Das Interview
Fasziniert und ungläubig zugleich starrte mich die junge Journalistin mit großen Augen an. Dann kritzelte sie hektisch einige Notizen in ihren kleinen Ringelblock. „Das ist ja unglaublich, erzählen Sie mir bitte mehr und vor allem wie Sie auf diese Idee gekommen sind“ fragte mich die aufgeregte oder vielmehr erregte junge Dame. „Nun sehen Sie Fräulein“, - „Ach bitte nennen Sie mich doch Nadja, ja? Ich bin außerdem ein großer Fan ihrer Werke“ warf sie ein – „Nun Nadja, sehen Sie, für mich ist es der ruhigste und gleichzeitig sicherste Ort auf der Welt, den ich mir überhaupt vorstellen kann. Und ich bin schon an vielen Orten gewesen. Außerdem gibt es ja mehr als nur Einen davon“ antwortete ich. Sie schüttelte den Kopf. „So etwas habe ich noch nie gehört und kann es mir auch nur schwer vorstellen. Haben Sie denn keine Angst, vor allem wenn Sie des Nachts dort ihre Geschichten schreiben“? Ich erklärte der noch mädchenhaften Frau, dass es zum einen weder anstößig noch pervers sei und man zum anderen keinerlei Furcht haben müsse, wenn man auf einem Friedhof mitten in der Nacht an einer Geschichte schreibe. „Es ist wirklich nichts Besonderes dabei“ fuhr ich fort, „zugegeben es klingt etwas außergewöhnlich. Und wenn man sich als Außenstehender die eher abartige Szenerie vorstellt, kann der Gedanke an eine Begräbnisstätte, zu der ich mich freiwillig in der Dunkelheit der Nacht begebe, einem schon einen kleinen Schauer versetzten“.
Nadja hielt die Luft an. Ihre Augen funkelten mich regelrecht voller Begeisterung an. „Können Sie mir vielleicht von so einer Nacht auf dem Friedhof erzählen?“, fragte sie neugierig. Natürlich konnte ich. Aber ich bevorzugte es, sie direkt an diesen Ort zu bringen und bat Nadja ihre Utensilien beiseite zu legen, sich entspannt in den Sessel sinken zu lassen und die Augen zu schließen, um sich auf meine Worte konzentrieren zu können. „Stellen Sie sich den Eingang zu einem Friedhof vor. Es ist späte Nacht, die Dunkelheit hat das Licht bereits vor Stunden vertilgt und es in ihrer undurchdringlichen Schwärze verdaut. Sie stehen vor einem Hügel, der von hohen Bäumen verdeckt wird und vor Ihnen liegt ein enger Pfad, der sich verschlungen durch das Dickicht windet. Der betrübte Parkraum ist leer und die kleine Kapelle mit dem angebauten Blumenladen dahinter döst friedlich und ruhig vor sich hin. Sie beschreiten den Weg, langsam und vorsichtig, während schwaches Mondlicht versucht Ihnen den Weg zu zeigen. Mit kleinen Schritten gehen Sie weiter. Der Wind flüstert durch Zweige und Blätter und seine unsichtbare Hand streicht sanft Ihren Körper entlang. Ein Rascheln, Knacken, Knistern und das Knirschen der kleinen Steine unter Ihren Schuhen werden zu unüberhörbaren Lauten in der Stille der Nacht. Sie krallen sich an Ihrem Laptop fest, vergraben Ihre Finger in der Decke, die Sie bei sich tragen und schreiten weiter nach oben. Die Wolken erlauben nun dem Mond seinen Glanz über die grüne Landschaft und über die ausgestorbenen Grabstellen mit ihren verzierten Steinen und Kreuzen zu streuen.
Es ist ein erhabener Anblick, zuerst etwas Furcht einflößend, dann Ehr erbietend und anschließend vertraut und angenehm beruhigend. Die Toten freuen sich auf Sie Nadja, sie heißen Sie Willkommen und laden Sie ein, Platz zu nehmen. Sie breiten die Decke auf einem großen Grab in dessen weichem Gras aus. Entspannt lehnen Sie sich an den Stein in dem Buchstaben und Ziffern eingraviert sind. Sie schauen sich um an dieser idyllischen und ruhigen Stelle, die in harmonischem Einklang mit Ihrem Herzen schlägt und Sie fühlen sich geborgen an diesem Ort. Sie klappen Ihren Computer auf und schalten ihn ein. Sein Licht erhellte die Ansätze von Moos und Pilzen, von Gras, das durch die Kieselsteine steigt und der Inschriften im Grabstein. Ihre Finger fahren an dem kühlen Granit die Buchstaben und Zahlen entlang. Ihr Atem hat sich dem Platz, den Sie sich ausgesucht haben angepasst. Inspiriert beginnen Sie zu lauschen und zuzuhören und schreiben völlig entspannt die besten Geschichten – so zumindest geht es mir, wenn ich dort bin und mich für meine Romane inspirieren lasse“. Nadja öffnete langsam die Augen und brachte zuerst keinen Ton heraus. Mühsam zwang sie ihre Zunge ihre Gedanken in erkennbare Worte zu fassen.
„Das war ja unglaublich, wissen Sie, ich hatte wirklich das Gefühl dort gewesen zu sein und Alles, was Sie beschrieben haben zu sehen und zu erleben“. Mit einem Lächeln nickte ich ihr zu. „Dann haben meine Worte ihren Zweck erfüllt oder“? Nadja nickte heftig. „Aus diesem Grund bewundere ich Ihre Bücher und Geschichten. Sie können so gut mit der Sprache umgehen. Ich meine sie ist so lebendig und bildhaft und erzeugt einzigartige Gefühle bei mir“. Ich wurde etwas verlegen angesichts dieser Lobhudelei, von der ich mir nicht ganz sicher sein konnte, ob sie ernst gemeint war, oder nur Mittel zum Zweck, um verwendbare Informationen von mir zu erhalten, die Nadja dann in ihren Artikel einbauen würde. Sie ergriff mit zittrigen Händen Stift und Notizblock und begann ihre Erlebnisse festzuhalten. Minutenlang schaute ich ihr zu und ließ sie in Ruhe. Nachdem Nadja das Konzept für ihren Artikel stichwortartig skizziert hatte unterbreitete ich ihr einen Vorschlag. „Was halten Sie davon mit mir heute Nacht besagten Platz aufzusuchen und ein schönes Foto für Ihren Artikel zu schießen“. In Nadjas Gesichtsausruck schmolzen Verwirrung, Ungläubigkeit, Skepsis und Unentschlossenheit zusammen. „Ich bin mir sicher Sie haben an einem Freitagabend besseres zu tun als einem drittklassigen Schriftsteller auf einen Friedhof zu begleiten und ich habe durchaus Verständnis dafür, wenn dieser Vorschlag für Sie albern oder töricht klingt. Allerdings könnte die skurrile Szenerie, in der Ihr Interviewpartner auf einer Ruhestätte gegen einen Grabstein lehnt, in ein Bild gebannt Ihrem Artikel den nötigen Schub eines klassischen Aufmachers für die gesamte Seite liefern“.
Nadja willigte ein. Ich schaute auf die Uhr. „Es ist bereits kurz nach Acht und die Dunkelheit kündigt bereits ihr Eintreffen an. Wenn wir so gegen Zehn aufbrechen, können Sie mich mal live in Aktion erleben“ lachte ich zu ihr herüber und Nadja lächelte zurück. „Bis dahin können Sie mich gerne weiter für Ihren Artikel befragen“.
Die junge Journalistin stellte viele sinnvolle und prägnante Fragen, die ich bereitwillig ausführlich beantwortete. Nadja interessierte es zum Beispiel, wie meine Frau zu den nächtlichen Aktivitäten stand. Nun, da ich spätestens beim Morgengrauen meinen nächtlichen Schreibplatz verließ, konnte ich ihr jedes Mal ein herrliches Frühstück bereiten, bevor sie aufwachte. Ansonsten ließ sie mich meinen Tätigkeiten nachgehen und verschaffte mir den notwendigen Freiraum, den ich für meine Geschichten dringend benötigte. Der angehenden Journalistin erzählte ich einige Fakten über meine Kind- und Schulzeit, berichtete dann über meine Erlebnisse während meiner ersten Recherchereisen und erwähnte meine akribischen Vor- und Nachbereitungen, wenn eine meiner Geschichten zwar zu Ende geschrieben, aber dank meiner Kritik noch lange nicht fertig war. Dann stellte Nadja die Frage, die ich eigentlich zu Beginn unseres Gespräches erwartet hatte; warum ausgerechnet sie, nach all den Versuchen der anderen Journalisten und Mitarbeiter, mich besuchen dürfe.
„Natürlich hatte ich Sie nicht namentlich als Reporter für den Artikel ausgewählt“ antwortete ich, „lassen Sie es mich erklären. In einfachen Worten gefasst könnte man sagen, ich verfügte über genügend Gründe. Ich hatte auf einen angehenden jungen Reporter oder besser noch Volontär bestanden, der die Chance in einem Interview mit mir für seine Karriere nutzen sollte. Außerdem ertrug ich die ständigen Anfragen der hiesigen Zeitung nicht mehr, weil sie von einer Belästigung mit zunehmender Dauer zu einer regelrechten Plage wurden. In einem kurzen Telefongespräch teilte ich dem Redakteur deutlich mit, dass ich nur einwilligen werde, wenn ein junges, unbekanntes Talent die Reportage schreiben wird. Der Redakteur, den ich aus früheren Jahren kannte, als ich noch als ehemaliger freier Mitarbeiter um jeden Aufmacher und kleinen Bericht kämpfen musste, willigte mit einem grollenden Brummeln und Zähneknirschen ein. Wahrscheinlich wollte er selbst die Lorbeeren einheimsen und war durch meine Bedingung gezwungen diese Neunzehnjährige loszuschicken, die gerade ihr Volontariat begonnen hatte und nun einen der bekanntesten Menschen in der Stadt interviewen durfte. Nadja blickte verdutzt drein, als sie das hörte und ihre Augen weiteten sich, während sie weiter gebannt zuhörte.
Damals war ich Mitte Zwanzig und hatte gerade ein Praktikum bei der Tageszeitung in meiner kleinen Heimatstadt hier im östlichen Westfalen Deutschlands beendet. Eine Festanstellung sei aufgrund der Rezession, der Konjunktur und depressiven Wirtschaftslage und noch zehntausend weiteren absurden Gründen, oder in meinen Augen Ausreden, leider nicht möglich. Und so erbettelte ich mir wenigstens eine freie Mitarbeit, die ich bereits nach wenigen Monaten wieder aufgeben musste. Die Geschichten, Berichte und Portraits die ich schrieb, gefielen dem Redakteur irgendwie nicht und so erhielt ich im Laufe der Wochen immer weniger Aufträge. Auch meine Ideen für Reportagethemen fanden keinen Anklang und wurden stetig abgewiesen. Dies hatte zur Folge, dass der Aufwand und die damit verbundenen Kosten für einen Artikel um ein vielfaches größer waren, als die spärliche Bezahlung. Meinen Lebensunterhalt konnte ich mir leider auf diese Art nicht finanzieren. Obwohl es mir großen Spaß machte mit Menschen zu sprechen und dann mit der Sprache zu hantieren, um mein eigenes Werk anschließend in der nächsten Ausgabe nicht zu bewundern, aber mit einem gewissen Stolz zu betrachten. Hinzu kam die Gewissheit, dass einige Abonnenten und Käufer mein gedrucktes Werk lesen würden. Gerne hätte ich sogar unentgeltlich als Journalist gearbeitet, so groß war und ist meine Liebe für den Journalismus und für die Schreiberei.
Für die Tageszeitung hatte ich Ende August begonnen zu schreiben und bereits Anfang Dezember beendete ich aus finanziellen Gründen das Arrangement. Nach einer wochenlangen Schock- und Lethargiephase widmete ich mich für einige Monate einer großen Anzahl Bücher bereits toter Schriftsteller, die meines Erachtens zu ihren Zeiten es weitaus besser verstanden den Leser mit der Sprache regelrecht zu packen und zu fesseln, als die Bestseller-Schreiberlinge von Heute. Dank der Hilfe des Staates konnte ich mich über Wasser halten, auch wenn es mir oftmals bereits in Mund und Nase einzufluten drohte. Die Bücher entlieh ich Bibliotheken und Freunden. Nach meinem vierteljährigen Lesewahn, in dem ich nicht nur von Morgens bis Abends las, sondern auch genauso viel Absagen erhielt wie ich fleißig Bewerbungen schrieb – es waren über Achtzig –, entschloss ich mich zu versuchen einen Roman zu verfassen. Leider musste ich der Tatsache ins Auge sehen, dass ich weder genügend Geld für gründliche Recherche, noch für einen Auslandsaufenthalt hatte, und das Internet, so vielfältig es auch sein mag, keine ausreichende Basis für einen Möchtegernautor bot.
So begrub ich meine Vorstellung von fremden und geheimnisvollen Orten, in denen die von mir erdachte Handlungen spielen sollten. Gerne wäre ich nach Paris, Venedig, Danzig aber auch Irland und Asien gereist und hätte deren Eigenheiten, Faszinationen und verborgenen Geheimnisse detailliert und liebevoll beschrieben und sie mit der Idee und Phantasie aus meinem Kopf gepaart. Meine finanzielle Lage aber erlaubte nicht mal eine Busfahrt in die Nachbarstadt oder einen Kinobesuch. Aufgrund dieser kläglichen Tatsachen entschied ich mich für eine Geschichte aus dem Bereich der Phantastik und des makabren Horrors. Nach gut einem halben Jahr verwarf ich meine müheseligen Versuche einen Buchstaben nach dem anderen in richtiger Folge zu setzen und beschloss stattdessen eine Reihe von Kurzgeschichten zu verfassen.
Die ersten beiden von insgesamt fünf Geschichten zogen sich elendig hin, weil ich sie immer wieder überarbeitete, änderte und verbessern wollte. Natürlich war ich während dieser Zeit mein schärfster und härtester Kritiker, auch wenn aus meinem Bekanntenkreis – darunter auch zwei Germanisten – die meisten Personen mit meinem Geschreibsel zufrieden waren. Ich hingegen konnte an manchen Tagen das Bett nicht verlassen, als ich die Frucht meines Könnens, diese stumpfsinnigen Zeilen, die nur von einem Legastheniker oder Analphabeten stammen konnten, las. Bald darauf empfand ich jeden Absatz, dann jede Zeile und anschließend jedes Wort als unerträglich und lächerlich. Wahrscheinlich hatte ich mir zuviel Druck aufgeladen und brauchte eine Pause. In den folgenden Tagen unternahm ich viele Spaziergänge und besuchte die drei Buchhandlungen in meiner Stadt. Dort blätterte ich gierig in neuen und älteren Werken und schöpfte neuen Mut, als ich feststellte, wer sich alles Autor nennen darf und wie viel Unsinn stellenweise gedruckt und veröffentlicht wird.
Mir wurde auch bewusst, dass sehr viel von dem Erfolg einer Geschichte von der Vermarktung abhängt. Aber damit wollte ich mich befassen, wenn es an der Zeit war. Ein knappes halbes Jahr später konnte ich mich endlich durchringen mein Geschreibsel als fertig, korrigiert und druckbereit zu bezeichnen. Dann fing die eigentliche Arbeit an. Rund vierzig Verlage hatten mir mein Skript in sehr schneller Zeit zurück geschickt. Einige schrieben ein paar freundliche, andere Verlage harte und niederschmetternde Zeilen als Antwort. Ausdrücke wie Schund, undurchdacht, nicht verkaufsfähig, literarischer Müll oder fehlendes sprachliches Talent begruben meine ohnehin spärlichen Hoffnungen auf ein veröffentlichtes Buch unter dem mein Name stehen würde. Zwei Monate versuchte ich vergebens mein Glück bei diversen Verlagen in ganz Deutschland. Dann versank ich in tiefe Enttäuschung und Depression. Eine erneute Korrektur oder Überarbeitung konnte ich in dem desolaten Zustand meiner Psyche nicht vollbringen. Meine Familie und die wenigen Freunde versuchten mich immer wieder aufzuheitern, doch meine Laune schlug von anfänglicher Enttäuschung zuerst in Verzweiflung um und dann mit der Zeit in eine phlegmatische Gleichgültigkeit. Irgendwer, vielleicht das Leben, die Gesellschaft, alle Anderen oder ich selbst hatten mir derart zugesetzt, dass ich dachte, ich würde mich von diesem schmerzvollen Niederschlag nie wieder erholen.
Doch dann, ungefähr nach einem halben Monat besuchte mich ein guter Freund, den ich aus unbeschwerten Kindertagen kannte. Er machte mir den Vorschlag, nachdem ich ihm von meiner Lage berichtete, mein Werk aus eigener Kraft versuchen zu vermarkten und dabei auch die deutsprachigen Länder Österreich und Schweiz zu beachten. Vor mir lag viel und vor allem demütigende Arbeit. Ich verfasste einen Brief der meine Absichten und ein Exposé über meinen Roman enthielt und versandte diesen mit einem Probeexemplar an dreißig Buchhandlungen. Zuvor hatte ich mir etwas Geld geliehen, um diese Vorhaben umsetzen zu können. In einer Nachbarstadt hatte ich mir in einer kleinen Druckerei fünfzig Ausgaben meines Werkes drucken und binden lassen. Das Cover, die Gestaltung des Umschlages überließ ich einem Bekannten von mir, der Grafikdesign studiert hatte. Eine angemessene Bezahlung konnte ich in meiner Lage nicht aufbringen, also bot ich ihm als Ausgleich an einige Arbeiten in seinem Haus zu erledigen.
Drei Wochen lang strich ich an, tapezierte und mähte jeden Samstag den Rasen. Geld für Werbung in Zeitungen, für Plakate oder einen Internetauftritt besaß ich keines und die geliehene Summe verschlang im Handumdrehen die Kosten für die Herstellung und Alles, was zu einem veröffentlichten Buch dazu gehört. Nachdem ich per Post mein Glück versucht hatte, ging ich mit einigen meiner Werke Klinken putzen. Ich hausierte bei den Buchhändlern in meiner Stadt und Umgebung, zu denen mich ein Freund fuhr, wenn es seine Freizeit erlaubte. Doch der Erfolg blieb aus und ich war noch nie ein guter Verkäufer gewesen, wenn es darum ging etwas anzupreisen, sogar wenn es sich dabei um meine Arbeit handelte. Die meisten winkten gleich ab oder wollten sich erst gar nicht mit mir unterhalten, als sie begriffen worum es ging. Trost- und nutzlos saß ich in meiner winzigen Wohnung und stellte mir die Frage nach dem Sinn, wie mein Leben weiter verlaufen sollte. Etwas Hoffnung legte ich noch in die angefangene Korrespondenz. Die Antworten der Buchhändler ließen allerdings lange auf sich warten und nach vier Wochen erklärten sich lediglich Sieben von Dreißig bereit, je zehn Exemplare in ihren Läden auszustellen.
Angesichts dieses Erfolgs war ich fürs Erste sehr zufrieden überhaupt auf einem Distributionsweg Fuß gefasst zu haben. Nach einem weiteren Wartezeitraum von zwei Monaten wurden nicht einmal ein Dutzend meiner Bücher verkauft und ich musste mir ernsthafte Gedanken machen meine Idee und meinen Traum für immer begraben zu müssen. In dieser Zeit erzielte ich damit einen Schwindel erregenden Gewinn von 27,83 €. Doch im nächsten Monat erhielt ich ein Schreiben von einer Buchhandlung, deren Besitzer mein Buch gelesen und es dann an einen Verlag gesendet hatte. Dieser Verlag wollte tatsächlich meinen Roman in Deutschland und Österreich vermarkten und orderte mein Werk in einer digitalen Fassung. Von da an lief es, wie man sich leicht vorstellen kann, wesentlich besser. Breit gestreute Werbung sorgte für einen fünfstelligen Verkauf und ich konnte von den Einnahmen meine Schulden bezahlen und endlich einige Reisen für mein zweites Buch antreten. Auf einer davon lernte ich sogar meine Frau kennen. Mit dem Verlag hatte ich keinen Vertrag, der mich eventuell binden und knebeln könnte, unterzeichnet, lediglich eine Absprache getroffen eine Fortsetzung auf demselben Gebiet der Phantastik zu schreiben. Und ein gutes Jahr später stand in vielen Buchläden meine Fortsetzung und so ging es bis heute weiter, wofür ich sehr dankbar bin. Zum einen für den Mut des Buchhändlers, der mein Schicksal zum Guten lenkte und zum anderen für die Leser, denen ich mit meinen Worten allem Anschein nach viel Freude bereite.
Wissen Sie, ich liebe die Sprache sogar mehr als die Musik oder die Kunst, die ich ebenfalls sehr schätze. Erst die darin enthaltene Sprache verleiht einem Lied den Perfektionismus und entfaltet die Musik zu einem Stück, das bei uns viele Emotionen weckt. Ebenso ein prächtiges Bild auf einer Leinwand weckt Gedanken, Erregungen und Gefühle hervor, doch erst durch die Sprache werden diese Emotionen für Andere verständlich und lebendig. Ich halte das geschriebene und gesprochene Wort in der modernen Welt von Heute trotz des Fortschritts im Bereich von Wissenschaft und Technik für die größte Entfaltung der Menschheit“. Nadja hörte mir gebannt zu, schrieb eifrig in ihr kleines Heft und stellte weitere Fragen über mein Leben. Warum ich gerne nachts auf Friedhöfe gehe, um mich von der düsteren, aber für mich angenehmen Atmosphäre inspirieren zu lassen hängt mit einem Erlebnis für mein erstes Buch zusammen. In der Zeit, als sich die Worte aus meinem Kopf nur mühsam und spärlich auf das Papier übertrugen, besuchte ich meinen verstorbenen Großvater, der auf dem Friedhof in meiner Heimatstadt begraben liegt. Dort setzte ich mich bei warmem Sonnenschein neben das eingelassene Kreuz aus Buchenholz in das weiche Gras und teilte ihm meine Sorgen und Nöte mit.
Es mag lächerlich klingen, aber nachdem ich ihm zwei Stunden lang mein Herz ausgeschüttet hatte, ging es mir merklich besser und ich konnte meine Geschichte in den nächsten Wochen zu Ende bringen. Von diesem Moment an besuchte ich Großvater regelmäßig. Leider schauten mich die anderen Besucher und Trauernden immer merkwürdiger an, je öfter sie mich auf dem Grab hocken sahen und ich beschloss daraufhin erst spät abends den Ort, an dem ich mich so verstanden fühlte, aufzusuchen und mit Großvater zu sprechen. In den späten Stunden der Nacht konnte ich mich ungestört mit ihm unterhalten und er hörte mir zu, genauso wie die anderen Toten. Komischer Weise gaben mir die Bewohner des Totenreichs die notwendige Kraft immer dann weiter zu machen, wenn ich glaubte nicht mehr zu können und anfing zu verzweifeln. Nun ist sicherlich zu verstehen, dass meine Vorliebe für Geschichten, die sich an der Grenze zwischen Fantasy und Gruselhorror abspielen, seither ausschließlich diesem Genre gilt. Dabei versuche ich natürlich die Handlungen an düsteren und geheimnisvollen aber gleichzeitig realen Orten geschehen zu lassen, die es überall auf unserer schönen Welt gibt.
Ich hatte mich in die Windungen meiner Ausführungen so sehr verstrickt, dass ich dabei die Uhrzeit völlig außer Acht gelassen hatte. Auch Nadja hatte sich in meine Erzählungen derart vertieft, dass sie fast erschauderte, nachdem ihr Verstand die späten Abendstunden registriert hatte. „Wir sollten jetzt aufbrechen, es ist bereits kurz vor Elf“ sagte ich zu Nadja, die rasch ihre Utensilien zusammen packte und in ihre Tasche verstaute. Die angehende junge Journalistin fuhr leicht zusammen, als ich hinzufügte, dass die Toten uns schließlich schon sehnlichst erwarten würden. Wir fuhren in meinem Wagen zu dem kleinen Friedhof auf dem grünen Hügel gegenüber dem See, an dem ich lebte. Die Einfahrt direkt neben der Bushaltestelle stand wie immer offen, als wir auf den öden Parkplatz rollten, auf dem der Wind das abgefallene Laub vor sich her trieb. Die riesigen Fenster des kleinen Blumenladens waren in Dunkelheit gehüllt und die Kapelle aus orangefarbenen Backsteinen hatte sich in eine plumpe, schwarze geometrische Form verwandelt. Lediglich das Kreuz auf dem Dach warf einen länglichen Schatten über die Stille der Gräber.
Nadja zwängte sich dicht an mich, blickte sich in unregelmäßigen Abständen um und beobachtete die Gegend, als wir den schmalen Weg zu den engen Behausungen der Toten einschlugen. Die Bäume zitterten und winkten mit Warnungen vor weiteren Schritten. Auf dem grünen Hügel ragten die Monumente der Ruhestätten in schwachem Mondlicht empor. Kruzifixe, Statuen, Gebilde und Skulpturen aus Marmor und Granit bewachten Stumm die unterirdischen Eingänge zu den Häusern der Verstorbenen. Der Weg gabelte sich kreisförmig um das Gelände. Mit einem Nicken deutete ich auf ein Grab mit einem fast zwei Meter hohen Marmorblock nur wenige Schritte vor uns. Wir gingen quer durch Gras, Kies und frische Graberde, versuchten behutsam die Blumen, Gestecke und Kränze zu umgehen. Vor dem Grabstein breitete ich die kleine Decke aus, setzte und lehnte mich gegen den kühlen Stein. Nadja schaute sich noch immer etwas beunruhigt um, als sie mir meinen Laptop reichte. Das leicht flackernde Licht des Monitors unterstützte spärlich den kargen Schein des Mondes, das durch die dunkle Wolkenschar gesiebt und gefiltert wurde.
Aber es reichte aus, um einem Foto die düstere Atmosphäre zu verleihen. Nadja nahm die Deckkappe ihrer Fotokamera ab, positionierte mich für ihren Schnappschuss. Ich teilte ihr mit, es wäre besser verschiedene Perspektiven auf ihrer Digitalkamera aufzunehmen. Während die junge Dame eifrig fotografierte, bemerkte ich die vertraute Spannung um uns herum. Der Wind unterbrach sein Treiben, die Luft erfüllte sich mit dem todbringenden Geruch von Fäulnis und modriger Verwesung und die Stille übermannte die ansonsten so lebendige Nacht. Dies bedeutete, dass außer mir und der hübschen jungen Reporterin sich niemand mehr auf dem Friedhof befand, der noch lebendig war. Ich wusste nun genau, dass sie im Schutze der Dunkelheit lauerten. Zwar konnte ich ihre verfaulten Reste an Fleisch und Eingeweiden, ihre aufgeblähten, schwammigen Leiber und vermoderten Knochen, nicht sehen, aber sie waren um uns und warteten.
Der Blitz der Kamera erhellte das Grab um mich herum. Nadja ließ plötzlich von dem Auslöser ab und ihr Apparat fiel mit einem dumpfen Schlag in die Erde. Ihr Mund stand weit offen, ihr Körper bebte und der ausgestreckte Finger ihrer Hand zeigte auf den Bereich hinter mir. Mit krächzenden Lauten versuchte Nadja zu sprechen, während sich ihr Gesicht zu einer abnormen Fratze grässlichen Entsetzens verwandelte. „Da..., da Gestalten..., drüben, stehen..., hinter. „Ich weiß, mein Kind. Sie sind deinetwegen gekommen“. Nadja bekam vor Angst kaum Luft und ihr Körper versteifte sich, schien sich mit dem Erdboden angesichts meiner Worte zu verwurzeln. „Du brauchst keine Angst zu haben junger Mensch. Die Toten erwarten dich bereits. Sie werden dir nun ihre Welt zeigen“. Nadja brach in hysterisches Geschrei und wildes Gekreische aus. Sie versuchte davon zu rennen, stürzte und zwang sich wieder auf die Beine. Nadja rannte um ihr noch so junges Leben. Doch den Toten vermochte sie nicht zu entkommen, wie Keiner es jemals zuvor geschafft hatte. Und was hatten sie sich für Mühe gegeben.
Die unzähligen verwesten Gestalten hatten Nadja nach wenigen Schritten gepackt und ihre Laute in der Dunkelheit der Nacht erstickt. Tote Hände und Arme ergriffen sie, schlangen sich um ihren Körper und Mund. Nadja erblickte in ihren letzten Momenten die furchtbaren Anblicke der verwesten Menschen mit ihren hohlen Augenhöhlen, den zerfressenen Kleidern und den eiskalten Knochen, an denen stellenweise noch vermodertes, blasses Fleisch haftete. Nadja war dankbar, dass der grässliche und grauenerregende Anblick, der ihr sich vor ihren Augen bot nun von einem schwarzen Schleier bedeckt wurde. So schnell sie aus ihren Särgen empor gestiegen waren, so rasch entschwanden sie wieder in die Dunkelheit zurück, und würden jetzt ihrem neuen Gast eine grauenhafte Welt aus Unheil und Chaos zeigen. Als ich die Kamera und Nadjas Notizen einsammelte und meine Sachen zusammen packte, ermunterte mich der Gedanke, dass die Journalistin soeben wohl das beste Interview ihrer Karriere gemacht hatte. Es war in der Tat das Interview ihres Lebens gewesen.
Wohin meine toten Freunde ihre Beute bringen und was sie damit machen, vermag ich nicht zu sagen und es interessiert mich auch nicht. Aber sie leisten mir nun schon viele Jahre lang unschätzbare Dienste, wenn ich sie besuche. Sie helfen mir meine Gedanken zu ordnen und meine Geschichten erfolgreich umzusetzen und sie hören mir zu, wenn ich mit ihnen spreche. Sie haben mir seit unserer ersten Begegnung so viel gegeben und verlangen als Gegenleistung dafür so wenig - nur gelegentlich eine Opfergabe, einen frischen Funken puren Lebens.