Das Haus
Anja hatte sich nach dem Haus erkundigt und erfahren, dass es der Bundesbahn gehöre. Dort gab man ihr die Auskunft, dass das Haus seit einem halben Jahr leer stünde und zu kaufen sei. Herr Soundso würde ihr die Schlüssel zur Besichtigung aushändigen.
Der lachte erst mal. „Habe ich alles zumauern lassen, vorige Woche. – Was? Durchs Kellerfenster kommt man noch? Das gebe ich gleich morgen in Auftrag. Wird alles dicht gemacht.“
Also beschlossen wir, unbedingt noch vor der endgültigen Schließung in das Haus zu steigen. Anjas Bekannter, ein zeitweiliger Kollege, hatte uns ermutigt: „Lässt sich was draus machen, schönes Grundstück mit dran!“, usw. Er wohnte direkt daneben.
Nach der Hitze fuhren wir am Abend hin. Anja, Paul, ich und ein Freund, den ich mir als Partner für den Ausbau eines Hauses jederzeit wünschen würde.
Wir fuhren von der Hauptstraße ab. Es war das erste neben zwei weiteren Häusern, an einem Rumpelweg stehend. Zuerst fiel uns die große Menge Unrat auf, der rings um das Haus verstreut lag. Viel Hölzernes – Balken, Türen, Latten und überall Nägel, auf die wir in dem Durcheinander achten mussten.
Als wir an der Rückseite des Hauses standen, wo wir auch den „Einstieg“ fanden, versammelten sich am Zaun des Nachbarhauses, das die Familie von Anjas Bekannten bewohnte, eine Schar von etwa zehn Kindern von sehr klein bis jugendlich. Sie betrachteten uns wie ein Stamm, der Eindringlinge auf seinem Territorium antrifft. Dabei nicht feindselig, sondern eher offen und neugierig, wie ich fand. Später sagte unser Freund, dass er sich durchaus nicht wohl in seiner Haut fühlte. Eines der jüngeren Kinder, ein Mädchen, suchte unsere Aufmerksamkeit mit endlosen Albereien auf sich zu ziehen. Ich lächelte auch betont freundlich zu ihr hinüber.
Nach einer Weile tauchte der Vater auf, begrüßte uns und beendete unser unschlüssiges Herumstehen mit der Aufforderung, doch einfach durch das Kellerloch ins Haus zu steigen. Ich ging voran, klemmte für Paul, der nach mir kam, ein Brett unterhalb des Fensters so ein, dass er drauftreten konnte, und tastete mich durch abermals viel Holzkram in Richtung Treppe.
In der unteren Etage war es wegen der zugemauerten Fenster nahezu finster, weshalb wir gleich in den Dachraum aufstiegen. Dort waren die Giebelfenster und ein paar Luken offen. Wir sahen, dass das Haus in einem erbärmlichen Zustand war. Fenster, Türen, Öfen – alles war weitestgehend kaputt. Das Dach schien zwar dicht zu sein, unter den Betonziegeln gab es jedoch keine Dämmung oder Verkleidung, nur die blanken Balken.
Ich staunte, wie klein das Haus innen war. Sehr, sehr klein.
Der nette Bekannte ließ sich von einem seiner Kinder eine Taschenlampe ins Haus bringen, damit wir uns besser umsehen konnten.
Trostlos.
Draußen sahen wir uns das verwilderte Grundstück an, während Anjas Bekannter Geschichten vom Wohnen am Fluss, von spießigen Nachbarn und über den Wert von Brennholz erzählte.
Einige verschiedene Obstbäume standen da. Pfirsich, Apfel, Sauerkirsche. Bei einem konnten wir uns nicht entscheiden, ob es ein Eierpflaumen- oder ein Aprikosenbaum war, obwohl er voller Früchte hing. Die Bäume waren sehr schön.
Es gab einen Schuppen, groß genug, um ein Atelier einzurichten. Die Chance, Künstler zu werden. Eine Kunst findet sich immer noch.
Donnernd fuhren zwei Züge vorüber. Hundertzwanzig sollen es in zwölf Stunden sein – aller sechs Minuten ein Zug. Nur nicht so regelmäßig. Die Bahnstrecke, noch dazu eine Brücke, ist kaum hundert Meter entfernt. Und der Straßenlärm. Auch nur fünfzig Meter weit.
Eine laute Idylle.
Wir waren voreinander etwas verlegen, als wir nach der Hausbesichtigung auf dem Gelände des alten Hafens den Abend ausklingen ließen. Sagten Belanglosigkeiten, vorsichtige Worte über unsere Eindrücke. „Mh, ist ganz schön verloddert. Muss ’ne Menge dran gemacht werden. Und die vielen Kinder vom Nachbarn...“ „Ach, mich würden die nicht stören. Na ja, vielleicht. Entweder du bist ihr bester Freund oder schlimmster Feind. Und der Lärm von den Zügen! Aber die Bäume, die sind schön...“
Irgendwann sage ich, dass es trotz allem überlegenswert sei, sich das Haus als Wochenenddomizil auszubauen. Anja sieht mich erstaunt an. „Wenn, dann nur zum Wohnen!“ Ich sehe sie erstaunt an. „Nee, niemals. Ist doch viel zu klein – oben ein Raum und unten einer.“ „Stimmt,“ räumt sie schließlich ein.
Mit Belustigung stellten wir fest, dass jeder das Haus mit ganz anderen Augen betrachtet hatte, mit anderen Plänen im Kopf. H., unser Freund, war auch von der Wohnvariante ausgegangen. Als Ort zum Ausspannen viel zu nah an der Stadt, zu laut, durch die Nachbarn wahrscheinlich sehr stressig, und schließlich als zusätzliche Belastung neben der Miete für die Stadtwohnung auch zu kostspielig.
Paul, das Kind, sagte gar nichts zu dem Problem an sich. Nervte im Hafen mit allem Möglichen, das ihm nicht passte, was er nicht durfte. Er verlangte Aufmerksamkeit für sich.
Am Fluss grillten wir über unserem Feuertopf, der immer im Auto mitfuhr, ein paar Würstchen. Paul fand eine tote Möwe, schon sehr unkenntlich. Zwei Reiher flogen über den Fluss. Einige Boote zogen vorbei. Die Uhr ging auf zehn. Am fernen Horizont versank die Sonne. Mücken stachen. Unser Gespräch wandte sich anderen Gedanken zu. „Wie geht’s dir eigentlich?“ Bis auf Paul wurde alles stiller.
Die Grillkohle schaffte es nicht, bis zu unserem Aufbruch verbrannt zu sein. Ich schüttete sie ans Ufer. Unter dem Eisentopf hatte alles Brennbare zu glühen begonnen. Ich übergoss die Stelle mit Wasser aus der Elbe. Es zischte und brodelte bis tief in die Erde, schien es. So sehr hatte sich der Boden unterm Feuertopf erhitzt. Wir staunten über das Wunder Feuer, seine ihm innewohnende Energie.
Zuhause saßen wir noch lange am Küchentisch zusammen. Paul bekam eine Räuber Hotzenplotz-Geschichte, und wir Großen tranken eine Flasche Wein.