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Das Haus am Highway

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08.07.2012
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Das Haus am Highway

Carter schwang das Bein über die Kruppe seines Mustangs und ließ sich vom Rücken des Pferdes gleiten. Er ging ein paar Schritte auf den Abgrund zu und betrachtete die unter ihm liegende Ebene. Im Westen berührte die Sonne bereits den Horizont. Ihr rötliches Licht warf lange Schatten über das Land.
Carter drehte sich um, trat an die Seite seines Pferdes und strich über den Hals des Rappen. Er öffnete eine der Satteltaschen, entnahm ihr einen Feldstecher. Wieder der Ebene zugewandt, hob er das Glas vor die Augen. Der Mustang schnaubte leise. Carter fokussierte die Schärfe des Glases, das Fadenkreuz des Okulars folgte dem schnurgeraden Verlauf eines früheren Highways, der jetzt nur noch ein Streifen zerbröckelnden Asphalts inmitten der Einöde war. Carter bemerkte die dunkle Linie eines ehemaligen Teerweges, der rechtwinklig von der Fernstraße abzweigte. Wie ein Riss in der Haut der Erde, zog sich der dunkle Saum einige Kilometer durch die ausgeblichene, verdorrte Landschaft und endete schließlich vor einem runtergekommenen Farmhaus. Carter betrachtete das Haus eine Weile, dann ließ er das Glas sinken und starrte in die Weite des staubigen Landes unter ihm.
Im letzten Licht des Tages lag Carter auf dem harten Boden des Hochplateaus. Er schaute durch die Zieloptik seines Sturmgewehrs und verfolgte das Treiben einer Familie von Präriehunden. Die Erdhörnchen huschten zwischen den Eingängen ihrer unterirdischen Höhlen hin und her. Als sich eines der Tiere auf die Hinterpfoten stellte und aufrichtete, um die Umgebung nach Feinden abzusuchen, nahm Carter es ins Visier. Einen Moment lang verharrte das Fadenkreuz über der hellen Brust des Erdhörnchens, dann jagte der trockene Knall der schallgedämpften Waffe über das flache Land. Der kleine Nager wirbelte durch die Luft und blieb bewegungslos liegen. Die anderen Präriehunde schossen in ihre Baue. Carter sicherte das Gewehr, erhob sich und klopfte die graue Erde von seiner Kleidung. Er schulterte die Waffe, machte einen Schritt zur Seite und bückte sich, um die verschossene Hülse aufzulesen.
Bald darauf stand über ihm schwarz der Nachthimmel, und in der Schwärze, wie hingesprüht - tausende von Sternen. Carter saß am Feuer. Er starrte in die Flammen, lauschte dem Flügelschlag der Nachtschwalben, die in der Dunkelheit über seinem Kopf dahin rauschten. In der Hand hielt er eine Blechtasse, der Geruch brennender Zedernscheite hing in der Luft. Er trank einen Schluck, sein Blick fiel auf die winzigen Knochen des erbeuteten Präriehundes, die er während des Essens ins Feuer geworfen hatte. Blank, bleich und glänzend lagen sie in der Glut. Es knackte, als die Hitze sie zerspringen ließ.


Am nächsten Morgen näherte sich Carter dem Haus von Osten her. Der von den Hufen des Mustangs aufgewirbelte Staub verlor sich unter dem Kobaltblau des weitgedehnten Himmels. Im Flimmern der aufgehenden Sonne war der Reiter kaum auszumachen. Etwa einhundert Meter von dem Gebäude entfernt, saß er ab, zog das Gewehr aus dem Futteral, das seitlich am Sattel hing. Er klappte die Abdeckung der Zieloptik weg, ging in die Hocke und visierte hinüber zum Farmhaus. Dort regte sich nichts. Carter erhob sich, blickte sich nach allen Seiten um und ging langsam auf das Haus zu. Etwa zwanzig Schritte von der Porch entfernt, brachte er das Gewehr in Anschlag, hielt inne und lauschte.
In diesem Moment krachte ein Schuss, ein Fenster zersprang. Carter stürmte los, sprang über die Stufen der Veranda und trat gegen die Tür, stürzte mit ihr ins Innere. Er hörte einen Schrei, riss die Waffe hoch und blickte in das bleiche Gesicht eines Jungen, der einen .357er Revolver auf ihn richtete. Zwei Schritte von ihm entfernt hockte ein Mädchen in der Ecke des Raumes.
»Bitte nicht«, stieß die Kleine hervor. Auch in ihren Augen flackerte die Angst, sie zitterte, und Carter sah, dass sie hochschwanger war.
Carter fixierte den Jungen.
»Waffe runter«, sagte er.
»Oder was?«, gab der Junge zurück.
»Letzte Chance«, sagte Carter.
»Paul«, sagte das Mädchen. »Bitte.«
Der Junge presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Es sah aus, als würde er jeden Moment losheulen.
Carters Finger legte sich gegen den Abzug.
»Bitte, Paul«, rief das Mädchen. »Tu, was er sagt.«
Der Junge senkte die Waffe, legte sie auf den Boden.
»Schieb sie zu mir rüber«, sagte Carter.


»Mein Name ist Clara.« Das Mädchen deutete auf den Jungen. »Paul ist mein Bruder.«
Carter klappte die Trommel des Revolvers heraus, ließ zwei leere Hülsen und zwei Patronen in seine Handfläche fallen. Er steckte die Waffe hinter dem Rücken in den Gürtel.
»Er hat nicht auf Sie gezielt«, sagte das Mädchen mit zitternder Stimme. »Wollte Sie nur verjagen.«
»Lebt ihr allein in diesem Haus?«
Die Geschwister warfen sich einen Blick zu. »Ja«, sagte Clara dann. »Unsere Eltern sind nicht hier.«
Carter betrachtete die beiden, ein Moment der Stille trat ein, nur das Holz des verfallenen Hauses knarrte leise.
»Also gut«, sagte Carter schließlich. »Dein Bruder und ich gehen raus. Wir schauen uns ein wenig um. Könnte sein, dass jemand den Schuss gehört hat.«
Clara nickte, doch ihr Bruder schob trotzig die Unterlippe vor und schwieg.
»Habt ihr Kaffee oder Tee? Ja? Dann setz Wasser auf. Wir sind nicht lange weg.« Mit einer Bewegung des Kinns forderte Carter den Jungen auf, zur Tür zu gehen.
»Paul«, sagte Clara. Widerstrebend gehorchte er.


»Eure Eltern sind tot?«, sagte Carter. Der Junge trottete neben ihm her, antwortete nicht.
Carter blieb stehen und pfiff leise durch die Zähne. Kurz darauf näherte sich der Mustang in lockerem Trab. Der Junge betrachtete staunend das Pferd. Sie umrundeten das Haus. Carter blieb einige Male stehen und suchte mit dem Fernglas das flache Gelände ab.
»Dein Vater war Fan der Arizona Cardinals
Der Junge griff an den Schirm seines Basecaps und sah ihn überrascht an.
»Die ist dir ‘ne Nummer zu groß«, sagte Carter.
Sie kehrten zur Porch zurück, Carter löste den Sattel und legte ihn über das Verandageländer.
Kurz darauf saßen sie in der Küche des Hauses am Tisch und tranken Kaffee.
»Wir haben noch eine ganze Menge Lebensmittel im Keller versteckt«, sagte Clara. »Wenn Sie wollen, bleiben Sie ein paar Tage.«
Carter schwieg.
»Wir haben auch einen Brunnen, aber die Pumpe ist kaputt. Paul holt jeden Tag Wasser von einem kleinen Bach, der …«
Carter schüttelte den Kopf. »Du solltest mir diese Dinge nicht sagen.«
Clara setzte zu einer Erwiderung an, doch dann schwieg sie.
»Es gibt Männer, die töten dich für einen Apfel«, fuhr Carter fort.
»Das weiß ich«, sagte Clara. »Ich weiß das. Aber Sie nicht. Sie töten uns nicht.«
Carter sah von seinem Kaffee auf und blickte dem Mädchen in die Augen. Eine Weile sagte niemand ein Wort.
Mit einer Geste, die auf Claras Bauch deutete, sagte Carter: »Das ist ein Problem. Verstehst du das?«
Das Mädchen schluckte. Ein feuchter Glanz trat in Claras Augen, sie wischte mit dem Ärmel über ihr Gesicht.
»Ist mir klar«, sagte sie.
»Was willst du tun, wenn es soweit ist?«
»Mir fällt schon was ein«, erwiderte das Mädchen.
Carter nickte.
»Werden Sie uns helfen?«, sagte der Junge.
Carter stellte den Kaffeebecher auf den Tisch.
»Ich sehe mir nachher die Pumpe an«, sagte er. »Morgen reite ich weiter.«


Als Carter an diesem Abend die Küche betrat, duftete es nach Bratkartoffeln. Clara hatte den Tisch gedeckt.
»Es gibt Kartoffeln, Erbsen und Speck«, sagte sie. »Leider alles Konserven, aber …«
Carter nickte und setzte sich. Der Junge nahm neben ihm Platz.
Während Carter eine Dose Bier öffnete, die Clara neben seinen Teller gestellt hatte, bemerkte er, dass die Geschwister ihn erwartungsvoll anblickten.
»Würden Sie das Tischgebet sprechen?«, sagte Clara.
Carter stellte die Dose ab. »Das ist nicht euer Ernst.«
Der Junge lächelte scheu. Clara sagte nichts.
»Habt ihr das früher gemacht? Mit euren Eltern?«
Clara schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe es in einem Film gesehen. Als ich klein war.«
Carter griff nach der Dose und trank.
»Wir haben erst damit begonnen, als meine Eltern fort waren«, sagte Clara. »Ich fand, dass es eine gute Idee ist.«
»Gott zu danken, meinst du?«
»Einfach einen Moment lang daran denken, dass wir …«
Carter wartete.
» … naja, dass wir uns noch haben«, sagte Clara schließlich.
Carter öffnete den Mund, doch dann schwieg er.
»Okay«, sagte Clara und schaute ihren Bruder an. »So wie immer, Paul.« Und die Geschwister sprachen ein sonderbares Tischgebet. Es war nicht mehr, als kindliches Gebrabbel. Carter verstand nicht alles, was sie nuschelten. Er trank und beobachtete die beiden düster über seine Bierdose hinweg.
Nach dem Essen sagte Carter an Clara gerichtet: »Die Pumpe funktioniert wieder. Ich habe deinem Bruder gezeigt, wie er sie warten muss.«
Das Mädchen nickte. »Sie brechen also morgen früh auf?«
»Ja«, sagte Carter.
»Und warum?«, fragte der Junge. Clara starrte auf die Tischplatte. Sie hatte eine Kerze herbeigeholt und entzündet, und nun beleuchtete die Flamme ihre Gesichter.
»Ich bleibe nie an einem Ort«, sagte Carter.
»Auch nicht für ein paar Tage?«, fragte der Junge.
Carter schüttelte den Kopf. »In Bewegung zu bleiben, ist die einzige Möglichkeit, wenn man überleben will.«
»Wir überleben hier schon seit einem Jahr«, sagte der Junge.
»Weil ihr einen Keller voller Konserven habt«, erwiderte Carter. »Und weil hier nur selten Leute vorbeikommen.«
»Manchmal sind schon Leute vorbeigekommen«, sagte Clara leise.
Carter blickte sie an, und für einen Moment streifte sein Blick ihren Bauch. Clara schaute ihm in die Augen.
»Wir teilen unsere Vorräte mit Ihnen«, sagte der Junge.
Carter blickte von einem zum anderen, dann sagte er: »Ihr habt keine Ahnung, was da draußen los ist. Diese Welt ist …«
Die beiden sahen Carter an.
»Sie ist ein Schlachthof«, sagte er. »Wenn ihr hierbleibt, werden sie irgendwann kommen. Sie werden euch vergewaltigen und töten. Sie werden eure Lebensmittel nehmen, euer Haus in Brand stecken. Das wird passieren.«
Der Junge schluchzte auf. »Aber Sie können uns beschützen.«
Lange Zeit sagte niemand etwas.
Schließlich flüsterte Clara: »In einer Welt, in der manche für einen Apfel töten, reiten Sie auf einem Pferd durch die Gegend.«
»Und?«
»Sie wissen, wie man das macht«, sagte Clara jetzt etwas lauter.
»Wie man was macht?«
»Wie man sich verteidigt.«
Carter erhob sich. »Sagte ich bereits. In Bewegung bleiben. Kein Ziel bieten. Schnell unterwegs sein.«
»Dann kommen wir mit Ihnen«, sagte der Junge.
Carter schwieg.
Auch Clara stand auf. »Vielen Dank, dass Sie die Pumpe repariert haben«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ich hole ein paar Konserven für Sie aus dem Keller.«
Carter nickte. Er legte den .357er Revolver auf den Tisch und die beiden Patronen und die leeren Hülsen. »Ich breche morgen sehr früh auf. Werde euch nicht wecken.«


Es waren zwei oder drei Tage vergangen, als Carter die Ruine eines Motels erreichte. Die Westwand des Pale Tree Inn war eingestürzt. Das Dach hing schräg über der Terrasse, der gesamte Bau neigte sich dem staubigen Erdboden entgegen. Carter ließ den Blick über die beiden anderen Gebäude schweifen, eine Petrol Station mit abmontierten Zapfsäulen und eine verfallene Bretterbude, die einmal ein Geschäft für Lebensmittel und Ausrüstung aller Art war, wie man dem Schild über der Eingangstür entnehmen konnte.
Carter schnalzte mit der Zunge und der Mustang trabte schnaubend an, doch kurz darauf brachte er das Pferd wieder zum Stehen. Über die zuckenden Ohren seines Rappen hinweg betrachtete er die verdorrte Leiche eines Mannes, die kopfunter vom Pfosten einer Werbetafel hing. Eine Krähe kletterte flatternd auf den freigelegten Rippenbögen umher und pickte in der Bauchhöhle des Toten. Jemand hatte dem Mann Zimmermannsnägel durch die Knöchel geschlagen und ihn an den Fersen aufgehängt.
Carter stieg ab, durchstöberte die Gebäude, doch er fand nichts, das wertvoll oder nützlich gewesen wäre. Ohne zurückzublicken, ließ er den Ort hinter sich.


Mehrere Tage lang durchstreifte Carter die Gegend. Eines Abends passierte er einen Canyon, der dicht mit Mesquite und Wachholdersträuchern bewachsen war. Ein würziger Duft lag in der Luft. Das Klappern der Pferdehufe hallte von den Wänden der Schlucht wider.
Als er die Mitte der Canyons erreicht hatte, warf der Mustang nervös den Kopf zurück, und in diesem Moment brach eine Gestalt aus dem Dickicht zu seiner Linken. Der Fremde packte Carters Bein und versuchte, ihn aus dem Sattel zu reißen. Carter schlug mit der Faust zu. Er traf die Stirn des Mannes, zog den Stiefel aus dem Steigbügel und versetzte ihm einen Tritt gegen die Brust. Der Mann drehte sich um und rannte davon, ein zweiter Angreifer stürmte von rechts aus dem Gesträuch und ergriff das Zaumzeug des Rappen. Der Mustang stieg in die Höhe, Carter rutschte seitlich herunter und schlug hart auf den steinigen Untergrund. Das Pferd riss sich los, bleckte das Gebiss, wieherte, drehte sich im Kreis und keilte mehrmals kräftig aus. Ein Tritt zertrümmerte dem Angreifer die Hüfte. Er wurde zu Boden geschleudert, und noch ehe er wieder auf die Füße kam, war Carter über ihm.
Carter zog sein Jagdmesser aus dem Gürtelholster, er packte den Mann von hinten, riss den Kopf an den Haaren zurück und durchtrennte die Kehle mit einem einzigen Schnitt. Das Blut spritzte in Stößen hervor, der Fremde röchelte und griff sich an den Hals. Carters Blick fiel auf die Mütze, die ihm vom Kopf gerutscht war – ein Basecap der Arizona Cardinals.
Mit einem Ruck drehte sich Carter nach dem anderen Mann um. Der rannte in vollem Spurt davon, schon hatte er sich fünfzig oder sechzig Meter weit entfernt. Carter zog das Gewehr aus dem Futteral, ging in die Hocke und öffnete das Visier. Fadenkreuz und Strichplatte tanzten wie wild auf und ab. Carter zwang sich, ruhig zu atmen. Er entsicherte, zielte, schoss. Die erste Kugel verfehlte den Flüchtenden. Carter sah, wie Erde in die Höhe spritzte. Der zweite Schuss traf. Die Kugel zerfetzte den Unterschenkel des Mannes und er stürzte. Carter rannte los.
»Ein Farmhaus am Highway«, sagte er zu dem Fremden und richtete das Gewehr auf ihn, »nicht weit vom Pale Tree Inn entfernt. Seid ihr dort gewesen?«
Der Mann hielt seinen Unterschenkel umklammert. Blut lief unter den Händen hervor. Trotz seiner Schmerzen grinste er.
»Sind bei vielen Farmhäusern vorbeigekommen«, sagte er.
»Da waren zwei Kinder, Junge und Mädchen. Geschwister.«
Der Mann entblößte seine verfaulten Zähne. »Ach, dieses Farmhaus …«
Carter versetzte ihm einen Tritt. »Was habt ihr mit ihnen gemacht?«
Der Mann spuckte aus. »Fick dich.«
»Du weißt, dass ich dich töte«, sagte Carter. Der Mann starrte ihn noch immer mit einem verächtlichen Grinsen an.
»Aber wenn du mir nicht sagst, was passiert ist, schneide ich dich auf, ich schwörs, vom Sack bis zum Hals. Ich häute dich und überlasse dich den Geiern.«
Die Augen des Mannes verengten sich zu Schlitzen. »Scheiße, was soll schon passiert sein. Hab mir die Kleine vorgenommen. Ist ja wirklich ein süßes Ding.«
»Lebt sie noch?«
»Klar lebt die noch. Bin kein Killer.«
Carter nickte. »Was ist mit dem Jungen?«
»Den hab ich nicht angefasst. So einer bin ich nicht.« Der Mann fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Hab ihm eine aufs Maul gegeben. Wollte den Helden spielen, der kleine Pisser. Wollte seine Schwester verteidigen …«
In einer schnellen Bewegung drehte Carter das Gewehr um, holte aus und stieß mit dem Gewehrkolben zu. Der erste Schlag traf den Mann über der Augenbraue und zertrümmerte seine Stirn. Der zweite Stoß brach ihm den Kiefer. Carter hieb ein Dutzend Mal zu, dann reinigte er den Gewehrkolben, wischte Blut, Haare und Gehirnmasse an der Kleidung des Mannes ab, der mit krallenartig verkrampften Händen in letzten Zuckungen im Staub der Schlucht lag.


Er erreichte das Haus am Highway in der Morgendämmerung. Eine blutig brodelnde Sonne schob sich gerade über den Horizont, als Carter vom Pferd sprang, die drei Stufen der Veranda in einem Satz nahm und durch die Eingangstür trat. Er durchsuchte das Erdgeschoss. Es roch nach Kot und Urin. Er stürmte die Treppe hinauf und fand die Geschwister im elterlichen Ehebett aneinandergeschmiegt, kaum bei Bewusstsein.
Er hob Clara aus dem blutigen, kotverschmierten Bettzeug, trug sie nach unten, raus ins Freie zum Brunnen. Er schöpfte Wasser, wusch ihren geschundenen Körper. Er sah, dass ihr Bauch stark geschwollen war und sich dunkel verfärbt hatte. Blut sickerte zwischen ihren Schenkeln hervor. Carter hüllte das Mädchen in eine Decke und bettete es auf dem Sofa im Erdgeschoss. Dann kümmerte er sich um den Jungen. Seine Nase war gebrochen und man hatte ihm die Vorderzähne ausgeschlagen. Er wimmerte leise. Carter ließ am Brunnen Wasser über ihn laufen, wusch ihn, rieb ihn mit einem Leinentuch trocken. Er wickelte ihn in ein Laken, und setzte ihn in einen Sessel in der Nähe des Sofas, auf dem seine Schwester lag.


Eine Woche später brachen Carter und der Junge auf. Sie hatten alles, was nützlich war, in Packtaschen verstaut, die der Mustang trug. Carter setzte den Jungen auf den Widerrist des Rappen, über den er eine Decke gebreitet hatte. Er wandte sich um, warf einen letzten Blick auf das Haus und auf das Grab, in dem Clara und ihr ungeborenes Kind ruhten. Dann stieg er auf das Pferd und schnalzte mit der Zunge.

 

Hallo Achillus,

Gedacht war die Geschichte als Erzählung eines unbeteiligten Beobachters, der Carter über die Schulter blickt, seinem Weg folgt. Gibt es irgendeine Konvention, die ich nicht kenne, die festlegt, dass alle Feststellungen, die der Erzähler macht, von Carter beobachtet worden sein müssen? Ernsthafte Frage.
Also meiner Meinung nach gibt es diese Konvention nicht.
Ich bin aber blutiger Anfänger, habe erst vor wenigen Monaten mit dem Schreiben begonnen. So weit ich weiss, unterscheidet man grundlegend zwischen der auktorialen (allwissenden) Erzählperspektive und der personalen Perspektive.
In der personalen kann nur erzählt werden, was die Figur weiß, sieht, hört, durch dies erlebt der Leser die Geschichte.
In der auktorialen kann ein Autor alles erzählen. Was der Bösewicht plant, Landschaftsbeschreibungen, etwas, das gerade dutzende Kilometer entfernt passiert.
Ich bin bei deiner Geschichte von der personalen Perspektive ausgegangen, da du alles aus Carters Sicht erzählst. Du erzählst nicht, was Clara oder Paul denken, wir erleben nicht, wie sich die Angreifer auf den Hinterhalt am Ende vorbereiten, etc.
Daher hat mich der o.g. Satz auch rausgerissen, da er - soweit ich es erkennen konnte - der einzige Satz ist, wo ein Wechsel der Perspektive stattfindet. Vielleicht habe ich aber andere Wechsel einfach übersehen?

Ansonsten wären noch Details zu Deiner Kritik an den Dialogen hilfreich. Wenn Du Zeit hast.
Ich versuche es mal, da es sich zum Zeitpunkt meines Feedbacks dabei mehr um ein Gefühl handelte. Schwer zu beschreiben. Erst möchte ich dir aber noch einmal sagen, dass ich die Dialoge jetzt schon für sehr gelungen halte.

»Es gibt Männer, die töten dich für einen Apfel«, fuhr Carter fort.
Wieso nimmst du den Apfel als Sinnbild? Äpfel liegen dort nicht, keiner der Anwesenden besitzt einen Apfel. Für mich gäbe es da stärkere Bilder in einer Endzeit-Dystopie Dann vielleicht lieber "eine Dose Bohnen" oder "eine Konserve"?
»Was willst du tun, wenn es soweit ist?«
»Mir fällt schon was ein«, erwiderte das Mädchen.
Carter nickte.
Er nickt. Sagt aber kurz darauf, dass die Welt mittlerweile ein Schlachthaus ist und irgendwann wahrscheinlich Männer dort vorbeikommen, welche die Kids bestehlen und töten werden. Was denkt er, wird dann mit dem Baby passieren? Hier fehlen mir Carters Gedanken zur bevorstehenden Geburt. Glaubt er ernsthaft, die beiden schaffen das mit der Entbindung? Oder glaubt er es nicht und will sie durch einen Kommentar nicht verängstigen?
Und die Geschwister sprachen ein sonderbares Tischgebet. Es war nicht mehr, als kindliches Gebrabbel. Carter verstand nicht alles, was sie nuschelten. Er trank und beobachtete die beiden düster über seine Bierdose hinweg.
Wieso genau ist das Gebet sonderbar? Weil es nicht mehr ist, als kindliches Gebrabbel. Hier verschenkst du m.M.n. das Potential einer Szene, indem du das Gebet nicht als wörtliche Rede darstellst. Das hätte in meinen Augen mehr Punch.


Zusätzliches:
Ein Problem für mich ist, das ich nicht weiss, wie alt die Kids sein sollen. Du schreibst Mädchen und Junge. Das Mädchen ist schwanger, also kann sie so jung nicht sein. Den Jungen schätze ich auf ein wenig älter, aber auch nicht viel. Das fehlende Alter lässt das Bild der beiden in meinem Kopf schwächer erscheinen.

Du nennst Paul im aktiven Handeln (fast) immer nur "der Junge". Dadurch behältst du m.M.n. eine emotionale Distanz zwischen ihm und deiner Leserschaft aufrecht. Vielleicht ist dies aber auch genauso von dir gewollt?


Ich hoffe, meine persönlichen Eindrücke konnten dir weiterhelfen.
Beste Grüße,
Seth

 

»Es gibt Männer, die töten dich für einen Apfel«, ...
und noch weniger, manche gar grundlos - nur so - Toller Spätwestern bzw. Mythos,

lieber – oder doch böser, böser zigga,

wenn man bedenkt, dass Highways frühestens im zwoten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstanden (und wo das Mädchen gleich von redet, einen Film gesehen zu haben, fällt mir ein, dass selbst zumindest „Dick“, Oliver Hardy, soweit ich weiß, in Western mitgespielt hat. )

Aber Fern(handels)straßen gab es „immer schon“ – auch von Süd- nach Mittelamerika und weit darüber hinaus in den Norden und dass die Missippikultur – die Mounds sind da noch beredtes Zeugnis von - kurz vor Entdeckung des Kontinents unterging, klingt schon fast wie ein Vorspiel zu den steigenden Wassern, die künftigen Generationen drohen alternativ zum Schicksal der Anasazi im und am Grand Canyon und Trochenperioden ...

Flusenlese

Bald darauf stand über ihm schwarz der Nachthimmel, und in der Schwärze, wie hingesprüht - tausende von Sternen.
Beide Kommas weg!, das erste wird hervorragend vom „und“ vertreten und das „wie“ bleibt bloßer Vergleich, dass – wenn eine Pause eingelegt werden soll, ein zwoter Gedankenstrich besser passte.

Der von den Hufen des Mustangs aufgewirbelte Staub verlor sich unter dem Kobaltblau des weitgedehnten Himmels.
Ist „weit“ nicht immer auch gedehnt?

»Bitte nicht«, stieß die Kleine hervor.
Klingt nach mehr als bloßer Aussage! (Gilt natürlich auch gleich bei der Bitte des Mädchens usw. usf.)

»Was willst du tun, wenn es so[...]weit ist?«
Soweit nur als KOnjunktion zusammen ...

So viel oder doch eher so wenig für heute vom

Friedel

 

Hallo Seth, vielen Dank für Deine Antwort.

Ich bin bei deiner Geschichte von der personalen Perspektive ausgegangen, da du alles aus Carters Sicht erzählst. Du erzählst nicht, was Clara oder Paul denken, wir erleben nicht, wie sich die Angreifer auf den Hinterhalt am Ende vorbereiten, etc.

Dass ich nur die Erlebnisse einer Figur beschreibe, hat damit zu tun, dass Figurenperspektivwechsel in Kurzgeschichten schnell unübersichtlich wirken können und für die Erzählung der Story meist nicht notwendig sind.

Ich denke trotzdem, dass der Erzähler auch bei der Beschränkung auf eine Figur die Freiheit hat, das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven abzubilden. Mal sieht er durch die Augen der Figur, mal aus der Totalen auf die Szene, in der die Figur handelt. Zwangsläufig werden bei einer Panorama-Sicht dann Details deutlich, die die Figur selbst vielleicht nicht so deutlich erkennen könnte.

Film und Literatur sind natürlich unterschiedlichr Medien. Aber ich stelle mir vor, ein Kinobesucher würde protestieren, weil ein Film das Geschehen erst aus der Totalen zeigt und dann plötzlich aus der Perspektive der Figur. Das ist doch ein völlig normales Stilmittel, aber ich mag mich irren.

Der Apfel steht in der Geschichte für das Bild der natürlichen, gesunden, frischen Ernährung und ist somit etwas anderes als eine Dose Bohnen.

Was die Motivationen Carters betrifft, war mein Gedanke, dass sein Schwanken zwischen der Überzeugung, allein besser dran zu sein einerseits und dem Wunsch zu helfen andererseits die ganze Sache interessant macht.

Seth, vielen Dank für Deine Überlegungen. Ich fand sie sehr hilfreich.

Gruß Achillus

 

Hallo Manlio, schön, dass Du nochmal reinschaust.

Stimmt, was ich meine, ist: die Geschichte fühlt sich "episch" an, wie auf einen langen Spannungsbogen ausgelegt. Der Text hat ein ganz langsames Tempo, ich könnte dem Carter seitenweise folgen, wie er einfach nur die Landschaft beobachtet, das Haus beobachtet. Und dann passiert irgendwann etwas; und irgendwann wieder. Aber viel langsamer, als du es machst ...

Also das entspricht ziemlich genau meiner eigenen Wahrnehmung. Das ganze Setting passt wunderbar für eine elegische Reise. Dennoch finde ich die Kurzgeschichte ganz gelungen, auch wenn ich da als Autor natürlich befangen bin.

Gruß Achillus


Hallo Friedel, vielen Dank für Deinen Kommentar zum Text.

lieber – oder doch böser, böser zigga,

Zigga? Interessante Verwechslung, schreiben wir so ähnlich? Muss gleich mal seine letzte Texte checken.

Aber Fern(handels)straßen gab es „immer schon“ – auch von Süd- nach Mittelamerika und weit darüber hinaus in den Norden und dass die Missippikultur – die Mounds sind da noch beredtes Zeugnis von - kurz vor Entdeckung des Kontinents unterging, klingt schon fast wie ein Vorspiel zu den steigenden Wassern, die künftigen Generationen drohen alternativ zum Schicksal der Anasazi im und am Grand Canyon und Trochenperioden ...

Tatsächlich war ein Gedanke beim Schreiben, dass der Highway eine Erinnerung an eine einst größere und vernetzte Welt darstellt, ein Relikt funktionierender Gemeinschaft bzw. Gesellschaft. Jetzt ist er nur noch eine Chiffre für etwas Vergangenes.

Danke auch für die Flusenlese, Friedel. Werde ich korrigieren.

Gruß Achillus

 

Zigga? Interessante Verwechslung, schreiben wir so ähnlich? Muss gleich mal seine letzte Texte checken.

Oh man, wo hatt' ich da wieder meine Birne?

Ich hoff, es hat den Helden vor Troja nicht allzu schwer getroffen ...

der manches Mal schusselige Friedel

 
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Hallo AWM, vielen Dank für Deine Rückmeldung. Habe mich sehr gefreut, von Dir zu hören.

Ihr rötliches Licht warf lange Schatten über das Land. - Ich finde das unpräzise. Es ist nicht das Licht, das die Schatten wirft, sondern zum Beispiel Bäume, Felsen etc.

Ist das so? Umgangssprachlich werfen Gegenstände Schatten, aber präzise im Sinne einer naturwissenschaftlichen Beschreibung ist nur, dass das Licht die Schatten wirft, also verursacht.

Ich finde, du könntest deinen Prota von Anfang an zielgerichteter handeln lassen. Deshalb finde ich den ersten Absatz auch den am wenigsten gelungenen. Er führt uns nur in die Geschichte und die Welt ein, ohne dass dein Prota ein konkretes Ziel zu haben scheint. Dabei führt er aber nicht einmal besonders gut in die Welt ein. Ich habe da nicht verstanden, dass es sich um eine postapokalyptische Welt handelt. Der ehemalige Highway ist eigentlich der einzige Hinweis. Das kann es aber so auch geben.

Ich finde es schwierig, mich mit Kritik auseinanderzusetzen, die nicht einen Futzel objektiver Argumentation enthält: Der Protagonist könnte zielgerichteter handeln, sagst Du. Warum das so sein sollte und weshalb die Figur in der Geschichte nicht die Landschaft betrachten, absitzen und dann mit dem Feldstecher genauer betrachten darf, erklärst Du nicht. Auch nicht, warum sofort klar sein muss, dass es sich um eine postapokalyptische Welt handelt. Sorry, das sind doch lediglich Geschmacksfragen.

Im Flimmern der aufgehenden Sonne war der Reiter kaum auszumachen. - Hier fällst du auch aus der personalen Perspektive.

Ich hatte das anderen Kommentatoren schon geschrieben: Ich denke, es ist ein Irrtum anzunehmen, der Erzähler dieser Geschichte sei verpflichtet, lediglich aus Carters Perspektive zu schreiben. Dass der Erzähler in die Perpektive seiner Figur hineingeht und auch wieder heraus, ist ein völlig legitimes Mittel. Ich sehe es schon so, dass man in einer KG nicht zwischen den Innenansichten mehrerer Figuren hin und her springen sollte. Das könnte gerade bei Dialogszenen verwirren, der Leser wüsste dann nicht zweifelsfrei, wer was nun denkt oder empfindet. Aber hier ist es doch so, dass ein Erzähler beschreibt, was Carter tut, sagt und er beschreibt, wie Carter dabei aus der Außenperspektive aussieht. Daran ist nichts auszusetzen, finde ich. Aber wenn Du mir Deinen Standpunkt begründen würdest, wäre ich gespannt das Argument zu hören. Vielleicht gibt es ja da eine Konvention, die ich nicht kenne.


Gruß Achillus

 
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Sorry, lieber @Achillus ,

dass ich mich kurz einmische. Ich schreibe dir auch einen richtigen Komm, wenn ich Ende dieser Woche mehr Zeit habe. :)

Ich habe das aber eben als personale gelesen und mich haben die zitierten Stellen dann herausgerissen. Für mich sollte es dann schon einen Vorteil bringen, wenn man die Perspektive wechselt. Den sehe ich hier nicht. Vor allem auch, weil das so punktuell erfolgt und sich nicht durchzieht.
Hallo @AWM ,

in dieser Geschichte wird nirgends die Perspektive gewechselt. Achillus hat einen auktorialen Erzähler gewählt, der selbstverständlich auch Vieles beschreibt / erzählt, was der Prota tut oder sieht. Es ist nicht gemixt auktorial-personal erzählt (der Erzähler rutscht nicht in die individuelle Sichtweise des Protas).

Dass ein auktorialer Erzähler etwas über eine Figur sagt und beschreibt, was sie tut (oder sogar denkt), bedeutet nicht, dass die Perspektive personal würde.

Personal würde sie, wenn das Geschehen und / oder die individuellen Gedanken des Protas aus seiner eigenen Sicht erzählt würden (allein oder im Wechsel mit der auktorialen Stimme). Ein neutraler, allwissender Erzähler weiß, was in den Figuren vorgeht. Er "verschweigt" einen Teil des Wissens, um Spannung zu erzeugen. Auch gibt es auktoriale Erzähler, die nicht allwissend, sondern eingeschränkt wissend sind. Das macht sie aber nicht zu einem personalen Erzähler.
Selbstverständlich ist es in moderner Prosa oft so, dass der auktoriale Erzähler nicht mehr elitär-gottgleich ist wie die des 18. und 19. Jahrhunderts. Es kann sein, dass seine eigene Haltung durchschimmert, dass er das Geschehen kommentiert (obwohl er gar keine Figur in der Geschichte ist) oder sich nahe an einem einzigen Protagonisten entlangbewegt. Damit bleibt er aber trotzdem auktorial.

Mischformen zw. auktorial und personal sind recht typisch für moderne Literatur, d.h. für bestimmte Szenen oder Teilszenen kann der Erzähler aus der auktorialen Stimme in die eines Protas springen. Das ist hier aber nicht der Fall.

Bei weiteren Fragen würde ich auf Bücher verweisen, die das mit guten Beispielen unterlegt viel besser erklären können als ich:
James Wood: How Fiction Works (dt. Die Kunst des Erzählens)
Jeff VanderMeer: The Wonderbook

Herzlichst,
Katla

 

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