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Das Küchenfenster
Als Emily erwachte, hatte sie diesen bestimmten Duft in der Nase. Dieser bestimmte Duft, der nur nach dem Aufwachen ein warmes Gefühl vermittelte, ansonsten wirkte er eher unangenehm in ihrer Nase, heute Morgen aber schmeckte er nach einer guten Erinnerung.
Sie streckte sich, griff nach der Wasserflasche, betrachtete ihre achtlos weggeworfene Kleidung. Lächelte.
Sie spürte die Hand auf ihrem nackten Oberschenkel, hörte die sanften Atemzüge von Derik, dem Dreitagebart-Verschnitt aus dem Leben ihrer Freundin, Janin, den sie gestern in ihr eigenes geschleift hatte.
Emily rüttelte ihn unsanft an der Schulter. ,,Ey man, wo sind meine Kippen?"
,,Weiß nicht, Hosentasche vielleicht?" Murmelte er zurück und klappte die verklebten Lider wieder zu.
Augenrollend wühlte sie sich aus den warmen, braunen, noch süß nach Sperma riechenden, Laken und betastete ihre teure Jeans nach den geliebten Zigaretten.
Aufgeregt rannte Emily die Treppenstufen hinauf. ,,Mama!" Schallte ihre quietschige Stimme über den ganzen Flur. ,,Mamiii!" Oben angekommen musste sie erst einmal nach Luft japsen. Freudestrahlend rannte sie ins Schlafzimmer. ,,Emily! Wie oft soll ich es dir noch sagen,..." ,,...Mum, Katrina hat mich eingeladen..." ,,...dass du im Haus nicht so schreien sollst!" Beherrscht legte Janice weiter das weiße Bettlaken zusammen, schenkte ihrer Tochter nur einen missbilligenden Blick aus ihren durchdringend blauen Augen. ,,Entschuldige. Aber darf ich zum Zelten zu Katrina?" Schweigen. Draußen zwitscherten Vögel auf den akkurat geschnittenen Zweigen und Ästen im Garten. Autos fuhren in ein grünes Wochenende, Kinder schrien vergnügt, während ihre Fahrradreifen quietschend um die Ecke sausten.
Janice lächelte kurz und verkniffen. ,,Von mir aus. Aber frag noch deinen Vater!" ,,Ist gut." Emily war mit einem Schlag wieder mutlos geworden. ,,Und jetzt hilf mir mit der Wäsche, ja?"
Zusammen legten sie Bettlaken für Bettlaken sauber zusammen, sortierten sie in die dafür vorgesehenen Regale, während die fünfzehnjährige Emily mit dem Gefühl in ihrem Bauch haderte, das da rumorte.
Endlich fand sie ihre Lucky Strike, schon fast befridiegt zog sie eine der schlanken Stangen aus der Packung und zündete sie sich hastig an, inhalierte tief mit geschlossenen Augen. Draußen blitzte die Sonne golden durch die Ritzen der geschlossenen Jalousien. Von einem kurzen Hustenanfall geschüttelt stand Emily auf und machte sich auf dem Weg unter die Dusche, während sie die halb gerauchte Kippe im Spülbecken verschwinden ließ. ,,Machst du Kaffee?" Ertönte es von Derik hoffnungsvoll. Seine verschlafene Stimme klang richtig sexy, überlegte sie, mehr funktional anstatt emotional. ,,Mach ihn dir doch selbst!"
Heißes Wasser schlug wuchtig und schwer auf ihren Körper, sie seifte sich betont langsam ein, mit geschlossenen Augen. Sie fixierte sich auf das rotschwarze Bild hinter ihren Lidern, konzentrierte sich auf die kleinen Lichtblitze und stellte sich vor, wie sie in ihnen die Zukunft sehen konnte.
Aber sie konnte keinen der Blitze lang genug in ihren Gedanken festhalten, dazu schlug ihr Herz zu ruhelos und dazu war das Wasser zu heiß. Stattdessen überannten sie die Erinnerungen der letzten Nacht. Des letzten Abends. Janin hatte angerufen, Derik und sie hatten Streit gehabt. Über irgendetwas banales, Emily hatte nach einer Weile gar nicht mehr zugehört. Es war ihr egal. Später rief auch Derik an. Wollte wissen, ob Janin angerufen hätte, er wolle sie verlassen und wisse nicht, wohin. Emily presste ihre Augen noch fester zu. Sie hatte ihm angeboten, herzukommen. Zu reden. Zusammen nach einer Lösung zu suchen. Aber Emily wusste irgendwo in ihrem eingestaubten Verstand, dass sie etwas ganz anderes wollte als reden. Sie wollte Derik. Sex mit Derik. Sie hat es sich nicht eingestehen wollen, das wollte sie nie, wenn es passierte.
Allein das klirrende Besteck war zu hören, als Janice, ihr Mann Chris und ihre Töchter Emily und Beatrice zum Abendbrot aßen. ,,Und wie war es heute, Schatz?" Emily hasste diese glockenhelle, angespannte Stimme ihrer Mutter. Sie hasste diese Fragen, die in das Abendbrotschweigen hinein fielen wie große, schwere Steine in Gewässer, von denen man nie wusste, wie tief sie waren.
Chris kaute ungerührt weiter, tiefe Furchen hatten sich durch die Jahre in seine Stirn gegraben. ,,Wie soll es schon gewesen sein?!"
Janice räusperte sich. ,,Emily möchte dich etwas fragen." Emily fühlte sich, als hätte ihr jemand mit der Faust mitten in ihr Gesicht geschlagen.
Ihr Vater betrachtete sie erwartend. Wilde, grüne Augen in tiefen, schattigen Höhlen. ,,Ich möchte zelten. Bei Katrina." Presste sie durch ihre Lippen hervor. ,,Soso. Zelten also, ja?" ,,Ja, genau. Im Garten ihrer Eltern! Darf ich?" ,,Darüber reden wir noch." Chris sagte das ganz ruhig, aber Emily erkannte das drohende Unheil, welches in dieser Stimme mitschwankte. Beunruhigt starrte sie in ihre halb gelöffelte Suppe, der Appetit war ihr vergangen.
Sie kuschelte sich in ihren Bademantel und schlich auf nackten Füßen in die Küche zurück. Aber zu spät - Derik hatte die Kaffeemaschine längst entdeckt, fläzte an der Küchenbar und blickte ihr aus vergnügten, olivgrünen Augen entgegen. ,,Na!" Seine Stimme klang lange nicht mehr so verschlafen. Schade. ,,Na." Nervös knackte sie mit ihren Fingergelenken. ,,Es war schön, letzte Nacht." Das sagte er ganz selbstverständlich, während er seelenruhig an seinem schwarzen Kaffee nippte.
,,Du hast Janin betrogen und erzählst mir, das war schön?" Protestierte sie, jedoch eher halbherzig. Sie hatte das Gefühl, es wäre ihre Pflicht, das zu tun. Derik lachte höhnisch. ,,Ach komm. Wir beide wissen doch, dass gerade dir das am allerwenigsten ausmacht." Emily überlief es heiß und kalt gleichzeitig. ,,Und selbst wenn, Derik! Du hast Janin betrogen und nur darum geht es doch."
Wieder lachte Derik. ,,Nein Emily. Ich habe sie verlassen! Du weißt so gut wie ich, dass die Beziehung schon lange keinen Sinn mehr hatte!" Emily gönnte sich einen Kaffee. Seine Selbstsicherheit machte sie ein wenig wütend. Als sie sich ihm gegenüber setzte, spürte sie den Ekel aufwallen, den sie immer spürte, wenn es soweit war. Sich gegenüber sitzen, Kaffee trinken und dabei die zerbrochenen Scherben der letzten Nacht zusammen tragen. ,,Emily, wir hatten Sex miteinander, na und?! Du kannst Janin eh nicht ausstehen!" Er redete eindringlich und klar, aber erreichen konnte er sie durch den Nebel der Vergangenheit nicht.
,,Mädchen, was ist los mit dir? Du schaust mich an, als hätte ich dir etwas Schreckliches angetan! Rede mit mir, oder hast du schon vergessen, dass wir Freunde sind?"
Nein, dachte Emily heftig, wir waren Freunde.
,,EMILY!" Sie beeilte sich, dem Gebrüll ihres Vaters zu folgen und rannte in die Küche. Dort fand sie ihren Vater rauchend vor, der scheinbar entspannt blaue Kringel in die Luft blies. Sie ließ sich ihm gegenüber in einem Stuhl nieder. ,,Soso. Zelten also. Nur zelten? Keine Partys, keine Kerle?" Er sah ihr direkt in die Augen und sie spürte, wie sie innerlich immer kleiner wurde. ,,Nein Papa. Nur ganz einfach im Garten zelten." Er starrte sie an, nickte, inhalierte tief das Gift. ,,Also gut. Hör mir jetzt mal genau zu. Wenn du mich anlügst, und glaub mir: Ich finde es raus, wenn du mich anlügst, dann werde ich dich windelweich prügeln. Hast du mich verstanden?!" Das darauf folgende Schweigen lag schwer auf Emilys Schultern, ihr Atem ging stockend und ihr Herz schlug heftig gegen ihre Brust. Ja, das hatte sie. Und wie sie ihn verstanden hatte.
,,Derik. Ich möchte, dass du jetzt gehst. Bitte." Sie sah ihn beim Sprechen nicht an, sah an ihm vorbei, zum Fenster hinaus. Derik sah sie für einen Moment sprachlos an, erkannte in ihrem Blick jedoch, wie ernst es ihr wirklich war. Langsam sammelte er seine Kleidungsstücke ein, warf ihr einen letzten Blick zu: ,,Emily. Es war nur Sex!" Emily schüttelte ihren Kopf.
Leise zog Derik die Tür hinter sich zu.
Sie saß lange so an ihrem Tisch, ihre Hände um den kalten Kaffee geschlungen und sah einfach nur aus dem Küchenfenster, auf den grauen Asphalt und auf die Menschen, die an ihrem Fenster ihre Geschichten vorbei trugen. Manche trugen sie in ihren Aktenkoffern, andere in ihren Handys. Aber wiederum andere trugen sie in ihren Augen. Das waren die, die auch wirklich etwas zu sagen hatten, wenn man sie fragte, was ihr Leben so macht. Das waren die, die hinsahen, wenn etwas vorging in der Welt.
Sie sah sich die vorbei spazierenden Geschichten gerne an, es gab ihr das Gefühl, dass nicht nur ihre eigene wichtig war. Das es mehr gab auf der Welt, als betrunkener Sex und auseinander bröckelnde Beziehungen.
Später ging sie ins Schlafzimmer, kuschelte sich unter die Bettdecke. Deriks vertrauter Geruch klebte noch in den Laken, er hinterließ ein kaltes, abgestandenes Gefühl in ihrem Inneren, so ähnlich wie Zigarettenrauch in einem kleinen Raum.
Sie dachte an seine Hände letzte Nacht und wie sie so gut in ihre gepasst hatten. Dachte an seinen Atem in ihrer Halskuhle und an das Gefühl, einen warmen Körper neben sich beim Einschlafen liegen zu haben. Keinen fremden Körper, sondern einen fremdvertrauten. Und daran, dass sie es in ihrem benommenen Zustand wirklich schön gefunden hatte. Und das sie dem Leben eine Chance geben wollte.
Sie kuschelte sich tiefer in ihre Decke. Deriks Geruch würde verblassen. Sie wieder die Alte sein.
Trotzdem war etwas passiert. Die letzte Nacht würde sich einen Weg bahnen und an ihr Bewusstsein dringen, irgendwann, wenn sie bereit dazu war, bereit, ihrer Vergangenheit zu verzeihen.