm hin und wieder unterbewusst und dann wurde er von seinen Kumpels immer als „Schwuchtel“ bezeichnet.
„Zum Wohl!“ antwortete sie und sah Benno in die Augen. Wohl einen fatalen Sekundenbruchteil zu lange, wie sich später herausstellen sollte. Aber zunächst versuchte Benno, auf dem verbalen Wege, die süße Sabine herumzubekommen. „Ich wusste gar nicht, dass Kalle so eine hübsche Schwägerin hat!“ schleimte Benno mit ungewohnt lockerer Zunge los. Sabine errötete. Sie befürchtete, jemand habe gehört, wie schamlos sie hier von dem alten Knacker angegraben wurde. Wie könnte sie nur aus dieser Situation herauskommen?
Benno erkannte die vermehrte Gesichtsdurchblutung hingegen als untrügliches Zeichen, dass er alles richtig machte. Er konnte ja nicht ahnen, dass sie nicht vor Freude errötete. So aber legte er munter nach, quasi bestärkt durch die eigene Selbstüberschätzung.
„Du wohnst aber nicht hier in Otterbach oder? Weil so eine hübsche Frau wäre mir natürlich aufgefallen!“ Sabine errötete immer mehr, sah sich hektisch um und stammelte, sie wohne nicht in Otterbach, aber...ja, da war es zu spät für „aber“, denn Benno, der sich bis hierher doch den Umständen entsprechend überraschend wacker geschlagen hatte, holte zum vernichtenden Schlag aus. „Was hasten heute noch so vor?“ Die Röte in Sabines Gesicht stieg jetzt nicht weiter, im Gegenteil: „Wie meinst du denn das?“ Ihre Stimmlage war, wie sag ich das jetzt, war ein wenig anders als im normalen Gespräch. Schockiert würde ich sagen, blass trifft es auch, ja, blass. Das passt auch gut zur Gesichtsfarbe, die die gute Sabine jetzt hatte. Interpretationsspezialist Benno jedoch hatte in diesem „Wie meinst du denn das?“ etwas herausforderndes erkannt.
Jetzt grinste er jedenfalls mit seinen fauligen Zähnen. Er wusste, dass es Zeit war, das Ding einzutüten. Ralf hatte ihm das mal gesteckt. Damals, als sie sich nach Bennos Scheidung im Vereinsheim unterhalten hatten und Benno wieder auf die Pirsch ging. Ebendieser Ralf, ebenso geschieden aber im Gegensatz zu seinem Kumpel Benno mit zahlreichen Affären gesegnet, hatte gesagt, man muss der Frau sofort sagen, was Sache ist, den Rest könne man eh vergessen. Das ganze Gelaber und Essen gehen koste nur unnötig Geld. Der sparsame Benno hatte ihm Recht gegeben und weil Ralf sogar mal an der Uni war, zumindest bevor er nach zehn Semestern abgebrochen hatte, bevor er das Kind gezeugt und ihm dieses mit vier Jahren im Baggersee ertrunken war und bevor sich weitere drei Jahre später seine Frau recht kostspielig von ihm getrennt hatte und natürlich bevor er zur Krönung für 1100 brutto im Schichtdienst am Band stehen durfte, genau deshalb hörte Benno an diesem Abend auf Ralf und seinen Ratschlag, genau DIESEN Spruch mit einem eindeutigen Grinsen zu bringen.
Und im Nachhinein wurde ihm klar, dass Ralf nicht schuld an der Misere war in der er sich jetzt befand. Auch wenn es ihm ganz und gar nicht passte: Er selbst war schuld. Er ganz allein, obwohl er eigentlich nichts dafür konnte. Er hatte die Situation falsch eingeschätzt. Hatte gedacht, er könne den Nippel durch die Lasche ziehen. Doch da war keine Lasche. Und eigentlich auch kein Nippel.
„Zu dir oder zu mir?“
Warum er überhaupt die Option „zu mir“ zuließ, ist mir bis heute ein Rätsel. Er hätte ja mal dort auflaufen können mit ihr und am Besten noch Gundula bitten sollen, im Ehebett ein Stück Platz für Benno und seine Teilzeit-Zweitfrau zu machen. Vielleicht meinte er aber auch sein am anderen Ende des Sportplatzes geparktes Auto damit. Vielleicht meinte er einfach gar nichts und der Alkohol ließ ihn nur schneller reden als er denken konnte. Man weiß es nicht.
Benno ließ diese Worte jedenfalls ausklingen und einen kleinen Augenblick lang, in dem Augenblick, in dem diese Worte durch die dreißig Zentimeter Luftlinie zwischen ihnen schossen wie Pistolenkugeln, wurde alles still um ihn herum. Er hörte kein Grölen der Väter mehr, kein Kichern der bis zur Hutschnur vollgesoffenen Ehefrauen, kein Quengeln der Kinder, die jetzt vom besoffenen Papi nach Hause gefahren werden wollen. Er sah nur Sabine, die dort mit ihrem halbvollen Plastikbecher in der Hand am Tresen lehnte, während sich ein regelrechter Weichzeihner sich auf Bennos Blick legte und alles in Zeitlupe zu passieren schien, so wie in dem Film „Matrix“. Für einen winzig kleinen Moment war es absolut still und Benno erwartete die passende Antwort auf seine Frage.
Und wenn er jetzt hier so auf dem Behandlungsstuhl sitzt und darauf wartet, dass der gute Onkel Doktor rettet was noch zu retten ist, muss er zugeben, dass noch nicht diese Frage alleine ihn hierhergebracht hat. Nein, hierher hat ihn letztlich ein Gemisch aus zuviel Bier, zuviel Testosteron und eine viel zu große Portion von etwas gebracht, was er nie besessen hatte: Selbstvertrauen.
Der guten Sabine wären nämlich fast die Augäpfel aus den Höhlen gekullert als dieser Satz ihr Gehörzentrum erreichte und zuerst hatte sie gar nix gesagt. Erst als Bennos eklig lüsterner Blick nach knapp zwei Sekunden eine Spur Verunsicherung zeigte, legte sie los:
„Wie bitte? Ist das dein Ernst?“ Benno brauchte zwar ein wenig länger als eine nüchterne Vergleichsperson um auf diese wie er es vermutete, rhetorische Frage zu reagieren, nickte dann aber, wobei er allerdings nicht mehr so sicher wirkte wie zuvor. „Du bist wohl bekloppt!“ fauchte sie und drehte sich weg, um aus Bennos Dunstkreis zu entkommen. Sie hatte jedoch nicht mit der seltenen Entschlossenheit des Benno Schwuppe an diesem lauen Spätsommerabend gerechnet:
Dieser hatte eine Sekunde nach Sabines wütendem Ausruf seinerseits nachgelegt und war ihr ein wenig näher gekommen.
Nicht nur von der reinen Entfernung, auch auf der persönlichen Ebene. Denn das Erste was näher kam war natürlich die Akustik. Es war nämlich so:
„Hab dich nicht so!“ kam schneller näher als die Maulwurfsartige Hand, die sich auf Sabines rechte Brust legte und zudrückte, als wäre es der reinste Luftballon.
Nun muss man fairerweise sagen, auch die Sabine ist in dem Moment dem guten Benno näher gekommen. Aber sicherlich anders als der es gewollt hatte. Sie ist ihm auch auf zweierlei Ebenen näher gekommen. Aber hier war es genau umgekehrt. Denn diesmal war die Physik schneller als die Akustik. Oder anders formuliert: Bevor Benno mit den Worten „perverses“ und „Schwein“ bedacht wurde, traf ihn schon der rechte Ellenbogen einer aktiven Kickboxerin, der die frisch renovierte Kauleiste erneut aus der Verankerung riß. Beim anschließenden Einschlag der Kniescheibe in die Körpermitte wurde Benno dann schwarz vor Augen. Er wachte erst im Krankenhaus wieder auf, als die Schwester ihm die gorillafingerdicke Infusionsnadel in die fahlweiße Hand rammte und ihn fragte, ob er wieder Rad fahren war.
Trotzdem muss man sagen, dass dieses Vereinsfest zwar das Erste seiner Art gewesen ist, welches Benno vorzeitig verlassen musste (Und zwar ohnmächtig im Krankenwagen), allerdings blieb ihm wegen der schmerzstillenden Medikamente, die ihm in der Notaufnahme verabreicht wurden, der fiese Kater erspart, der sonst jedes Jahr aufs Neue die Stimmung am nächsten Morgen doch ein wenig trübte.
Und das ist doch auch schon mal was wert!