Das Helferhaus
Stille lag in der Luft. Eiskalte Stille. Das Haus lag einsam. Es war Winter. Das Haus lag mitten im Schnee. Es war Nacht. Der Mond stand voll und warf sein Licht auf das Haus. Das Haus warf einen dunklen Schatten. Das Haus stand nicht leer. Es war bewohnt. Es wohnte ein Mann darin.
Er wohnte schon viele, viele Jahre hier. Eigentlich solange ich denken konnte. Jeder im Ort kannte ihn. Sein Haus stand etwas außerhalb. Es gab Geschichten über diesen Mann. Gruselige Geschichten. Wir Kinder hatten Angst vor ihm, dabei bekamen wir ihn kaum zu Gesicht. Er vermied es, mit den Menschen zusammenzutreffen. Wenn er einkaufen musste, fuhr er immer in die nächst größere Stadt. Im Ort kaufte er nie ein. Sein Haus war von einem wunderschönen Garten umgeben. Diesen Garten pflegte er mit Liebe und Ausdauer. Alle beneideten ihn um diesen Garten. Aber es wagte auch niemand, sich Ratschläge bezüglich des Gartens zu holen. Der Mann musste uralt sein. Aber er schien keine Gebrechen zu haben.
Die Menschen sagten, er könnte hellsehen. Manchmal, wenn er doch einmal in den Ort ging, grüsste er die Menschen freundlich. Ab und zu sprach er auch jemanden an, aber nur, wenn er diesem Menschen etwas zu sagen hatte. Und das was er sagte, traf auch immer ein. Das war auch der Grund, warum die Menschen Angst vor dem Mann hatten.
Ich weiß nicht, ob er sich alleine fühlte in dem Haus. Er hatte keine Familie, nur seinen Garten. Das Haus war alt. Viel älter als alle, die in dem Ort wohnten. Niemand kannte seine Eltern. Er war auf einmal da gewesen. Vorher gehörte das Haus einer alten Frau. Erst als sie starb, war der Mann gekommen. Auch die Frau war den Menschen unheimlich gewesen.
Es gab Menschen, die munkelten, es wäre das Haus. Dabei war es ein schönes Haus. Es war aus roten Steinen gebaut und es hatte rote Ziegel auf dem Dach. Das ganze Haus war von Efeu umrankt. Man sagte, dieses Haus kannte die Wahrheit. Wer auch immer darin wohnte, der konnte in die Zukunft sehen. Und alle, an die man sich aus Erzählungen erinnern konnte, die in dem Haus wohnten, waren sehr alt geworden.
Jetzt stand ich vor diesem Haus. Es war Nacht und der Mond stand voll und warf sein Licht auf das Haus. Ich hatte Angst, weil ich etwas tat, was man nicht tun sollte. Man stellte sich nicht mitten in der Nacht vor die Häuser fremder Menschen. Aber es war der einzige Weg, der mir einfiel, um das Wissen zu erlangen, dass ich brauchte. Ich musste es unbedingt wissen.
Warum ging ich nicht einfach am helligten Tag zu dem Mann. Ich könnte ihn fragen. Einfach fragen. Aber ich wollte nicht, dass er es erfährt. Ich hoffte einfach, dass es stimmte, was die Leute sagten, nämlich dass es das Haus war und nicht die Menschen, die darin wohnten. Konnte mir das Haus meine Frage beantworten?
Eine Eule schrie in die Nacht hinein. Plötzlich wehte ein eiskalter Wind. Ich fröstelte. Ich musste mich bewegen. Ich öffnete das Gartentor. Vielleicht genügte es, wenn ich vor dem Haus stand? Die Gartentür ging ganz leicht auf. Sie machte keine Geräusche. Der Schnee knirschte unter meinen Schritten. Der Wind wurde stärker, ich drückte die Arme an meinen Körper und ging weiter. Schritt für Schritt auf das Haus zu. Ich hatte Angst.
Jetzt hatte ich das Haus erreicht. Ich legte wie unter Zwang meine Hände an die Hauswand. Plötzlich merkte ich, dass sie warm war. Die Hauswand war warm. Durch die Efeublätter hindurch drang Wärme. Das konnte doch nicht sein. Instinktiv legte ich ein Ohr an die Wand. Ich hörte ein Geräusch. Es war ein Pochen. Wie das Pochen eines Herzens. Nicht laut, eher angenehm und beruhigend. Ich hätte am liebsten auf immer so stehen bleiben mögen. Auf einmal hatte ich keine Angst mehr. Ich kam mir vor wie ein Baby, das im Bauch seiner Mutter ihr Herz schlagen hörte. Jetzt wagte ich es auch an die Haustür zu treten. Ich legte meine Hand auf die Klinke und drückte sie herunter. Sie ließ sich geräuschlos öffnen. In genau diesem Moment verstummte der eiskalte Wind. Meine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, die mir aus dem Haus entgegenkam. Ein warmer Hauch drang aus dem Haus, es roch nach Frühling. Ich trat ein und schloss die Tür hinter mir. Es dauerte einige Momente, bis sich meine Augen an die komplette Dunkelheit gewöhnt hatten. Nicht einmal durch die Fenster drang das Mondlicht. Ich tastete mich an der Wand entlang bis ich eine Tür erreichte.
Auch diese ließ sich lautlos öffnen. Ich blickte sofort auf eine Quelle des Lichts. Es war ein Kamin, in dem lustig die Flammen um einen Stapel Holz züngelten. Ich verharrte in der Tür und dachte kurzfristig: „Bist du eigentlich des Wahnsinns? Was machst du hier in diesem Haus. Wie ein Verbrecher schleichst du dich hier ein!“
Dann vernahm ich ein tiefe, warme Stimme: „ Warum treten sie nicht ein. Wir wollen doch nicht die Wärme entweichen lassen.“ Ich war nicht erschrocken, doch ich wusste nichts zu antworten, also trat ich ein und schloss die Tür hinter mir. „Bitte setzen sie sich doch.“ Eine Hand kam hinter einem Sessel mit hohen Lehnen hervor und deutete auf einen zweiten Sessel. Der Mann war nicht zu sehen und nur diese knöcherne Hand zu sehen, wirkte geradezu grotesk. Es war wie in einem Gruselfilm. Aber meine Angst war gänzlich verflogen. Es lag soviel Wärme in diesem Raum. Es war geradezu einladend. Dieser Geruch nach Frühling stand im krassen Gegensatz zu der anheimelnden Wärme, die aus dem offenen Kamin kam.
Ich trat an den Stuhl heran und setzte mich. „Ich habe schon auf sie gewartet. Ich warte schon sehr lange. Warum sind sie nicht eher gekommen?“ Die Stimme sprach, ohne dass der Mann den Kopf wandte. „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich weil ich Angst hatte.“ „Aber wovor hatten sie Angst? Vor einem alten Mann?“ „Nein. Oder ja, doch. Wissen sie, es gibt da im Ort so einige Geschichten. Nichts schlimmes, eher Unheimliches. Vielleicht bin ich deswegen nicht gekommen.“ „Gut, jetzt sind sie ja da. Also stellen sie ihre Frage.“ „Woher wissen sie, dass ich hier bin, um etwas zu fragen?“ „Das ist ganz einfach. Es kommen nur Menschen, die geplagt werden. Wer mit sich im Reinen ist, würde es niemals wagen, dieses Haus zu betreten. Nur Zweifler kommen. Und Zweifler haben immer Fragen.“ Ich fragte mich, ob der Mann Recht hatte. War ich wirklich ein Zweifler? „Ja, ich zweifle, aber nur in einer Sache. Reicht das schon aus, mich einen Zweifler zu nennen?“ „Ja, das reicht aus. Ich sagte es doch schon. Nur wer mit sich im Reinen ist, der hat auch keine Fragen.“ Der Mann rührte sich noch immer nicht. „Aber es ist doch nur eine Frage. Eine einzige Frage!“ Jetzt stöhnte der alte Mann. „Ja, aber finden sie eine Antwort? Wären sie hier, wenn sie selbständig eine Antwort gefunden hätten? Haben sie aber nicht! Und nun lassen sie uns nicht länger lamentieren. Wollen sie jetzt bitte ihre Frage stellen?“
Jetzt drehte der Mann seinen Oberkörper in meine Richtung. Er hatte einen langen, grauen Bart, der ihm fast bis auf seinen Schoß reichte. Er trug ein Hemd, das flatterhaft um seinen Oberkörper hing. Seine Hände und Teile der Arme waren nicht bedeckt. Sie wirkten skelettartig und ruhten auf den Lehnen des Stuhls. Die Haut, die sich noch um die Knochen spannte, sah aus wie gelbes Pergamentpapier. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Das einzige, was an diesem Individuum noch lebendig wirkte, waren seine Augen. Sie waren von einem eisigen Blau, wie ich es noch nie gesehen hatte. Sie schienen mich durchbohren zu wollen. Unweigerlich stieg eine Röte in mein Gesicht, von er ich hoffte, er würde sie nicht wahrnehmen, denn es gab in diesem Raum nur das Licht, welches das Feuer im Kamin in den Raum warf.
„Ich möchte gerne wissen, ob meine Frau mich noch liebt.“
Der Mann fing an zu lachen. Es war ein tiefes, kehliges Lachen, das den Raum erfüllte. Ich fühlte, wie die Röte wieder in mir aufstieg. Ich kam mir albern vor. Gab es im Leben nicht viel wichtigere Fragen. Elementar wichtigere Fragen sogar? Und hätte ich nicht einfach meine Frau fragen sollen, anstatt mich hier in dieses Haus zu schleichen? Auf einmal kam ich mir so albern vor, dass ich überlegte, aufzustehen und das Haus zu verlassen.
„Nein, bitte bleiben sie.“ Der Mann hatte sich beruhigt. „Sehen sie, ich suche nach Menschen, wie sie einer sind. Solchen Menschen ist nämlich am leichtesten zu helfen. Sie haben ein offenes Ohr und sie versuchen zu verstehen, was man ihnen erzählt. Ohne Menschen, wie ich es einer bin, können die anderen keine Hilfe bekommen.“ Ich verstand kein Wort von dem, was er sagte. „Es ist ganz einfach, mich zu verstehen. Ich bin Bewohner eines Helferhauses. Wir Bewohner sind dafür da, anderen Menschen zu helfen. Aber helfen können wir nur, wenn die Menschen zu uns kommen. Und wenn unsere Zeit abgelaufen ist, müssen wir uns daran machen, einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin zu finden.“
Jetzt war ich perplex. Konnte er meine Gedanken lesen? Wollte er mir wirklich helfen, oder suchte er nur einen Nachfolger? Das konnte nicht sein, sicherlich würde man mich vermissen. Oder würde mich meine Frau nicht vermissen? Vielleicht war sie sogar froh, wenn ich auf einmal nicht mehr da wäre?
„Das sind aber viele Fragen auf einmal!“ Der alte Mann sah mich noch immer durchdringend an. „Ja, sie haben Recht, ich suche einen Nachfolger. Aber, ob sie es sein werden, das weiß ich noch nicht. Das muss ich erst noch überprüfen. Sie wollen wissen, ob ihre Frau noch Liebe für sie empfindet. Ja. Würde sie sie vermissen? Ja.“ Einem Moment lang trat absolute Ruhe ein. Nicht einmal das Knistern des Feuers im Kamin war zu hören. Ich war unsagbar glücklich. Ich hatte erfahren, was ich wissen wollte.
„Sind sie sicher, dass das alles war? Fragen sie sich nicht, warum sie glaubten, das ihre Frau sie nicht mehr liebt, oder sogar ihr Herz an einen anderen verloren hat?“
„Ja, sie haben Recht. Wissen sie eine Antwort?“
„Ja. Es ist ganz einfach. Sie haben sich auseinander gelebt. Ihre Frau ist im Laufe der Jahre geistig gewachsen. Auch ihre Ansichten haben sich geändert. Das ist das Problem der Menschen. Sie haben eine feine Antenne dafür, wenn sich Veränderungen einstellen. Meistens ignorieren sie dieses. Oder sie suchen einen Schuldigen. Aber sie hinterfragen nicht. Wann haben sie sich das letzte Mal mit ihrer Frau über Gefühle unterhalten? Wissen sie was ihre Frau denkt, wie sie fühlt? Sehen sie, mir ist schon so oft dieses Dilemma begegnet. Die Menschen reden nicht miteinander, oder wenn sie reden und der Partner etwas sagt, was dem anderen nicht genehm ist, so zieht er sich zurück und ist beleidigt. Wenn sie nur wieder lernen würden zu reden und sich selber nicht immer so wichtig nehmen würden, dann hätte ich nicht so viele Probleme zu lösen.“
Der Mann hatte Recht und es war eigentlich so einfach, dass ich auch selber darauf hätte kommen können. Aber meine Verzweiflung war so tief gewesen. Die Gespräche, die ich mit meiner Frau geführt hatte endeten in letzter Zeit alle in gegenseitigen Vorwürfen. Ich musste also einfach nur wieder zu sprechen lernen. Ich war dem alten Mann sehr dankbar.
„Ja, sie dürfen jetzt wieder gehen. Sie sind nicht mein Nachfolger. Ihr Leben hat noch so viele Fragen, die sie sich selber beantworten müssen. Aber ich hoffe, dass sie das jetzt auch können. Ich kann nur jemanden gebrauchen, dem das Leben nichts mehr zu bieten hat. Jemand, der seine einzige Aufgabe darin sehen kann, anderen zu helfen.“ „Ich danke ihnen aus tiefsten Herzen, dafür, das sie mir geholfen haben. Kann ich irgendetwas für sie tun?“ „Nein, danke. Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn ich Ihnen geholfen habe. Bitte gehen sie jetzt wieder nach Hause. Wenn sie in den Garten gehen, dann sehen sie rechter Hand ein kleines Gewächshaus. Pflücken sie darin einen schönen Strauß für ihre Frau. Ich wünsche Ihnen alles Gute.“
Als ich vor die Tür trat, war es, als ob der Mond sich kaum bewegt hatte. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Ich sah das Gewächshaus, ging darauf zu, während der Schnee unter meinen Füßen knirschte, und öffnete die Tür. Es roch ganz wunderbar nach Frühling.