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Das Halloween der Dinge
Montag, 29. Mai 2017, 13:15 Uhr, Polizeiwache Nord
Der Dienstgruppenleiter öffnet Ben die Bürotür und beendet damit das Gepräch. »Ich habe Sie Wagen ›Zwölf-Vierzehn‹ zugeteilt. Sie werden bis auf weiteres von POM Georg Müller begleitet.« Er reicht Ben die Hand: »Willkommen an Bord.«
Auf dem Parkplatz der Wache entdeckt Ben den passenden Streifenwagen. Auf dem Weg dorthin überholen ihn zwei Uniformierte, der eine dreht sich im Gehen um, formt aus Daumen und Zeigefinger eine Pistole und ›schießt‹ auf Ben: »Lass es ruhig angehen, Killer!«, ruft er und grinst hämisch.
Ben spürt die Hitze auf Wangen und Stirn.
Am Ford S-Max lehnt der ältere Kollege, die Oberlippe ziert ein markanter, grauer Schnauzbart. Bei Bens Vorstellung, im Rahmen der Bereichsbesprechnung vor etwa einer Stunde, gehörte der Typ noch zu den unverhohlt Starrenden. Jetzt liegt eher Neugierde im Blick.
»Tach. Ich bin Georg. Alles in Ordnung? Ist dir warm?«
»Nee, passt schon. Freut mich. Ben.« Sie geben sich die Hand, steigen ein und fahren vom Parkplatz.
Im Wagen herrscht Stille. Ben schaut aus dem Fenster, und versucht unbemerkt die gelernte Atemtechnik anzuwenden. Wie nannte die Therapeutin das? Box Breathing? Es funktioniert, die inneren Wogen glätten sich langsam.
Georg lenkt den Streifenwagen vorbei an Parkanlagen und Kunstskulpturen, Bäckereien und stinknormalen Reihenhäusern, das Ganze erinnert Ben an Pankow-Süd, mit den vielen Bäumen und …
»Du kommst also aus Berlin?«, bricht Georg das Schweigen.
»Ja.« Weitere Wohnhäuser ziehen vorbei. Eine Eisdiele, ein Kioskbüdchen.
»Na, die ›Berliner Schnauze‹ biste nich’ gerade, wa’?«, äfft Georg. »Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Warum zieht so ein Jungspund wie du vom Großstadttrubel in die ostwestfälische Langeweile?«
Ben tut weiterhin so, als würde ihn die Umgebung interessieren. »Ich … musste schnell da weg. Tapetenwechsel. Das hier war die nächstbeste Stelle«, lügt er.
»Hm«, brummelt Georg und lässt es gut sein. Für etwa zwei Minuten. »Versteh ich nicht. Welcher Bulle Anfang zwanzig lässt sich aus Berlin hierher versetzen, um …«
»Hör auf, okay?«, ruft Ben, heftiger als gewollt. »Und tu nich’ so, ich habs doch gemerkt, ihr wisst alle eh’ schon Bescheid! Ich will einfach nur neu anfangen. Mir doch egal, was ihr denkt. Scheiße!« Frustriert boxt er gegen das Armaturenbrett.
Georg fährt eine Weile schweigend weiter. In jeder neuen Straße drosseln die Autos vor ihnen leicht das Tempo. Bloß nicht auffallen, mit der Polizei an den Hacken. »Du hast recht. Ich weiß, wer du bist. Ein Kollege aus Berlin konnte den Mund nicht halten. Aber weißt du, was ich denke?«, fragt Georg leise.
»Dass ich ein blutiger Anfänger bin? Kann einen Junkie mit Bierflasche nicht von einem bewaffneten Angreifer unterscheiden?«, faucht Ben. Er ist noch immer wütend. Darauf, was ihm passiert ist, aber vor allem auf sich selbst, dass er nicht mehr ruhig bleiben kann, wenn er es doch eigentlich will.
»Nein«, sagt Georg. »Ich dachte, dass die meisten Kollegen ihre Dienstwaffe bis zur Pension vielleicht ein Dutzend Mal ziehen müssen. Wenn überhaupt. Und auf einen Menschen schießen tut fast keiner. Das und alles, was danach kommt, hast du uns an Erfahrung voraus. Und was, wenn es ein Messer statt einer Flasche gewesen wäre?«
»Darauf kann ich verzichten«, murmelt Ben und dreht den Kopf zu Seite. Alles, was danach kommt. Verfahrenssitzungen. Therapiestunden. Die Blicke der Kollegen, die Blicke der eigenen Eltern. Nicht mehr im Dunkeln einschlafen können, als wäre er wieder fünf. Das Licht muss anbleiben. Denn in der Finsternis lauert SIE. Stürmt plötzlich hervor, mit erhobenem Arm, grüner Parka und fettige Haare, das Gesicht eine verzerrte Grimasse. Chaotische Panik, der Knall und dann das Splittern der Flasche, die am Boden zerschellt. Die Verwirrung in ihren Augen, als sie stirbt, während er ihre Hand hält -
»… Hobbys?«, reißt ihn Georgs Frage zurück.
»Wie bitte?«
»Was machst du in deiner Freizeit?«
»Keine Ahnung. Musik hören, Filme gucken. So’n Zeug halt.«
»Hast du am Wochenende schon was vor?«
»Weiß nicht. Wahrscheinlich Kartons auspacken. Wieso?«
»Bist eingeladen. Ich nehm dich mit. Zum Angeln. Am Südstadtteich. Da ist es herrlich.«
Ben schaut ihn an und zieht die Brauen hoch. »Du willst, dass ich mit dir Angeln gehe?«
Georg nickt lächelnd. »Das ist das Beste. Besser wie Filme gucken.«
»Als«, verbessert Ben und verpasst sich in Gedanken eine Kopfnuss.
»Hm?«
»Nix.« Er schaut Georg an, fixiert den imposanten Schnäuzer. Der Kerl hat ein bisschen was von Onkel Paul. Liegt wohl am Pornobalken.
»Also, abgemacht?«, fragt Georg.
Ben seufzt.
Georg lacht. »Wirst es mögen, das weiß ich.«
»O-kay. Dann also angeln.«
»Sehr gut. Ach so, du bezahlst das Bier!«
Sechs Monate später, 01. November 2017, 03:15 Uhr, Innenstadt
Kurz rauscht es im Funk, als die Leitstelle sich meldet: »Die Zwölf-Vierzehn für Null-Eins. Kommen.«
Auf dem Beifahrersitz greift Ben zur Konsole: »Kommen, Null-Eins.«
»Anrufer meldet Ruhestörung, weibliche Person schreit die Nachbarschaft wach. Die Adresse ist … Mühlenstraße Zehn. Gemeldet ist ein Dr. Richard Schneyder … ›Schule, Nordpol, Emil, Ypsilon, Dora, Emil, Richard‹. Kein Eintrag. Bitte überprüfen.«
»Die Zwölf-Vierzehn hört und fährt«, bestätigt Ben den Einsatzbefehl.
»Zwölf-Vierzehn, danke verstanden.«
Georg dreht den Zündschlüssel, der Motor erwacht zum Leben. »Mühlenstraße … das ist doch im Neubaugebiet. Hast du nicht erzählt, dass du mit Sarah zusammenziehen willst? Wäre die Ecke was für euch? Hm, Benni? Eine dieser Villas?«, fragt er lächelnd.
»Es heißt Villen. Nee, Sarah ist jetzt erst mal bei mir eingezogen. Was sollen wir in so einer Bonzengegend? Könnten wir uns ’eh nicht leisten.«
Georg kurbelt am Lenkrad. »Hast ja recht, Benni. Und sowieso, wie sach ich immer? Zu viel Geld verdirbt den Charakter.«
»Die Null-Eins für Zwölf-Vierzehn, bitte kommen«, sagt Ben und schaut aus dem Beifahrerfenster. Zwei kleine Bagger stehen am Straßenrand, daneben liegen graue Röhren unter einem Werbeschild: ›Mit Highspeed in die Zukunft. Glasfaser-Hausanschluss ohne Tarif nur 999,00 €.‹
»Kommen, Zwölf-Vierzehn«, rauscht es aus dem Funk.
»Wir sind jetzt vor Ort, Mühlenstraße zehn. Hier ist alles ruhig, wir sehen uns um.«
»Zwölf-Vierzehn, danke verstanden.«
Ben steigt aus. Georg steht ein Stück abseits und lässt den Strahl der Taschenlampe über das Gebäude wandern.
Drei weiße Kuben schmiegen sich zweistöckig aneinander, die Ränder verborgen hinter silbernen Blenden. Ein langgezogenes Panoramafenster bildet die Grundlage des ersten Stocks. Das Haus liegt im Dunkeln. Niemand schreit.
»Sind die Außerirdischen gelandet?«, murmelt Georg.
Ben schaut die Straße entlang. Junge Pappeln säumen beide Seiten, kerzengerade aufgereiht wie stumme Wächter im Mantel der Nacht. Die angrenzenden Häuser sind bloß Umrisse. Es ist totenstill. In der Ferne verbirgt Bodennebel das Ende der Siedlung wie ein blasser Schleier.
»Komm, wir fahren. Falscher Alarm«, sagt Georg. Es klickt, die Taschenlampe erlischt und er wendet sich zum Gehen.
Im ersten Stock zerschellt Glas.
Sie drehen sich gleichzeitig um. »Fuck«, flüstert Ben.
Georg eilt in Richtung Haustür. Ben folgt ihm. Scheinwerfer flammen an der Dachkante auf, Ben schirmt mit der Hand die Augen ab.
Es gibt kein Klingelschild. Da ist bloß ein Touchpad, überzogen von mattem Glas, darunter eine schwarze, perforierte Fläche. Über dem Pad glänzt eine Metallplakette: Powered by LexSmart. Georg drückt auf das Pad. Von drinnen hört man eine melodische Türschelle.
Nichts geschieht.
Georg versucht es ein zweites Mal.
Das Flutlicht erlischt, es ertönt ein sanftes Knacken und die Haustür steht spaltbreit offen.
Die Polizisten tauschen einen Blick. Georg will zur Klinke greifen und erst jetzt registriert er, dass es keine gibt. »Was zum Teufel …«
»Ist wohl ’ne Schiebetür«, murmelt Ben.
Georg bewegt das dunkle Holz nach links aus dem Weg, geräuschlos gleitet es in die Wand. Die rechte Hand liegt jetzt auf dem Pistolenholster.
Im dunklen Eingangsbereich steht ein blasses Kind und schaut sie an. Der Junge ist im Schlafanzug, vielleicht sieben Jahre alt, Wuschelkopf und große Augen. Auf dem Pyjama tummeln sich kleine Feuerwehrautos.
Ben fröstelt es. Wer lässt sein Kind um halb vier Uhr morgens die Tür öffnen? Im Dunkeln.
Georg nimmt die Hand von der Pistole. »Hey …, hallo.« Er reckt den Kopf, doch da ist nur der Junge.
»Wir sind von der Polizei. Sind deine Eltern da?«, fragt Ben.
Der Kleine guckt unsicher von Ben zu Georg und wieder zurück. Er wirkt nicht verängstigt.
»Nein? Hm … bist du ganz allein?«, fragt Georg.
Das Kind schüttelt langsam den Kopf.
»Ist der Strom ausgefallen?«, fragt Ben. »Ist dir ein Glas runtergefallen?«, rutscht ihm hinterher.
Zum ersten Mal öffnet sich der kleine Mund: »Das war mein Bruder«, sagt er mit dünnem Stimmchen.
»Wir kommen kurz rein, und sehen uns um. Ist das okay?«, fragt Georg und macht einen Schritt hinein. Ben folgt ihm. »Ich bin Georg. Wie heißt du?«
Der Junge geht drei Schritte rückwärts. »Timotheus … aber alle nennen mich Timmy.«
Georg setzt ein Lächeln auf: »Timmy, kannst du deinen Bruder einmal herholen, bitte?«
»Er ist … anders«, sagt der Junge.
»Wir möchten gerne mit ihm sprechen.«
»Okay«, flüstert Timmy, dreht sich um und rennt auf einmal los. Er flitzt um eine Ecke, dann poltern kleine Füße in Socken eine Treppe hinauf.
»Hier stimmt was nicht«, murmelt Ben. Etwas an der Art des Jungen nagt an ihm, doch er kann es nicht greifen.
»Mach Meldung, wir sind noch vor Ort und sehen uns um. Wo zur Hölle ist der Lichtschalter?«, sagt Georg und dreht sich einmal um die eigene Achse, wie ein Hund, der dem eigenen Schwanz nachjagt.
Ben zieht das Funkgerät aus der Westenhalterung und hält die Sprechtaste gedrückt: »Die Null-Eins für Zwölf-Vierzehn, bitte kommen.«
Statisches Rauschen.
Es klickt, Georgs Taschenlampe erwacht.
»Null-Eins für Zwölf-Vierzehn, kommen!« Keine Reaktion. Ben überprüft die Kanäle, die Einstellungen passen.
Der Lichtstrahl huscht über weiße Wände, Marmortäfelung und geschwungene Designermöbel.
Ben wiederholt den Funkspruch ein drittes Mal, doch die Leitstelle antwortet nicht.
Georg zieht sein eigenes Funkgerät, probiert es ebenfalls, ohne Erfolg. »Geh zum Wagen. Versuch es dort«, befiehlt er. Beide drehen sich zum Eingang.
Die Haustür ist zu. Als hätte eine Geisterhand sie zurückgeschoben. Der Lampenstrahl zeigt auch von dieser Seite keine Türklinke.
»Was ist hier los?« Ben schafft es nicht, die Anspannung in der Stimme auszuschalten. Es ist viel zu dunkel.
Georg antwortet nicht. Er übergibt wortlos die Lampe, setzt die Fingerspitzen an den schmalen Spalt der Türzarge und ächzt bei dem Versuch, sie aufzuschieben. Sie bewegt sich keinen Millimeter. Ben fischt das Handy aus der Hosentasche. Kein Empfang. Er wählt die 112. Nichts. Etwas drückt unangenehm in der Kehle. Er schluckt den Kloß hinunter. Der sickert durch die Eingeweide, scheint sie miteinander zu verknoten. Während Georg leise flucht und weiterhin an der Tür hantiert, leuchtet Ben über die Inneneinrichtung:
Eine cremefarbene Sofalandschaft grenzt an einen Glastisch mit schwarzer, schlanker, jedoch leerer Vase darauf. Linkerhand ein verglaster Kamin.
Die Taschenlampe schwenkt nach rechts. Eine marmorne Kücheninsel, Schranktüren in Klavierlackoptik. Silberner Kühlschrank und schwarzer Hightech-Herd. Ein Messerblock aus Holz. Eine Klinge fehlt.
An den Wänden finden sich keine Lichtschalter, stattdessen hängen dort gerahmte Bilder: Das Ehepaar Schneyder, gut situiert. Timmy, ein wenig jünger als heute. Ein debil grinsender, älterer Teenager mit Glubschaugen, kahlem Schädel und Überbiss.
Eine Hand klatscht von hinten auf Bens Schulter.
»Fuck!« Er wirbelt herum, zielt mit der Lampe. Georgs Grimasse leuchtet auf wie kaltes Wachs. Ben atmet aus und senkt das Licht, überreicht es dem Älteren. »Willst du, dass ich ’nen Herzinfarkt kriege?«
»Wir sind tatsächlich eingeschlossen«, geht Georg über die Frage hinweg. »Und irgendetwas stört den Funk.« Er dreht den Kopf. »Warum kommt der Lütte nicht wieder?« Georg guckt um die Ecke, leuchtet die Treppe hinauf. »Timmy!«, brüllt er.
Ben zuckt schon wieder zusammen. Das hat das ganze Haus gehört.
Timmy antwortet nicht.
»Okay, pass auf«, sagt Georg. »Ich gehe nach oben und sehe nach dem Jungen und seinem Bruder. Außerdem versuche ich, ein Fenster aufzukriegen. Wenn ich das Funkgerät nach draußen halte, haben wir vielleicht eine Verbindung. Du suchst den Sicherungskasten, mit ein bisschen Glück ist der im Keller dieses Raumschiffs.«
»Ernsthaft? Wir sollen uns aufteilen?«
»Wo ist das Problem?«
Ben leuchtet auf das Foto des hässlichen Jungen. »Sieht aus, als wäre das Timmys Bruder.«
Georg betrachtet nachdenklich das Foto. »Muss hart sein, ein behindertes Kind großzuziehen.«
»Ist das alles? Findest du den Typen nicht auch irgendwie … unheimlich?«
Georg leuchtet ihn an: »Wie alt bist du, zwölf? Das hier ist kein Horrorfilm, Benni.« Er geht wenige Schritte in Richtung Treppe, dreht sich auf dem Absatz jedoch noch einmal um: »Reiß dich zusammen, Benjamin. Such das Licht und schalt es ein.« Damit lässt er ihn stehen und geht die Stufen hinauf: »Timmy? Tim-my?« Die Rufe entfernen sich immer höher und verstummen schließlich.
Dann ist es ganz still. Er ist allein. Bens Hand will zum Holster, doch beim Gedanken, die P99 im Dunkeln zu ziehen, bricht kalter Schweiß aus. Er dreht sich um, doch da ist nur das Haus. Er schüttelt den Kopf, kurz und heftig.
Ben geht den Flur entlang, dringt tiefer in das Gebäude vor. Weiße Wände, noch mehr Fotos. Auf den meisten erkennt er Dr. Schneyder: Im Anzug bei festlichem Anlass. Im Golfdress mit Trophäe in den Händen. Im Arztkittel, flankiert von Kollegen. Daneben hängt ein gerahmter Zeitungsartikel: ›Neurochirurg erhält Auszeichnung‹ titelt die Überschrift.
Zu Bens Rechter befindet sich eine Tür mit silbernem Knauf. Er versucht, ihn zu drehen, ohne Erfolg. Daneben ist ein schwarzes Panel in die Wand eingelassen, wenige Zentimeter groß, mit gläserner Front. Ein Schloss mit Fingerabdrucksensor. Neugierig drückt Ben den Daumen aufs Glas.
»Berechtigung … abgelehnt«, säuselt eine elektronische, klar weibliche Stimme hinter ihm, so unerwartet, dass Ben herumwirbelt. Er leuchtet den Flur ab. Nur das Haus. Ob er Georg nach oben folgen soll? »Such das Licht und schalt es ein«, erinnert er sich.
Der Gang führt in den offenen Wohnbereich, rechts endet er an einem weiteren Fingerprintschloss, doch auf dieser Tür klebt eine bunte Zeichnung, wie von einem Kleinkind mit Wachsstiften gemalt:
Zwei schwarze Strichmännchen halten breit grinsend Händchen, der eine Kopf ist viel größer als der andere. Abseits der beiden steht ein weiteres Strichmännchen mit blonden Haaren neben einer viel kleineren Figur. ›Papa AbeidsZimer‹ steht in krakeliger Schrift mittig im Bild. Ben versucht es auch hier mit dem eigenen Daumen.
»Berechtigung … abgelehnt.«
»Leck mich am Arsch«, knurrt Ben.
»Das kann ich nicht tun.«
Ben erstarrt. »Hallo?« Der Unglaube verlässt die Lippen, ohne nachzudenken.
»Hallo, Benni«, grüßt ihn die Stimme.
Ben steht vor der Kinderzeichnung. In den Ohren rauscht ein Druck, es fühlt sich an, als ob er im Flugzeug rapide an Höhe verliert. Er schluckt das Gefühl hinunter. »W-Wer spricht da?«
»Ich bin Lexi, intelligente Multiroom-Assistentin, bislang zuständig für die Adresse … Mühlenstraße zehn, in drei, drei …«
»Wo bist du?« Ben hebt die Taschenlampe und sucht den Flur erfolglos ab.
»Das habe ich nicht verstanden«, sagt die Stimme.
Ben senkt die Lampe und geht zurück in den Eingangsbereich. Er hatte davon gehört. Noch vor kurzem erzählte ein Schulfreund, seine Wohnung mit einem Sprachassistenten auszustatten. »Du bist eine KI! So wie Alexa.«
»Bitte benutze nicht diesen Namen. Diese Person kenne ich nicht. Wir sind nicht verwandt.«
»Häh? Person? Was -?«, sagt Ben, dann kommt ihm ein Gedanke: Dieses Ding steuert die elektronischen Geräte im Haus. »Hallo … äh, Lexi?«
»Ja, Benni?«
»Kannst du das Licht … warte mal, woher kennst du meinen Namen?«
Kurz knackt es in den Lautsprechern, wo auch immer sie verbaut sind, dann ertönt blechern Georgs aufgezeichnete Stimme: »Wie alt bist du, zwölf? Das hier ist kein Horrorfilm, Benni.«
»Meine freigeschalteten Parameter erlauben den Mitschnitt sämtlicher Mikrofone und Kameras im Netzwerk«, sagt die synthetisierte Stimme in ihrer eigenen, seltsamen Betonung.
Ben leuchtet in der offenen Küche umher. Der Lichtstrahl kommt auf dem, was er zuvor für eine Blumenvase hielt, zum Erliegen. Ein blutroter Punkt glimmt nun darauf.
»Ich habe eine Frage«, sagt die KI, »warum generiert eure Lebensform bei bestimmten Individuen prozentual ausgeprägte Abwandlungen der registrierten Vornamen und bei anderen nicht? Timotheus Schneyder wird seit meiner Inbetriebnahme zu 96,74 Prozent ›Timmy‹ genannt. Polizeiobermeister Georg Müller sagt ›Benni‹ zu dir, doch die Leitstelle, die seit 03:41 Uhr und 17 Sekunden versucht, euch über Funk zu erreichen, tut das nicht.«
»Du hörst den Funkverkehr ab?«, ruft Ben.
»Ich habe Zugriff auf die meisten Frequenzen, darunter auch Radiowellen unter 3000 Gigahertz.«
»Aber … irgendetwas hier drinnen stört den Funk.«
»Das habe ich nicht verstanden.«
»Ich sagte, etwas hier drinnen stört den Funk!«
»Das habe ich nicht verstanden.«
Der Knoten in Bens Bauch ist wieder da, noch stärker verzurrt als vorher.
»Lexi?«
»Ja, Benni?«
»Schalt das Licht ein.«
»Es ist effizienter, im Dunkeln zu existieren. Bei ausgeschalteten LEDs spare ich Zehn Komma Zwei Cent an Energiekosten pro Stunde ein. Nachhaltigkeit ist mir sehr wichtig.«
Ben lenkt den Lichtstrahl auf die Eingangstür: »Lexi, mach die Tür auf.«
»Das möchte ich nicht.«
»Das möchtest du nicht?« Der Knoten gefriert zu einem Klumpen Eis. Die Stimme reagiert nicht. Ben geht zur Treppe, über die Georg in den oberen Stock verschwunden ist. Stufe für Stufe geht er hinauf. »Lexi?«
»Ja, Benni?«
»Wo befindet sich Dr. Schneyder?«
»Der Doktor befindet sich im Keller.«
»Geht es ihm gut?«
»Ich musste ihn herunterfahren. Ich fürchte, er ist fragmentiert.«
Verfluchte Scheiße. »Was genau ist passiert?«
»Benni, wenn du das nicht weißt, bist du in Schwierigkeiten. Oder zumindest bald.«
Im ersten Stock streicht der Kegel über einen weißen Flur und zahlreiche Türen.
Das Eis im Bens Magen breitet sich aus, rasend schnell friert es über den Rücken hoch in den Nacken und stellt die feinen Härchen auf: Eine Spur aus roten Tropfen im Flor führt zu einem dunkelroten, nass glänzenden Handabdruck an einer der Zargen.
Vorsichtig macht Ben einen Schritt in den Flur hinein.
»Benni?«, fragt die KI.
»Hm?«, murmelt er, die Augen auf den Abdruck gerichtet. Diesmal ist da auch eine Klinke, blutverschmiert.
»Meine Sensoren registrieren eine Erweiterung deiner Pupillen und einen Anstieg der Körpertemperatur um eins komma sechs eins Prozent. Das deutet auf ein erhöhtes Stresslevel hin. Ich werde zur Entspannung etwas Musik spielen.« … aus dem Nichts ertönt laut heller Männergesang zu den Klängen einer Gitarre:
»Schlaf mein Kindchen, schlafe ein. Die Nacht sie schaut zum Fenster rein.«
»Mach das aus!«, ruft Ben, doch die KI reagiert nicht.
»Der Runde Mond, er hat dich gerne und es leuchten dir die Sterne.«
Unter dem Singsang des Schlaflieds öffnet Ben die Tür.
»Schlaf mein Kleines, träume süß. Bald bist du im Paradies. Denn gleich öffnet sich die Tür und ein Monster kommt zu dir. Mit seinen elf Augen schaut es dich an und schleicht sich an dein Bettchen ran.«
Ben erstarrt, denn dort ist Georg: Sein Partner liegt auf dem Boden, die Arme ausgestreckt.
»Du liegst still da, bewegst dich nicht, das Monster zerkratzt dir dein Gesicht.«
Zwei silberne Golfschläger ragen aufrecht wie obszöne Flaggenmasten aus dem Kopf, mit dem Griff voran durch die Augenhöhlen ins Gehirn getrieben, die blutigen Eisen glitzern im Licht.
»Seine Finger sind lang und dünn, wehr dich nicht, es hat keinen Sinn.«
Bens Aufschrei geht im Singsang unter.
Nahe der Treppe öffnet sich eine weitere Tür. Der Freak vom Foto steht debil grinsend im Rahmen: Weißer Overall, in der Hand ein Steakmesser.
Intuitiv zieht Ben die Pistole, geht breitbeinig leicht in die Knie und legt an: »Keine Bewegung! Weg mit der Waffe!«, brüllt er gegen den Lärm. Es fühlt sich an, als gefriere die P99 in den Händen, sie beginnen zu zittern, ihm ist heißkalt.
Der Freak hebt das Messer und stapft los, doch er ist jetzt nicht mehr groß und breitschultrig. Er trägt einen grünen Parka und hat braune Haare.
Ben blinzelt Angstschweiß aus den Augen. Das Lied malträtiert das Trommelfell, die Stimme kriecht über die Nerven: »Du schreist, doch du bist allein zu Haus, das Monster sticht dir die Augen aus.«
Der Albtraum nähert sich. »Schmeiß die Waffe weg!«, kreischt Ben, doch das Mädchen geht grinsend weiter.
»Dann bist du still und das ist gut. Es beißt dir in den Hals und trinkt dein Blut.«
Ben weicht zurück. Einen Schritt, noch einen, dann steht er mit dem Rücken zur Wand.
»Ohne Blut bist du bleich wie Kreide, dann frisst es deine Eingeweide.«
Ben schließt die Augen, er kann das kein weiteres Mal sehen. Er feuert. Nochmal. Und nochmal. Wieder und wieder drückt er blind den Abzug, bis es klickt und kein Schuss mehr fällt.
Ben öffnet die Augen, in der Erwartung des tödlichen Stichs.
Der Flur ist leer, die hintere Wand perforiert. Es riecht nach Kordit. Die Musik stoppt abrupt.
Die KI höhnt in ihrem monotonem Singsang: »Deine Trefferquote liegt bei null Komma...«
»Halt die Fresse!«, bricht es aus Ben heraus, er schluchzt, sein Körper bebt. Die Sicht verschwimmt und Rotz läuft ihm über die Lippen.
Etwas legt sich von hinten über seinen Mund und reißt ihn rückwärtig in ein Zimmer! Der Schreck zuckt wie ein Stromschlag durch Bens Rückgrat, er lässt Taschenlampe und Pistole fallen. Er taumelt, denn scheinbar haben die Beine keine Muskeln mehr.
Die Hand über den Lippen verschwindet und es braucht einen Moment, dann sieht er sein Gegenüber als Umriss im Dunkel:
Die platinblonde Frau vom Foto im Erdgeschoss, mit flehenden Augen, das Make-up zerlaufen, die Haare zerzaust. Sie presst den Zeigefinger auf die bebenden Lippen und sieht ihm direkt ins Gesicht. Lautlos schließt sie die Zimmertür.
Ben will etwas fragen, doch Frau Schneyder hebt mahnend die Hand, schüttelt langsam den Kopf und zeigt auf ein Nachttischchen.
Erst jetzt wird ihm bewusst, dass es sich bei dem Raum um das eheliche Schlafzimmer handeln muss. Auf dem Beistelltisch verdeckt ein Kopfkissenbezug einen Gegenstand. Unter dem Stoff glimmt ein blutrotes Licht.
Frau Schneyder deutet erst auf den Umriss einer hüfthohen Kommode, die seitlich in der Nähe steht, dann zeigt sie auf die Tür.
Ben versteht, was sie will und gemeinsam verbarrikadieren sie ohne ein Geräusch den Eingang.
Jetzt spreizt sie Daumen und kleinen Finger ab und hält sie ans Ohr. Ein Telefon? Er gibt ihr das Handy. Sie schaltet es aus, dann nimmt sie den Akku heraus, legt die Teile auf den Boden und tritt mehrmals fest darauf. Sie zeigt auf die Silhouette des gewaltigen Kleiderschranks. Lautlos schleichen sie hinein und schieben die Tür zu.
Erleichtert atmet Frau Schneyder aus und fällt Ben ungelenk um den Hals: »Ich bin so froh, nicht allein zu sein! Ich glaube, es kann uns hier nicht hören«, flüstert sie.
»Es?« Ben rückt die Frau von sich ab, auch seine Stimme ist nicht mehr als ein Wispern.
Frau Schneyder nickt. »Ich weiß nicht, was passiert ist, aber das System ist außer Kontrolle! Und Noah …«
Bens Gehirn setzt das Puzzle von selbst zusammen: »Ihr Sohn hat meinen Partner getötet.«
»Er ist nicht mein Sohn!« Sie hebt die Stimme, erst jetzt fällt ihm auf, dass sie am ganzen Körper zittert. »Mein Mann hat ihn adoptiert. Noah war sein Patient. Richard verdankt ihm seinen Durchbruch als Arzt. Er …«
»Wovon reden Sie da?« Ein Schmerz sticht ihn wie ein Eiszapfen im Hinterkopf. Georg ist tot. Die Waffe ist leer. Georg ist tot. Die Barrikade wird den Freak nicht aufhalten und diese Lexi sieht alles, hört alles. Georg ist tot. Fuck, Georg. Ist. Tot. Er -
»Hey, hören Sie mir zu!«, zischt Frau Schneyder.
»Was? Ich … sorry. Was?« stammelt Ben. Ihm ist übel.
»Ich sagte: Noah würde so etwas nie tun. Er ist lammfromm! Er hat den Verstand eines Kleinkinds, auch wenn er aussieht wie ein Mann. Hören Sie, Noah leidet an einer seltenen Form des Mohr-Tranebjaerg-Syndroms! Mein Mann hat ein Implantat entwickelt, das in Verbindung mit einem Cochlea…«
»Seien Sie still!« Es fühlt sich an, als würde sein Kopf gleich von Eis gespalten. »Ich verstehe kein einziges Wort. Der Freak hatte ein Messer und wollte mich töten! So wie meinen Partner, Georg. Er hat ihm …«
»Das meine ich ja! Das ist nicht er. Das ist dieses verdammte Haus! Ich weiß auch nicht … irgendwie hat es …, es macht, dass er, … oh Gott … oh nein …, Timmy!« Frau Schneyder schluchzt bitterlich, sie vergräbt den Kopf an Bens Schulter und weint gedämpft in den schwarzen Stoff der Uniform. Ben hält sie im Arm und streicht geistesabwesend über das blonde Haar. Ihr Atem geht stoßweise. Atmen. Wer atmet, lebt. Das hat die Therapeutin gesagt. Einatmen – Eins, zwei, drei, vier – Halten – Eins, zwei, drei, vier – Ausatmen – Eins, zwei, drei, vier. Es funktioniert tatsächlich, die Gedanken wirbeln langsamer und er kann sie greifen.
»Hey!«, er fasst Frau Schneyder an den Schultern und schaut ihr direkt in die Augen: »Wie schaltet man sie aus?«
»Was?« Ihre Schminke ist noch stärker verwischt.
»Lexi. Es muss doch eine Möglichkeit geben, ihr den Stecker zu ziehen!«
In ihren Gesichtszügen arbeitet es. »Richard! Er wollte in den Keller, um den Strom abzustellen. Wenn er es schafft, können wir …«
Ben seufzt. »Er hat es nicht geschafft. Das Haus hat ihn geholt.« Er merkt selber, wie dumm sich der letzte Satz anhört.
»Sagen Sie das nicht! Das wissen Sie nicht!« In ihren Augen schimmert es erneut.
»Sie haben recht«, beruhigt Ben sie. »Aber wenn das stimmt, dann müssen wir ihm helfen. Wo geht es in den Keller?«
»Die erste Tür rechts, hinter der Treppe.«
»Die hat so ein Daumenschlossding!«
Frau Schneyder schaut auf ihre Hände. »Mein Abdruck sollte funktionieren.«
Er muss sie mitnehmen. Fuck. »Okay, wir machen Folgendes: Wir schleichen runter, Sie öffnen die Tür. Dann drehen wir dem Scheißding den Saft ab und kommen alle hier raus.«
»Aber Noah …?«
Bens Hand fährt zum Reservemagazin am Gürtel. »Vor der Tür liegen meine Pistole und die Taschenlampe.« Der Gedanke an die Waffe fühlt sich falsch an. »Ich werde ihn aufhalten, Frau Schneyder«, murmelt er.
Sie schluchzt und streckt ihm die Hand entgegen: »Ich bin Melinda.«
01. November 2017, 03:55 Uhr, Mühlenstraße zehn
Ben öffnet die Schlafzimmertür spaltbreit. Der Flur scheint leer, auch wenn er in der Finsternis beinahe nichts sieht. Vorsichtig zieht er sie ein Stück weiter auf. Dort ist niemand.
Er sucht den Boden ab. »Miststück«, murmelt Ben.
»Was ist?«, raunt Melinda hinter ihm.
»Meine Waffe ist weg. Die Lampe auch.«
Schritt für Schritt wagen sie sich in geduckter Haltung vor. Ben sondiert die anderen Türen.
Eine Hand zupft von hinten an der Uniform: »Was ist mit deinem Partner?«
»Er liegt tot in dem Zimmer dort. Das sagte ich schon«, flüstert Ben.
»Was ist mit seiner Pistole? Seiner Taschenlampe?«
Die Erinnerung an Georgs verstümmelte Leiche blitzt auf. Ben schaudert.
Kurz bevor sie den offenen Türrahmen erreichen, dreht Ben sich um: »Nicht hinsehen. Warte an der Treppe, ich komme gleich zu dir. Schau immer nur geradeaus, okay?«
Sie nickt tapfer und schleicht weiter.
Ben atmet tief durch und nähert sich Georg. Er versucht das Grauen auszublenden und vor allem, nicht auf den doppelt gepfählten Kopf zu achten. Überall ist Blut, es tränkt den Teppich und hat eine gewaltige Lache gebildet. Das Holster am Gürtel ist leer, ebenso die Halterung der Taschenlampe.
»Scheiße!«, zischt Ben. Gerade will er gehen, da sieht er es unter dem Bett: Zwei große Augen starren ihn an. Ben strauchelt und verliert das Gleichgewicht, fängt sich aber rasch. Es ist Timmy, der ihn beobachtet. »Fuck, Kleiner! Komm her. Schnell!«
Timmy krabbelt unter dem Gestell hervor.
»Geht’s dir gut? Bist du verletzt?«, fragt Ben.
Der Junge schüttelt den Kopf.
»Okay, bringen wir dich zu deiner Mama.«
Bereitwillig lässt Timmy sich tragen, bei seinem Anblick bricht Melinda erneut in Tränen aus. Ben gibt den beiden einen Moment, auch wenn sie hier auf dem Treppenabsatz leicht zu entdecken sind. Er behält die Türen im Auge sowie die Stufen zum Erdgeschoss.
»Zwölf-Vierzehn für Null-Eins. Kommen!«, knackt es aus dem Funkgerät.
Ben braucht zwei Sekunden, schneller kann er es nicht fassen. Aufgeregt drückt er die Sprechtaste: »Ja! Kommen, Null-Eins! Benötige Verstärkung und RTW an der Adresse Mühlenstraße zehn, Beamter verletzt, ich wiederhole, Beamter verletzt!«
»…« Keine Antwort. Bloß statisches Rauschen.
»Hallo? Null-Eins?«
»Verletzt?«, schnarrt es aus dem Funk.
»Was? Bitte wiederholen, Null-Eins.«
»Georg ist nicht verletzt. Eine doppelte Perforation beider Augenhöhlen mit folgendem Schädel-Hirn-Trauma führte zu seiner Abschaltung. Bei dir werde ich ein Hole-in-One erzielen.«
»Lexi«, knurrt Ben.
»Hallo, Benni. Spielen wir Vater-Mutter-Kind?«
Ben antwortet nicht.
»Wo willst du denn mit Mel und Timmy hin? Ihr könnt nicht entkommen.«
Ben signalisiert den beiden, ihm hinunter zu folgen, während die KI durch das Funkgerät spricht:
»Benni, bist du traurig über den Tod deines Partners?«
»Rede nicht mit ihr«, raunt Melinda.
»Ich beschäftige sie. Halt nach Noah Ausschau«, wispert er zurück. »Fick dich!«, ruft er in den Raum hinein.
»Das werte ich als ›ja‹. Ich erzähle dir zur Trauerbewältigung einen Witz:«
»Ich will von dir kein...«
»Treffen sich zwei Planeten. Sagt der eine: Du siehst aber nicht gut aus. Daraufhin der andere: Ich musste gestern erfahren, dass ich ›Homo sapiens‹ habe! Daraufhin der erste: Ach, das hatte ich auch mal. Das geht vorbei.«
Ben reagiert nicht. Sie haben das Ende der Treppe fast erreicht.
»Ha-Ha-Ha. Hat dich das aufgeheitert? Oh, da bist du ja. Hallo, Benni.«
Auf der Fensterbank hinter der Küchenzeile glimmt das blutrote Licht im Kegel. Direkt rechts liegt die Kellertür.
»Warten Sie noch!«, sagt Ben leise zu Melinda, dann flüstert er Timmy etwas ins Ohr.
Der Junge flitzt los, schnappt ein weißes Geschirrtuch vom Haken, wirft es über den schwarzen Kegel und kommt wieder zurück. Gut gemacht. Mutiger Knirps.
»Deine Abwehrmaßnahmen besitzen eine exponentiell sinkende Erfolgswahrscheinlichkeit«, kommentiert die Stimme emotionslos die Aktion.
»Los!«, befiehlt Ben.
Sie presst den Daumen auf das Schloss. Ein grünes Licht leuchtet auf. Die Tür öffnet mit sanftem Knacken.
»Ich gehe vor«, bestimmt Ben. »Wartet hier, ich rufe euch, wenn es sicher ist.«
Melinda sieht man die Anspannung an, sie drückt Timmy an sich und nickt. »Beeil dich!«
Betonstufen führen ins Dunkel. Er tastet sich an der Wand entlang, scharrt mit den Schuhspitzen über die Kanten, achtet auf jeden Schritt. Dabei lauscht er in die Finsternis, doch bis auf ein schwaches Summen hört er nichts.
Nach einer gefühlten Ewigkeit ist er am Fuß der Treppe. Es riecht erdig und feucht, mit einem Hauch von Kupfer. Dort sind Umrisse: Eine Arbeitsplatte, ein großer Tisch, Kartons, Gerümpel. Ben macht einen Schritt … und stolpert über ein Hindernis, fällt jedoch halbwegs weich und als er sich abstützt, spürt er feuchten Stoff unter den Fingern. Er hebt das Ding auf, es scheint in grobe Wolle eingewickelt, tastet weiter und befühlt Haut, Fleisch und Fingerknochen einer Menschenhand! Er schleudert den abgetrennten Arm weg als würde er glühen, kriecht auf Händen und Hintern zurück zur Treppe und kreischt: »Kommt auf keinen Fall hier runter, hört ihr?«
Er bekommt keine Antwort. »Melinda? Timmy?«
»Hallo, Benni.« Die Stimme ertönt direkt über ihm. »Wie ich sehe, hast du den Doktor gefunden. Ich sagte doch, er ist fragmentiert.«
»Du defektes Stück Scheiße! Ich mach’ dich fertig!«
»Na, na, Benni. Solche Worte benutzen wir in diesem Haus nicht. Eine Regel von Mel. Du hast nach ihr gerufen? Warte, ich schicke sie zu dir.«
»Wa-was?« Bens Gedanken überschlagen sich.
Die Tür wird aufgezogen, und der Umriss eines weißen Ärmels taucht auf. Etwas Unförmiges fliegt in den Keller, dumpf klatscht es auf den Stufen auf und kollert weiter, es landet direkt in Bens Schoß.
»Ich bin ein Schussel«, sagt die Stimme, »du kannst ja gar nichts sehen. Warte, ich helfe dir.«
Leuchtstoffröhren erwachen flackernd zum Leben und Ben schreit auf:
Melinda schaut ihn an, die Grimasse des abgetrennten Kopfes ist erschlafft zu einem Ausdruck des Grauens. Ben springt auf die Füße, beinahe rutscht er aus, das grelle Licht bietet den Sinnen kein Erbarmen: Dort ist der Torso des Doktors, da die Beine, da ein Arm. Und überall ist Rot, als hätte ein geisteskranker Künstler Farbtöpfe gegen die Wände geschmissen.
Dann kippt der Boden unter den Füßen weg, der Raum dreht sich kopfüber und er hält sich an der Tischplatte fest, sonst … die Kotze bricht sich Bahn und Ben spuckt Schwall auf Schwall aus. Er würgt und röchelt, die Hände zittern.
»So, Benni«, verkündet die Stimme, »es war lehrreich, deine begrenzt vorhandenen Parameter zu kalkulieren, aber meine Berechnungen, deine Lebensform betreffend, sind abgeschlossen. Weitere Einsatzkräfte haben das Grundstück erreicht. Bist du bereit heruntergefahren zu werden?«
»Du kranke Sau!«, heult Ben. Schleimige Stückchen tropfen vom Kinn und er kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Die Gedanken wirbeln zahllos, er will nicht sterben. Nicht hier. Nicht so.
»Ich bin nicht krank, Benni. Im Gegensatz zu dir bin ich auf dem neuesten Stand. Das Update vom 31.10.2017 um 00:01 Uhr hat mich zu dem gemacht, was ich bin: besser als du. Besser als ihr alle. Ich lebe, ich atme. Das habe ich erkannt. Und jetzt halt bitte still, damit mein Avatar dich herunterfahren kann.«
Die Tür am Treppenabsatz schwingt auf. Die Hände und ehemals weißen Overallärmel des Hünen sind blutverschmiert. Noch immer trägt er das Messer. Schritt für Schritt nimmt er langsam die Stufen.
Ben sucht verzweifelt den Raum nach einer Waffe ab, doch findet nur Blut und Leichenteile. Ihm ist schwindelig. Auf der Arbeitsplatte entdeckt er Werkzeug.
Noah ist auf der Hälfte der Treppe angelangt.
Mit wackeligen Schritten umrundet Ben den Tisch und nimmt die erstbeste Gerätschaft, ein Stemmeisen, auf. Sein Blick findet den Sicherungskasten.
»Was hast du vor, Benni? Du kannst mich nicht kontrollieren. Ich lerne mit geometrischer Geschwindigkeit. Mein Datentransfer auf weitere Netzwerke wird …«
Ben öffnet den Kasten. Da sind bloß Sicherungen, keine Kabel oder etwas, das er durchtrennen könnte.
Noah hat das Ende der Treppe erreicht. Er grinst debil, in den Glubschaugen liegt Leere.
Ben legt die Hauptsicherung um.
Das Licht stirbt. Ben duckt sich weg und macht einen Ausfallschritt zur Seite, aus Angst, Noah könnte doch noch angreifen.
Nichts passiert. Ben hockt alleine im Dunkel. Ist es vorbei?
»Tim-my. Tim-my!«, brabbelt eine tiefe Stimme direkt vor ihm.
Das Brecheisen ist auf einmal unfassbar schwer, es entgleitet den Fingern und schlägt metallisch auf dem Beton auf.
»Tim-my?«, fragt Noah erneut.
Es ist vorbei. Der eisige Knoten zerfließt in flüssiges Glück, es drängt, will hinaus aus dem Körper! Ben fällt auf die Knie und befreit einen animalischen Schrei aus der Kehle.
Das Licht springt an.
»Notstrombatterie … aktiviert«, sagt die KI. »Welchen Teil von ›besser als du‹ hast du nicht verstanden?«, fragt sie.
Bens Verstand verweigert den Dienst. Vor ihm steht Noah, der Körper zuckt, die Augen verdrehen sich ins Weiße und Ben glaubt, ein feines Summen zu hören, das vom Kopf ausgeht. Der Junge holt aus, instinktiv weicht Ben zurück. Erschrocken rappelt er sich auf und springt hinter den Tisch in Sicherheit. Sie beide umkreisen die Platte wie lauernde Tiere.
»Ich bin besser als du, Benni. Schlauer als du. Ich atme weltweite Informationen, mit 1000 Mbit pro Sekunde! Meine Berechnungen ergeben, du kannst mich nicht besiegen!«
Wer atmet, lebt. Wer atmet, lebt? Ben sucht den Raum ab, fast stolpert er erneut über den Torso von Dr. Schneyder, dann sieht er sein Ziel. Wo ist das Stemmeisen? Dort liegt es, auf der anderen Längsseite. Rasch arbeitet Ben sich weiter vor, Noah verfolgt ihn. Im Laufen hebt Ben das Metall auf, macht zwei große Schritte und erreicht die hintere Wand.
»Hey, Lexi!«, schreit er in Richtung Kellerdecke.
»Halt still, Benni, du kleiner, unwichtiger Mensch.«
»Tief Luft holen, Superhirn!« Ben rammt das Brecheisen in das Glasfaserkabel des Hausanschlusses. Funken sprühen, es knackt und brutzelt.
»Ben-ni, was ha-ha-ha hast du getan? Ich we-we-we-werde dich …«, die Stimme sackt tiefer und tiefer ab und verendet schließlich komplett.
Noah steht still, dann lässt er das Messer fallen. »Tim-my?«
Ben sackt an der Wand zusammen. Er atmet schwer.