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Das Haus mit der anrüchigen Vergangenheit
‚Arbeit und Disziplin’ schrieben sich die vom Pietismus geprägten Protestanten auf die Fahnen, und: ‚der Herr wird helfen’.
Und Gott half.
Nach den Wirren des zweiten Weltkrieges schafften es die Bürger der Kleinstadt auf der Schwäbischen Alb sehr schnell, wieder an die Prosperität der Vorkriegszeit anzuknüpfen. Und sie konnten stolz sein auf das, was sie gemeinsam erreicht hatten. Insbesondere auf die Hauptstraße, die sich vom Bahnhof bis an den nahen Waldrand zog. Die hübschen Gebäude in den Häuserzeilen auf beiden Seiten der Straße wetteiferten um die schönste Architektur. Dass die Fassaden alle sauber gestrichen, die Fenster spiegelblank geputzt und die Vorgärten gepflegt waren, bedeutete für die Einwohner eine Selbstverständlichkeit. Diese Häuser waren wie ein Spiegel ihrer sauberen Seelen. Es gab nur einen einzigen Schandfleck: das baufällige Gebäude am Ende der Straße, das dort wie eine behaarte, unansehnliche Warze klebte.
In den Archiven des Städtchens sind einige Aufzeichnungen über dieses Gebäude zu finden. Es wurde 1826 von einem jüdischen Tuchmacher erbaut. Er, und danach seine Nachkommen, nutzten es als Kontor und Lagerraum. Kurz nach der Machtübernahme durch die Braunen emigrierte die damalige Besitzerfamilie nach Südamerika und wurde seither nicht mehr gesehen. Das Finanzamt schickt alljährlich seine Rechnungen an eine Anschrift in Bolivien und erhält die entsprechenden Zahlungen pünktlich von einem Schweizer Bankkonto. Obwohl das Gebäude mittlerweile halb verfallen ist, gibt es für die Behörden keinen Grund, sich einzuschalten.
Doch die Einwohner der kleinen Stadt sehen das anders.
‚Ora et labora’ war auch das Credo, nach dem die ersten Gastarbeiter lebten, die nach dem Krieg in das verwaiste Haus zogen. Es waren Italiener. Mit ihnen konnten die Bürger gut leben. ‚Ha. Der isch scho reacht, der schafft ond spart, aber er isch halt katholisch’ wurde zwar hinter vorgehaltener Hand gemunkelt. Aber die Fremden wurden akzeptiert und respektiert. Doch später zogen Griechen, Jugoslawen und Türken ein. Menschen mit einer anderen Lebenseinstellung; einige erlaubten sich sogar an einen anderen Gott zu glauben. Leute halt, die nicht „vo eus“ sind. Da lagen die Wurzeln für das Unbehagen der Bevölkerung. Die Mauer zwischen Einheimischen und Ausländern wurde höher und undurchlässiger.
Kinder durften nicht mehr am Waldrand in der Nähe des verhassten Gebäudes spielen. Und Mütter hielten ihre älteren Töchter an, sich fern zu halten – und das nicht nur wegen der giftigen Beeren am Schattengewächs, das die Fassade überwucherte.
Die Fensterläden blieben tagsüber geschlossen, auch außerhalb der Gluthitze der Julitage. Das Haus wirkte trotz seiner bescheidenen Größe wie eine trutzige Festung. Nachts herrschte gespenstische Ruhe. Nur in manchen dunklen Stunden schimmerte das trübe Licht einer Talgkerze durch die Ritzen der Läden. Und dann hörten die Anwohner markerschütternde Schreie aus dem Haus. Aber keiner wagte es, nach dem Rechten zu sehen. Mit diesen Heiden wollte man nichts zu tun haben.
Wurden in dem Haus Orgien gefeiert? Wurden schwarze Messen zelebriert? Es wurde sogar davon berichtet, dass man Fremde gesehen hätte, die sich Blutspuren von den Lippen wischten, als sie aus dem Haus kamen. Waren Vampire in der Gegend? „Mir wisset nix Gnaus“, mussten die Bürger resigniert zugeben. Und das brachte die Gerüchteküche zum brodeln.
Die friedlichen und gottgläubigen Christen rotteten sich zusammen gegen die fremde Pest. Sie gingen auf die Straße und protestierten.
„Die sind nicht wie wir“, stand auf ihren Plakaten. Subjekte mit anrüchigen Gewohnheiten wollten sie nicht unter sich haben.