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Das Haus am Meer
Das Haus am Meer
„Vielen Dank für ihre Mühen. Bitte,“ Michelle griff in die Tasche ihrer Nadelstreifenhose und reichte den Männern vom Transportdienst zwanzig Dollar, „machen sie sich noch einen schönen Abend.“
„Vielen Dank, Mam.“
Die schweren Männer steckten das Geld ein, zogen zum Dank an ihrer Mütze und verließen das Haus.
Michelle ließ einen tiefen Seufzer heraus, als sie die Tür hinter sich schloss und ihren Blick über die unzähligen Umzugskartons schweifen ließ. Karton auf Karton stapelte sich durch jeden Raum und schien fast eine Brücke zwischen allen Türen des Hauses entstehen zu lassen. Mit einem schnellen Griff in ihre Handtasche nahm sie sich eine Haarnadel und bändigte die zwei Strähnen ihres blonden Haares zurück in den Zopf.
Es kann doch einfach nicht angehen, dass ein einzelner Mensch, so viele Sachen besitzt, dachte sie bei sich. Aber sie tat es. In jedem einzelnen Karton waren Dinge, die ausschließlich ihr gehörten, und für die sie lange und hart gearbeitet hatte. Seit sie sich erinnern kann, hatte sie für die Dinge, die sie besitzt gearbeitet. Mal härter, mal noch schwerer. Jahrelang hatte sie sich abgemüht und angestrengt, um sich schließlich ihren allersehnlichsten Traum zu erfüllen: Ein weißes Haus am Meer.
Ihr Karrieredurst und ihre Anstrengungen haben ihr niemals viel Zeit und Raum für besonders ausgefallene Wünsche und Träume übriggelassen. Doch diesen einen Traum, ihren einzig wahren Traum, hatte sie sich endlich erfüllt. Sie hatte nie viele Ziele im Leben gehabt. Aber dieses Haus musste sie unbedingt haben. Und wer hätte ihr zugetraut, dass sie diesen Traum schon in so jungen Jahren verwirklichen würde.
Michelle streifte mit langsamen Schritten durch ihr Haus und schaute sich ihr erworbenes Gut aus allen Richtungen ganz genau an. Dabei war es von Vorteil, dass ihr schlanker Körper jeden noch so schmalen Spalt zwischen den Kartons ausnutzen konnte. Weiße Wände. Ein großer Kamin. Große, weite Fenster zum Strand, frisch geputzt. Kristallgläser im Schrank. Ein teures Ledersofa mit daunenweichen Kissen.
So müde sie auch vorher war, ein Blick auf ihren Besitz machte sie wieder wach. Im rotstrahlenden Sonnenlicht war der Blick von dem Balkon auf das glitzernde Meer besonders schön. Michelle stellte sich an die ausladenden Panoramafenster und versank in diesen Anblick. Der kalte Wind zog über den Strand, doch davon spürte sie hinter den Scheiben nichts. Sie verschwand in ihren Gedanken fast gänzlich aus dieser Welt, und vergaß für einen Moment, all den Ärger und all die Arbeit, die sonst ihr Leben ausmachten. Beflügelt von ihrem Triumph, endlich ihr Traumhaus zu besitzen, schaffte sie es dennoch an ihre Arbeit zu denken. An ihren prall gefüllten Terminkalender, der nicht einen Geburtstagseintrag besaß. Nicht einmal ihren eigenen.
Als die Nacht hereinbrach und die Sterne langsam am Firmament zu strahlen begannen, konnte Michelle, so sehr sie den Anblick auch genossen hatte, sich keine Minute länger auf den Beinen halten. Die dunklen Wolken, die sich von Westen her angekündigt hatten, begannen trotz Michelles schwärmenden Blicken die Sterne hinter sich zu verbergen. Sie schloss die halbdurchsichtigen Vorhänge der Balkontüren und ging mit müdem Blick zu ihrem Bett, dass sie vorsorglich als erstes in ihrem neuen Haus hatte aufbauen lassen. Alles andere konnten die Möbelpacker auch morgen noch machen. Michelle nahm aus einem ihrer Wäschekartons ihre seidene Nachtwäsche und legte ihr Kostüm und ihren Blazer ab.
Kaum hatte sich Michelle zwischen den Kartons zu ihrem Bett durchgedrängelt und sich auf die weiche Decke gelegt, da war sie auch schon völlig erschöpft eingeschlafen.
Michelle hatte schon lange keinen tiefen und festen Schlaf mehr in ihrem Leben gehabt. Sie war schnell durch Geräusche zu wecken, was das Leben in der Stadt für sie zur Hölle gemacht hatte. Eigentlich hatte sie gehofft so weit draußen am Strand endlich ihre Ruhe zu finden. Doch sie sollte sich täuschen.
So wurde sie dann zwei Stunden später von einem undefinierbaren Geräusch geweckt. Blitzartig öffneten sich ihre Augen. Sie lag auf ihrem Bett und lauschte. Ihr dunkles, mit Kartons gefülltes Schlafzimmer ließ sie nichts erkennen.
Hatte sie das Geräusch wirklich gehört, oder ob sie es nur geträumt hatte? Vielleicht waren es noch die letzten Geräusche der Stadt, die in ihren Ohren wiederhallten.
Sekunden vergingen, und Michelle glaubte sich das Geräusch tatsächlich nur eingebildet zu haben Doch dann hörte sie es wieder.
Ein leiser Schrei. Ein Schrei? Ein Ruf! Sie konnte es nicht genau erkennen. War in ihrem Haus irgendjemand? Oder irgendetwas?
Langsam stand sie auf, streifte sich die Bettdecke vom Körper und griff nach dem nächsten Gegenstand, den sie als Waffe zur Verteidigung hätte gebrauchen konnte. Mit erhobenem Lampenständer schlich sie sich langsam aus ihrem Schlafzimmer, während sie ihren halbdurchsichtigen Morgenmantel, in dem sie eingeschlafen war, fest um sich zog. Sie wollte kein Licht anmachen, um sich nicht zu verraten und schlich weiter in den dunklen Flur. Nur das fahle Mondlicht erhellte von draußen die weißen Wände in einem bläulichen Schein. Da war der Schrei schon wieder. Wieder konnte sie nicht herausfinden, woher es kam, oder was es war, dass so geschrieen hatte. Momente vergingen, die Michelle wie Stunden vorkamen.
Wieder hörte sie das Geräusch. Doch diesmal schien sie zu erkennen, woher es kam. Es kam nicht aus dem Haus. Es war dumpf. Es klang, als würde es von draußen kommen. Sie reckte ihren Hals um den Blick auf ein Fenster zu erhaschen, doch sie konnte von dort aus nichts sehen. Sie schlich sich bis zur Wohnzimmertür, stellte sich dicht an den Türrahmen und führte ihren Blick vorsichtig zum großen Panoramafenster im Wohnzimmer. Irgendjemand war da draußen. Sie konnte zwar nichts sehen, aber der Schrei kam deutlich von draußen.
Sie wäre am liebsten vor Angst erstarrt. Alles in ihrem Körper verkrampfte sich, und wollte sie am liebsten unter den nächsten Tisch springen um sich dort zu verstecken. Doch wie im Traum, wo man keinen Schmerz verspürt, fühlte sie in diesem Moment keine Angst. Sie wusste nur, dass dies ihr Haus war, und dass ihr niemand das streitig machen würde, was ihr gehört.
Sie holte noch einmal tief Luft, festigte ihren Griff um den Lampenständer und bewegte sich vorsichtig vom Türrahmen ins Wohnzimmer. Michelle war wild entschlossen ihr Haus zu verteidigen. Doch über alle Entschlossenheit vergaß sie nicht, ihre nächsten Schritte zu planen. Sie überlegte sich in den wenigen Momenten, die ihre Schritte sie entlang der Wand in der Dunkelheit zum Fenster führten, wie sie ihren Feind, der draußen auf sie lauerte angreifen sollte. Doch mit einem Mal hielt sie still. Nichts hatte sich verändert, nichts hatte sie gesehen. Doch kam ihr in diesem Moment der Gedanke, was dort draußen überhaupt auf sie warten würde. Ein Einbrecher würde nicht schreien, wenn er in ihr Haus einbrechen wollte. Die einzigen Schreie also, würden von jemandem kommen, der Hilfe braucht. Oder könnte es noch etwas anderes sein?
Michelle hat, wie jeder andere Mensch schon einige Horrorgeschichten gehört um sich in ihrer Phantasie auszumalen, welche erschreckenden Gestalten dort draußen auf sie warten könnten. In diesem Moment, in dem sie fast schon zitternd, mit einem Lampenständer fest umkrallt, kauernd in einer dunklen Ecke ihres Wohnzimmer stand, viel ihr Derrick ein Freund eines Kollegen ein, den sie einmal auf einer Party getroffen hatte. Sie erinnerte sich, wie sie ihm sagte, dass sie an Hokuspokus und an Geister nicht glaube, und dass dies alles lächerlich sei.
So dachte sie auch in dieser Nacht im dunklen Wohnzimmer, doch spielte ihr ganzer Körper bei der Sache nicht mit, und ließ ihre Knie zittern, den Schweiß über die Hände laufen und den Atem stocken.
So laut waren ihr ihre Gedanken noch nie vorgekommen. Oder war es das Rauschen der Brandung, dass ihre Gedanken schreien ließ.
Schreien. Da war es wieder, das Schreien. Eine schmetternde Stille löschte alle Ängste. Und sie fasste den Entschluss, das Fenster zu öffnen und herauszugehen. Mit einem Griff packte sie den Türöffner, dreht ihn um, riss das Fenster auf und stürmte heraus. Sie mochte kaum die Augen öffnen, die sie, trotz ihres erwachten Mutes, lieber geschlossen ließ. Als sie sich dennoch umschaute, konnte sie nichts erkennen. Zumindest nichts, was sie nicht erwartet hätte. Da war der Strand, die Terrasse, das Geländer und das Meer.
Ihr Atem war laut, doch übertönte das Rauschen des Meeres alles. Jetzt nicht unaufmerksam werden. Sie umfasste den Griff der Lampe wieder fester, drehte sich nach Links, nach Rechts, schaute sich um, und fand nichts. Hier draußen war nichts. Hier war niemand.
Und wieder hörte sie den Schrei. Ihr ganzer Körper zuckte zusammen. Ihre Augen, weit aufgerissen, griffen in die Dunkelheit, die den Strand gnadenlos erfüllte. Sie suchte wieder die Quelle. Und mit einem Schlag wurde ihr die Ungewissheit zur erschreckenden Erkenntnis.
Die Schreie kamen aus dem Meer.
Mein Gott, wie viel Zeit hatte sie gerade mit herumschleichen vertan. Irgendjemand brauchte ihre Hilfe. Michelle setzte die Lampe auf die Terrasse. Ihr Blick wanderte über die peitschenden Wellen, die sich am Ufer, nicht weit vor ihrem Haus brachen. Welle um Welle rauschte es mit ganzer Kraft, vom Wind gepeitscht. Unmöglich schien es für Michelle, den Schrei dazwischen ausfindig zu machen. Und als ob sie auch nur ein Bisschen besser dadurch hören könnte, kniff sie ihre Augen fest zusammen und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit, auf die tosende See.
Sollte sie reingehen, und irgendetwas holen? Etwas holen? Was sollte sie schon holen? Ihr Puls raste und ihr ganzer Körper schwitzte vor Adrenalin.
Da war er wieder. Der Schrei. Da vorne! Irgendwo da vorne! Dieses mal konnte Michelle ihn deutlich hören, und sagen, wo er herkam.
Sie lief los. Direkt die Terrasse runter in den kalten, harten Sand, den sie jedoch kaum spürte. Sie schien gar nichts zu spüren. Alles was sie tat, war lauschen und suchen. Keinen Sand an den Füßen, keinen Wind im Gesicht, keine Kälte um ihren Körper. Nur der Schrei.
Als ihre Füße jedoch die eisige Gischt der Wellen berührte, konnte auch Michelle sich nicht mehr der kalten Wirklichkeit um sie herum erwehren. Ihr Sprint stoppte abrupt. Nun spürte sie auch die Kälte um ihre Arme und ihre Schultern, die sich schneidend durch ihren dünnen Morgenmantel zog. Kläglich versuchte Michelle mit ihren dünnen Armen ihren zarten Körper vor der unbarmherzigen Kälte zu schützen.
„Hallo? Hallo, wo sind sie?“, schrie sie in das rauschende Meer hinein. Niemand antwortete.
Wieder und wieder schrie sie, aber keine Antwort kam. Nichts geschah.
Mit einem Mal hörte sie wieder den Schrei. Und als ob es taghell in ihrem Verstand geworden wäre, glaubte sie, die Quelle genau zu hören. Nicht nur zu hören, sogar zu sehen. Dreißig, vielleicht Vierzig Meter, weiter konnte sie nicht weg sein. Das war nicht weit. Nicht weit für sie. Sie konnte helfen.
Das peitschende Wasser um ihre Füße wurde ihr mit einem Mal noch bewusster, als sie sich klar wurde, was sie zu tun hatte. Sie fühlte sich, als würde sie in diesem Moment tausend Meter tief fallen. Sie kannte das Meer. Sie war schon so oft geschwommen, auch nachts. Doch noch nie bei so aufgepeitschter See. Die Kälte floss wie ein Strom aus Eis ihren ganzen Körper runter bis zu den Füßen. Zwei Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen vergingen, bis sie ihren Fuß einen Schritt weiter vorsetzte.
Das Wasser war in dieser Nacht besonders wild, und es dauerte keine zehn Schritte, da verlor sie auch schon den Sand unter den Füßen und tauchte ein, in ein Meer aus kalter Dunkelheit. Michelle war eine erfahrene Schwimmerin. Die schweren Wellen, die sich immer wieder von der Oberfläche runterdrückten, konnten sie nicht einschüchtern. Mit starken Schlägen legte sie sich in die Wellen und schob sich, kämpfte sich, Meter um Meter, weiter.
Sie musste mindestens schon Zwanzig Meter geschwommen sein. So kam es ihr vor. Sie hielt für einen Moment an und reckte ihren Kopf zwischen den Wellen so weit es ging hervor. Der Geschmack von Salzwasser war auf ihren Lippen. Sie konnte es noch sehen, ihr Haus. Michelle drehte sich um, und suchte weiter. Weit konnte sie nicht mehr sein. Sie müsste sie eigentlich schon sehen können. Aber da waren nur Wellen. Wellen und eine alles verschlingende Dunkelheit.
Michelle wurde kalt. Doch sie schwamm weiter. Immer weiter.
Durch den schweren Widerstand, den sie durch die Wellen spürte, hatte sie das Gefühl, nicht einen Meter voranzukommen. Doch das tat, schneller als sie es glaubte. Schlag um Schlag kämpfte sie sich vor.
Dann hielt sie an und rief in die Wellen. Doch es war immer noch nichts zu sehen. Michelle versuchte ihren Blick zwischen den Wellen durchzudrängen, doch es war vergeblich. Ein Schreck durchfuhr ihren Körper. Vielleicht war der Mensch schon untergegangen. Sie ließ keine Sekunden vergehen, und tauchte unter, und suchte. Das kalte Wasser schien ihre Augen zu zerschneiden, doch sie hielt sie offen um auch nur irgendwas zu sehen. Doch da war nichts, nicht der kleinste Schein. Nur kalte, haltlose Dunkelheit. So erschreckend, war ihr die Schwerelosigkeit in der Dunkelheit noch nie vorgekommen. Noch nie hatte sie sich so verloren gefühlt. Sie musste wieder auftauchen, schnell, sonst würde die Angst sie noch verschlingen.
An der Oberfläche angekommen, holte sie tief Luft. Bloß oben bleiben. Bloß oben bleiben, mehr dachte sie nicht, als sie mit einem Mal wieder den Schrei hörte. Sie zuckte zusammen vor Schreck, so nah war der Schrei, und so laut. Weit konnte sie nicht mehr sein, wer immer sie auch war. Nur noch ein kleines Stück. Ein kleines Stück war es jedoch auch, dass sie zu weit vom Strand wegtragen würde. Durch die tosenden Wellen konnte sie kaum noch das rettende Ufer sehen. Würde sie noch weiter schwimmen, und die Orientierung verliehen, sie würde vielleicht nicht mehr zurückfinden. Zweifel kamen in Michelle hoch. Sollte sie es wagen? Ihr verängstigter Blick versuchte immer wieder einen Menschen in diesem Gewühl aus Wellen und Gischt zu finden, vergeblich.
War es Mut, war es Verzweiflung, oder war es etwas, dass sie noch nie zuvor gespürt hatte. Das Gefühl alles zu riskieren um einen Menschen zu retten. Sie wusste es nicht, aber sie schlug sich wieder in die Wellen und schwamm dem Schrei hinterher. Welle um Welle drückten sie weg, drückten sie nieder, und versuchten sie aufzuhalten. Doch Michelle ließ sich nicht aufhalten. Das kalte Wasser biss in ihre Sehnen. Sie spürte förmlich, wie es versuchte, ihr alle Kräfte zu entziehen. Und während ihr die Angst in Tränen die Wangen herunterlief, zwang sie sich immer weiter zu schwimmen.
Nach etlichen Schlägen, sie hatte schon längst aufgehört zu zählen, so sehr konzentrierte sie sich darauf weiter zu schwimmen, stoppte sie. Dies war die Stelle. Von hier muss der Schrei gekommen sein. Sie hielt sich an der Oberfläche, paddelte in jede Richtung und streckte den Kopf weit nach oben, um zu hören, wo die Stimme war. Doch aus dem Rauschen war nichts zu hören. Sekunden vergingen. Rauschen, rauschen, nichts als rauschen. Wo zur Hölle konnte sie bloß sein. Michelle sammelte alle Kraft, um nach ihr zu rufen, doch hielt sie sofort alle Luft an, als sie etwas an ihrem Fuß spürte. Stille herrschte mit einem Mal in Michelle Verstand. Die Kälte des Meeres hatte sie bisher kaum gespürt. Doch die Kälte, die ihr jetzt über den Rücken lief, war erdrückend gewesen. So sehr verkrampfte sie, dass sie fast keine Luft mehr bekam.
Noch bevor sie sich weiter Gedanke machen konnte, was das an ihren Füßen war, kam es wieder. Und dieses Mal, fühlte es sich riesig an, denn es berührte nicht nur ihre Füße, es streifte unter ihnen entlang. Und wieder liefen sie durch ihren Kopf. All die Gedanken, was das unter ihren Füßen sein könnte. Der Gedanke an ein Monster, dass sie in die tiefen des Meeres gelockt hatte, und sie jetzt erbarmungslos in die Tiefe reißen und ertränken würde, kam ihr zuerst.
Ihre Augen suchten nach einer Idee, nach einer Flucht, irgendwas. Was sie fanden, war eine gigantische Welle. Eine Welle, die sich starr und steif aus dem Meer hervorbrach und sich in voller Größe neben ihr erhob. Eine schrilles Pfeifen ließ ihr Herz fast stehen, und ihr wurde klar, dass dies keine Welle, sondern ein Tier war, ein Wal. So dicht und so gewaltig hatte sie noch nie einen Wal zuvor gesehen. Die dunkle harte Haut des Wals glänzte im fahlen Mondlicht. Michelle starrte erschrocken auf den gigantischen Körper. Selbst wenn sie gewollt hätte, sie hätte nicht an ihm vorbeischauen können, so nah war er. Einige Momente schien der Wal fast unbeweglich vor ihr auf den Wellen zu ruhen, bis er wieder einen lauten Schrei ausstieß und im Meer verschwand. Für einen kurzen Moment spürte sie einen starken Sog, der sie unter die Wasseroberfläche zu ziehen drohte. Glücklicherweise ließ er aber bald nach.
Michelle wurde schlagartig klar, wie dumm sie war. Der Schrei den sie gehört hatte, kam nicht von einem Menschen, sondern ist nur Walgesang gewesen. Ein Lachen konnte sie sich nicht verkneifen. Je länger sie darüber nachdachte, um so lauter musste sie lachen. All ihre Angst, die sie in ihrem Haus hatte. Ihre Pläne, den Einbrecher zu überwältigen, oder die Geister, Michelle konnte sich nicht mehr halten, und ihr Lachen schien sogar lauter zu werden als der kalte Wind, der die Wellen peitschte. Der Ruck eines großen Körpers holte sie dann schnell wieder zurück. Es war der Körper eines Wals, der sie unter Wasser streifte und mit seiner rauen Haut von ihrer Stelle mitnahm, bevor er wieder abtauchte und sie mit unter die Oberfläche zog. Das ganze passierte so schnell, dass sich Michelle nicht vorbereiten konnte, und Wasser schlucken musste. Mit ganzer Kraft kämpfte sie sich wieder an die Oberfläche. Sie schwamm und strampelte so stark sie konnte. Endlich der rettende Atemzug. Sie war wieder oben. Michelle merkte schnell, dass sie hier auf dem Meer, zwischen diesen Giganten nicht zu suchen hatte. Ob die Wale sie überhaupt wahrnahmen, sie wusste es nicht. Es wurde aber Zeit, dass sie zum Strand zurück schwimmen sollte.
Michelle machte kehrt und legte sich in die Wellen. Sie brauchte ihnen nur zu folgen, um zum Strand zu kommen. Immer entgegen den Wellen. Sie spürte die Strömung, die an ihr riss und sie immer weiter von dort wegzerrte, wo sie eigentlich hin wollte. Mit weitausholenden Schlägen kämpfte sie gegen die Wellen, doch die Strömung ließ sie nicht los. Ewigkeiten, so kam es ihr vor, schlug sie auf die Wellen ein, doch nichts half.
Erschöpft hielt sie einen Moment inne. Sie versuchte sich zu orientieren, in der Hoffnung, irgendeinen Weg zu finden aus dieser Strömung herauszukommen. Doch in der immer tiefer werdenden Dunkelheit konnte sie immer weniger erkennen, wo sie überhaupt war. Der Strand war schon längst aus ihren Augen verschwunden. Michelle merkte bald, dass ihre Orientierung nicht mehr ihr einziges Problem bleiben würde. Die Strömung in der sie trieb war eiskalt, und jede Sekunde drang die Kälte tiefer in ihre Glieder ein. Immer steifer und verkrampfter hielt sie sich über Wasser, während sie merkte, dass ihr Kopf immer weiter und die Wasseroberfläche geriet. Immer wieder schlugen die Wellen über Michelle zusammen und drückten sie für einige kurze Momente unter Wasser. Als sie sich das dritte Mal keuchend aus den Fluten hervorgekämpft hatte, merkte sie, dass etwas ihre Füße streifte. Es war ein auftauchender Wal. Ob es der gleiche Wal, oder ein anderer, sie wusste es nicht. Der Wal hob sie auf seinem Rücken zur Seite und warf sie wieder in die Wellen. Durch diesen Sturz trieb sie unter die Oberfläche. Geschockt und zum Teil schon starrgefroren trieb sie einige Momente neben dem riesigen Wal. Nahezu geisterhaft starrte Michelle auf diesen gigantischen Körper. Erst einen Moment später, erkannte sie, dass direkt vor ihr das Auge des Wales war, und sie ebenfalls anstarrte. So viele Gefühle, so viel Angst. Es schien ewig zu dauern. Dann, mit einem Mal, bewegte sich der Wal. Er tauchte wieder, direkt neben ihr. Michelle spürte den gewaltigen Sog, den der Wal mit sich führte.
Mit großen Schlägen versuchte sie dem Sog des tauchenden Wals zu entkommen, doch konnte sie bei aller Kraft nicht schnell und stark genug schwimmen. Genau wie der Wal, so ging auch sie nach unten in die Tiefe. Immer weiter und weiter. Immer tiefer riss sie der Sog, bis sie die Wellen nicht mehr sehen konnte, die sich auf der Oberfläche erhoben. Immer dunkler wurde es um sie, immer tiefer die Schwärze in die sie stürzte. Mit aller Kraft bäumte sich Michelle gegen diesen unbändigen Strom, der durch sie durch in die Tiefe zu stürzen schien.
Während sie gegen den Sog unerbittlich kämpfte, merkte sie, wie die Luft aus ihren Lungen zu brechen begann. Michelle merkte, dass sie sterben würde. Die Angst trieb ihr die Tränen in die Augen, ließ sie tausend Gedanken auf einmal erleben und ließ sie als letztes an ihren leeren Terminkalender denken.
Den letzten Schimmer, eines blassen Mondes, konnte sie noch spärlich über sich erkennen, bevor ihre letzten Tränen sich mit dem Salzwasser vermischten und die Kälte des Meeres ihre Lunge füllte. Ein letztes Mal spürte sie die raue Haut eines Wals an ihrer Hand vorbeistreifen, bevor ihr letzter Atemzug am kalten Wasser erstickte.
Autor: Sidney Borgert