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Das Halbe und das Ganze
Als er gerade achtzehn geworden war, ging er mit Freunden in einen neuen Klub am Rande der Stadt. Später dachte er oft darüber nach, was so besonders an ihr gewesen war. Nicht das wilde Durcheinander ihrer Haare, nicht die Allwissenheit in ihren Augen, nicht einmal das Strotzende ihrer Brüste. Er kam zu dem Schluss, dass ihn damals das Licht getrogen haben musste. Zufällig hatte sie in einem roten Lichtkegel gestanden, zufällig verharrte sie so lange darin, bis er sie bemerkte, zufällig sah sie genau in diesem Moment aus wie ein Idol, das man anbeten musste.
Er vertraute auf sein gutes Aussehen, prostete ihr mit seiner Bierflasche zu und deutete auf den Ausgang. Hier drinnen war an eine Unterhaltung nicht zu denken. Der Bass aus den Lautsprechern dröhnte in seiner Magengrube - als sie nickte, gesellte sich zu dem Dröhnen eine prickelnde Melodie.
Draußen bot er ihr sein Bier an, sie lehnte ab, er sah ihren ersten Makel: Ein Schneidezahn stand etwas vor, sie konnte ihre Lippen daher nie ganz schließen. Als er sie viele Jahre später hasste, lachte er innerlich hämisch darüber, wenn sie beim Sprechen aufgrund dieser Fehlstellung spuckte. Niemals ekelte er sich jedoch vor ihr.
"Ich bin Gitti." Zögernd sah sie ihm dabei in die Augen.
"Hey, ich hab keine K.O-Tropfen hier drin!" Er grinste und schwenkte seine Flasche.
"Hast du auch gar nicht nötig, oder?" Ihre Direktheit oder vielmehr der Ernst, mit dem sie das sagte, ließ ihm keinen Ausweg, er verliebte sich.
"Sag mir doch auch mal deinen Namen ... oder warte, ich errate den auch so. Hm, Waldemar oder Othmar oder ... oder Rainer-Maria? Du siehst nach irgendeinem `Mar´ aus!" Dabei sah sie ihn weiter durchdringend an, er zweifelte kurz an ihrem Verstand, an seiner Wirkung auf Frauen, an der Hitze in seinem Bauch.
„Armin“, sagte er. Sie begann zu lachen.
Bei sich nannte er sie Mädchenpäckchen, weil sie so klein, kompakt und handlich war. Und sich zumindest am Beginn immer und überall anfassen ließ. Er konnte sie hier und da hinlegen, sie öffnen und wieder verschnüren, sie ließ sich heben und schieben und stoßen. Mit der Zeit langweilte ihn diese passive Bereitwilligkeit aber, er begann sich heimlich mit großen, schlanken Frauen zu treffen, die es verstanden, sich im Bett elegant zu bewegen. Ihre Körper wurden jedoch nicht weich unter seinen Händen und ihr Inneres hüteten sie gut. So konnte er sich nie entschließen, Gitti zu verlassen.
Ihr gemeinsames Leben verlief ruhig. Sie studierte Wirtschaft und machte anschließend Karriere als Managerin in einem großen Unternehmen, er studierte einmal dies und dann das, bis schließlich sein Vater starb und Armin mit dem Erbe eine schicke Bar eröffnen konnte, die den Großteil seiner Zeit beanspruchte. Er trank zu viel, er hatte die falschen Freunde und vor allem die falschen Freundinnen, er vernachlässigte sein Geschäft. Als er knapp vor dem Konkurs stand, half ihm ein Kellner dabei, die Bar so geschickt in Brand zu setzen, dass weder die Feuerwehr noch die Versicherung Brandlegung vermutete. Sie gingen davon aus, dass ein später Gast eine Zigarette unsachgemäß weggeworfen und so einen Schwelbrand verursacht hatte, der erst in der Nacht voll ausgebrochen war. Eine betagte Nachbarin kam durch Rauchgasvergiftung ums Leben.
Mit dem Geld der Versicherung startete Armin neu durch. Aus der Bar wurde ein gediegenes Kaffeehaus, er löschte alle Telefonnummern seiner diversen Freundinnen, gab sich Mühe, wieder mit Gitti zu schlafen. Er vergaß das Gesicht der Nachbarin. Den Alkohol ersetzte er durch Sport. Sein Körper wurde ein straff gespannter Bogen, seine Seele ein abgeerntetes Feld, in dessen Furchen die Wintervögel ihre Schnäbel stießen.
Die Pracht des Lebens entfaltete sich nur noch in dem Terrarium, das Gitti eines Tages gekauft hatte. Goldgrüne, winzige Schildkröten krochen darin ziellos herum, ihre stets feuchte Haut erleuchtete das düstere Wohnzimmer. Jeden Abend saß Gitti auf der Couch, beobachtete die lebendigen Schmuckstücke und begann dann in einem dicken Roman zu lesen.
An diesem Abend stellte sich Armin absichtlich so, dass Gitti die Tiere nicht mehr sehen konnte. Irgendwas wollte er ihr antun. Sie provozieren. Er trommelte auf die Scheibe des Terrariums. Das goldene Gepurzel dieser Schildkröten war auch zum Höhepunkt seines Tages geworden, wie er sich eingestehen musste.
“Lass das Getrommel, die sind empfindlich!”, sagte Gitti müde.
“Ich geh nochmal hinaus, brauch Zigaretten.”
“Ich dachte, du rauchst nicht mehr?”
Alles, was Spaß machte, hatte er für sie aufgegeben, die Scheiß-Zigaretten und diese Scheiß-Viecher waren das Einzige, was ihn noch am Leben hielt. Im Prinzip. Haha! Diese Scheiße sagte sie immer, wenn sie stritten. “Im Prinzip ist es ja so, dass ... " Wie gesetzt sie das immer sagte! Wie gleichförmig ihre Stimme dabei klang! Nichts regte sie auf. Sie maßregelte ihn nur wie eine Lehrerin, die nachsichtig, aber bestimmt mit einem etwas ungehorsamen Schüler umging. Prinzipiell hatte ja immer sie recht. Prinzipiell geschah immer das, was sie wollte. Sie machte ihre Beine prinzipiell nicht mehr für ihn breit. Unterhalb des Nabels war er bereits tot und das mit 38! Er hatte ohnehin keine Lust mehr auf sie, sie war in Form und Größe kaum von den Kissen auf der Couch zu unterscheiden! Prinzipiell war sie scheißfett geworden! Ha! Und die Kissen würden sich beim Ficken stärker bewegen als sie! Ha!
"Prinzipiell rauch ich nicht mehr, aber heute schon!"
"Warum gerade heute?"
Bekam sie überhaupt nichts mit? Was sollte diese beschissene "Warum"-Fragerei?
"Brauch auch ein bisschen frische Luft."
"Dir ist schon klar, was das für ein Widerspruch ist?"
"Ich will einfach nur eine beschissene Zigarette rauchen, an der beschissenen frischen Luft, ohne deine beschissenen Kommentare."
Während er im Vorzimmer seine Jacke vom Haken nahm, hörte er, wie sie sich von der Couch wälzte, ihre nackten Füße tapsten über das Laminat.
Im hellen Licht des Vorzimmers musste sie mit den Augen blinzeln.
"Dir ist schon klar, dass du voll das Klischee bist!"
"Aha."
"Du träumst davon, nicht mehr wiederzukommen. Aber dir muss klar sein, dass jeder Mann ab und zu davon träumt", sagte sie und gähnte.
"Wird das jetzt wieder einer deiner Vorträge, wie Männer wirklich sind?"
"Im Prinzip sind alle Männer gleich, ja."
Als er sich die Schnürsenkel zuband, zitterten seine Hände.
Er sah ihr Gesicht nicht, während sie ruhig weitersprach: "Falls du wirklich irgendwann abhaun solltest, zeig ich dich bei der Polizei an, das ist noch nicht verjährt!"
Die U-Bahn brachte ihn weit weg, auf die Insel im Fluss, er setzte sich ans Ufer und rauchte. Die Lichter der Stadt blinkten wie immer verheißungsvoll, irgendwo raschelte eine Bisamratte oder ein Obdachloser im Gebüsch, Wasser schwappte über seine Schuhe. Der Himmel war weit und arglos. Langsam begann Armin sich auszuziehen, die Zigaretten legte er sorgfältig unter einen Stein weiter oben, das Gewand ließ er einfach liegen. Zuerst war der Fluss eine kalte Teufelin, die ihn zu fest umarmte, seine Brust wurde eng, dann legte er sich ruhig auf die Wasseroberfläche und ließ sich treiben. Manchmal streichelten ihn von unten behutsame Pflanzen, es roch nach grünem Schlamm. Die Zigarette danach wärmte ihn und während des Rauchens wichste er rasch ins Gras.
Zu Hause fand er sie schlafend auf der Couch, ihr Mund stand offen, er hasste sie nicht, ihr Fleisch war nachgiebig und weich wie immer, als er sie hochhob und aufs Bett legte. Sie erwachte nicht, nichts störte jemals ihre tiefe Ruhe.
Das Café machte sie reich. Sie kauften sich ein Haus am Rande der Stadt mit einem großen Garten, aus dem Gitti ein Paradies machte. Alles gedieh unter ihren Händen, über ihre Beziehung legte sich eine heitere Gleichgültigkeit, ab und zu schliefen sie sogar wieder miteinander, etwa so wie Äste im Wind klappern. Sie küssten und umarmten sich nur selten. Mit Mitte vierzig begannen sie in einen Swingerklub zu gehen, dort masturbierten sie beide für sich, während sie andere Pärchen beobachteten, zu Hause nahm Armin sie dann härter als sonst, würgte sie auch manchmal ein wenig, bis sie kam. Für kurze Zeit hatte Gitti einen Liebhaber, den sie im Klub kennen gelernt hatte, Armin ahnte es, aber es machte ihm nichts aus. Wenn er später an diese Zeit zurückdachte, glaubte er, sich an einen Film zu erinnern, den er zu oft gesehen hatte.
An diesem Abend lag sie nicht auf der Couch, sondern saß steif auf einem der Stahlrohrhocker in der Küche.
"Ich muss dir was sagen!"
Sie wollte ihn verlassen, da war er sich sicher. Hoffnung und Angst keimten auf. Ihn schwindelte und er kletterte auf das andere Stahlungetüm, als ob es sein Pferd wäre. Desperado ... er würde über Zäune springen, besinnungslos leben und auf die Queen of Hearts scheißen.
"Ich habe Krebs, Brustkrebs." Sofort begann sie zu weinen.
"Was? Warum? Hab gar nicht gewusst, dass du die Untersuchung gemacht hast."
Was sollte das jetzt? Warum hatte sie auf einmal Krebs? Er dachte an verfaulende, blau verschwollene Brüste, an haarlose Köpfe und mitfühlende Freundinnen, die ständig zu Besuch kämen. Ein Heer von weinenden Frauen! Mit rosa Maschen auf ihren eigenen tadellosen Brüsten! Das war einfach unfair! Er hatte Gitti all die Jahre ertragen und das war nun die Belohnung dafür? Er würde sich um sie kümmern müssen, es gab keinen Ausweg mehr, sein Leben war vorbei. Endgültig hatte sie ihn an der Leine. Er begann mit dem Hocker hin und her zu schaukeln.
"Lass das!", schrie sie. Er hatte sie noch nie schreien gehört.
"Ist das deine ganze Reaktion? Ich werde vielleicht sterben und du schaukelst auf deinem Stuhl wie ein kleiner Schuljunge und schweigst einfach!"
Greinend verzog sie ihr Gesicht und fasziniert sah er, wie sich ihr Vorderzahn in die Unterlippe grub. Nie mehr würde sie reizvoll sein, er hatte eine kranke, hässliche alte Frau am Hals. Sie sackte zusammen und legte ihren Kopf auf den Tisch.
Er war übervoll mit Worten, sie drängten aus seinem Mund wie quecksilbrige Kohlensäurebläschen, lustig und lebendig und stechend, sein Mund prickelte davon.
"Wirst jetzt im Klub wohl nicht mehr so schnell einen Aufriss machen mit deinen Brüsten!"
"Wie bitte? Was hast du gesagt?" Ihr Gesicht war weiß, als sie den Kopf hob. Auf ihrer Stirn prangte eine rote Druckstelle von der Tischkante. Seine rotgestreifte Dämonin.
"Eh nix."
Ruhig stieg sie von ihrem Sitz, ihre Tränen waren versiegt, sie kam auf ihn zu, sie musste nicht viel machen, nur etwas gegen die Hockerbeine treten, und er lag auf dem Boden. Armin starrte auf ihre Fesseln, die erstaunlich grazil waren, eine Elefantenkuh auf Gazellenbeinen, er zog ihr die Füße weg, sie fiel mit dem Hinterkopf auf den Schemel, auf den sie sich immer stellte, wenn sie aus den oberen Regalen was brauchte. Kurze Zeit war sie benommen, dann begann sie ihn zu treten, gegen die Brust, gegen den Hals, den Kopf. Es tat Armin nicht weh. Er nahm ihre Tritte ruhig hin, bis sie aufhörte, sich auf die Seite drehte und wieder zu schluchzen begann.
"Bist du jetzt fertig?"
Sie antwortete nicht, ihr ganzer Körper zuckte. Er stand auf, ging ins Bad und wusch sich das Gesicht, auf dem er Staubflusen fühlte.
"AAAhhh", machte Gitti, er sah von oben auf sie herab, wie sie sich auf dem Boden wand, Krämpfe gingen in Wellen von ihrem Bauch aus über ihren ganzen Körper, sie schlug mit den Händen und mit dem Kopf auf die Fliesen. Er fühlte Genugtuung, ihre Ruhe war endlich dahin.
"Ah - ah -ah -ah." Schluckauf zerhackte ihr Stöhnen.
"Gitti, hör endlich auf, hör auf!", schrie er sie an, beugte sich hinab und rüttelte sie an den Schultern. Er wollte nichts Beruhigendes sagen, genoss ihr Außer-sich-Sein. Als sie nicht aufhörte mit dem Heulen und Schluchzen und Hin-und-Herwerfen, legte er sich auf sie und drückte sie mit aller Kraft auf den Boden. Das Zucken ihres Körpers ging in seinen über, aber da war noch mehr, etwas Betäubendes stieg von ihr auf ... ihr Geruch nach Milch und Honig. Wie hatte er nur auf diesen Geruch vergessen können? Ihr Leid und ihre Angst wurden sein Leid und seine Angst und ein einziges Mal schluchzte auch er auf. Und endlich erkannte er sie. Am Hals war die Stelle, wo sie am süßesten roch, da begann er mit seinen Küssen. Der Körper unter ihm war ganz still geworden, sein Nest, seine Zuflucht, seine Erlösung. Das Hemd wurde nass von den Tränen, die noch immer über ihr Gesicht liefen, aber sie schlang Arme und Beine um ihn, als ob sie Angst hätte, ins Leere zu stürzen. Für einen Moment hielten sie sich so fest, dass er nicht mehr wusste, wo er aufhörte und wo sie begann. Er spritzte sofort in seine Hose. Als sie es bemerkte, fing das Zittern wieder an, weil sie gleichzeitig weinen und lachen musste.
"Schsch", sagte er, hob sie vom Boden auf und legte sie im Schlafzimmer auf´s Bett.
"Jetzt machen wir es richtig. Es wird alles gut. Ich will deinen Busen verehren."
Natürlich wurde nicht alles gut. Gitti verlor eine Brust. Für die verbliebene machte Armin ein Fest mit Schlagsahne und Erdbeeren, als sie vom Krankenhaus nach Hause kam. Sie fand das peinlich. Es gab auch wieder andere Frauen in Armins Leben, im Grunde wollte er jedoch nur seine neue Lust testen und zufrieden stellte er fest, dass es tatsächlich mit Gitti am meisten Spaß machte. Ihre allumfassende Gelassenheit und Besserwisserei regten ihn manchmal noch immer auf, aber sie blieben einander zugewandt. Sie konnten nur gut einschlafen, wenn sie irgendeine Stelle am Körper des anderen berührten.
Gitti ruhte wie ein Buddha in sich und wurde noch runder. Nach fünf Jahren kehrte der Krebs zurück. Sie nahm es hin, was den alten Ärger in ihm wieder aufkeimen ließ. Er hatte sich aber so weit im Griff, dass er in ihren letzten Tagen nicht mehr gemein zu Gitti war. Stattdessen rupfte er zu Hause ihre geliebten Pflanzen aus und hackte in der Erde herum. Es half alles nichts, sie starb.
Anfangs kam er jeden Tag zum Grab und bildete sich ein, dort einen leichten Honiggeruch wahrzunehmen. Für eine Zeit lang trank er wieder ein bisschen, begann dann mit dem Radfahren und bereitete sich auf das Alter vor.