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Novelle Das karge Land

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12.02.2020
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Das karge Land

Morgen würde der Adlerjunge in Ennos Comic fünfzehn werden und sich auf den Weg durch das Land der Schmerzen machen. Enno wusste nicht, was den Adlerjungen erwartete, nur, dass seine Reise lebensgefährlich sein würde.
„Was meinst du, Basko?“, fragte er den Mischlingsrüden, der neben ihm im Gras lag. „Soll der Adlerjunge über das Land blicken, das er verlässt, oder seine Tasche packen?“
Er saß im Schatten des Apfelbaums, das Skizzenbuch auf dem Schoß. Die Panels, die bereits fertig waren, lagen vor ihm auf dem Liegestuhl. Basko wedelte schläfrig mit dem Schwanz und Enno wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das bisschen Wind, das durch den Garten zog, hatte sich auf dem Weg über die Felder aufgeheizt und brachte keine Abkühlung. Vorsichtig zupfte Enno einen Käfer aus Baskos Fell und ließ ihn über seinen Handrücken krabbeln. Der Körper schimmerte wie ein grüngoldener Panzer, der ihn vor der Welt beschützte. Aber Enno wusste, dass es nur eine dünne Schale war und er mit nur zwei Fingern das weiche Innere herausquetschen könnte. Er drehte die Hand, damit der Käfer weiterkrabbeln konnte. Sein Comic Das karge Land war bevölkert von Tier-Mensch-Hybridwesen, der Adlerjunge war nur einer davon.

Ein blauer Golf fuhr auf den Hof. Durch das offene Küchenfenster hörte er seine Mutter rufen: „Marten, Ben ist da!“
Enno betrachtete weiter den Käfer. Der Körper war beinahe rechteckig, nur der Kopf war gewölbt. Ein Käferwesen gab es bisher noch nicht im kargen Land.
„Ich bin dann weg, Mama.“
„Viel Spaß und melde dich, wenn ihr da seid.“
Marten trat aus der Terrassentür, einen Rucksack über die rechte Schulter geworfen, in der Hand eine blaue IKEA-Einkaufstausche. Der Käfer flog davon, als er einen Schatten auf Ennos Hand warf.
„Bis Samstag dann!“, sagte Marten und beugte sich über die Blätter mit den Panels. „Was das?“
„Zeug“, sagte Enno, schloss das Skizzenbuch und legte es auf die Panels.
„Is ja gut, Picasso.“ Marten ging.
Als Enno das Skizzenbuch wieder geöffnet auf dem Schoß liegen hatte, zerplatzte eine Kirsche auf einem der Blätter mit den Panels.
„Spinnst du?“, schrie Enno.
„Kunst braucht Provokation!“ rief Marten.
Enno stürmte auf seinen Bruder zu, der eine Handvoll Kirschen in Ennos Richtung warf und ins Auto sprang.
„Arschloch!“ rief Enno den Jungs hinterher, die vom Hof fuhren.
Marten winkte aus dem Fenster. „Bis dann, kleiner Loser, sorry, ich mein‘ Künstler!“
Enno ging zurück zum Liegestuhl. Früher hatte Marten ihm Kirschkernspucken beigebracht. Jetzt war er nur noch ein dämlicher Arsch. Eine Kirsche lag auf dem Cover des Skizzenbuchs, drei weitere waren auf den Blättern mit den fertigen Panels zerplatzt. Ihr roter Saft fraß sich ins Papier wie eine Made in faulendes Fleisch. Enno hätte heulen können, warf die Kirschen in die Hecke und tupfte mit dem T-Shirt den Saft vom Papier. Das karge Land war wichtig. Enno wollte es beim Wettbewerb „Junge Perspektiven“ der Kulturstiftung Niedersachsen einreichen und arbeitete seit acht Wochen daran. Dass sein Bruder es versaut hatte, würde er bereuen. Enno wusste noch nicht wie, aber es würde wehtun.

Obwohl beide Fenster offenstanden, schwitzte Enno, kaum dass er sein Zimmer betreten hatte. Er breitete die Blätter auf dem Schreibtisch aus. Die meisten waren zu retten. Korrekturweiß drüber und fertig, aber bei dreien war nichts mehr zu machen, die musste er neu zeichnen. Er nahm ein leeres Blatt seines besten Papiers, verharrte mit dem Stift in der Hand. Der erste Strich war immer der schwerste. Er dachte an den Käfer, den schimmernden Körper, die schwarzen Beine. Vielleicht könnte der Adlerjunge im Land der Schmerzen in einem toten Käfer Schutz suchen, sich darin vor dem Leid verbergen, das durch das karge Land wehte wie Wind. Zwischen den Felsen sammelte sich so viel davon, dass Geister daraus entstanden, die jeden verfolgten, der in ihre Nähe kam, von einem Besitz ergriffen, bis man selbst zum Geist wurde.
Enno hatte Lust, den Käfer zu zeichnen, aber er zwang sich, die alten Panels zu kopieren. Er zeichnete die Rahmen ohne Lineal. Seine Linien sollten lebendig sein. Das erste Panel: vorne das Camp, im Hintergrund die Berge. Ein paar Linien, ein paar Schatten, fertig. Im zweiten stand der Adlerjunge vor dem Zelt. Manche Linien waren mehr als Kontur. Sie trugen Stimmung in sich. Enno kniff die Augen zusammen, ließ das Bild verschwimmen. Mit diesem Blick sah der Kirschsaft aus wie Blut. Dickflüssig rann es den Arm des Adlerjungen herunter und tropfte in eine Lache am Boden.

Als die Mutter zum Abendessen rief, reckte Enno sich, froh über die Pause. Wenn er weiter so gut vorankam, wäre er in zwei oder drei Tagen fertig. Vielleicht war doch nicht alles verloren. Beim Essen dachte er weiter an den Käfer, an die Geister im Land der Schmerzen und daran, wie sich der Adlerjunge dort verlieren würde.
„Enno!“, sagte sein Vater energisch. „Hast du zugehört?“
„Nein. Was ist denn?“
„Du hilfst im Stall nächste Woche.“
„Was? Ich soll doch den Zaun streichen!“
„In den Ferien, hab ich gesagt, nicht nächste Woche.“
„Dein Bruder hat sein Abi-Abschluss-Camp und Papa braucht Hilfe bei den Schweinen“, sagte die Mutter.
„Aber ich kann nicht!“ Er zwang sich, seinem Vater in die Augen zu sehen. Sie waren von einem sanften Haselnussbraun. In der Mitte die Pupille. Ein schwarzes Loch. Der Vater biss ins Brot und Enno stellte sich vor, es wäre rohes Fleisch und Blut tropfte vom Kinn des Vaters auf die Wachstuchdecke.
„Marten hat meinen Comic versaut. Ich muss alles noch mal neu zeichnen.“
„Ich sitz aufm Drescher“, sagte der Vater. „Den ganzen Tag.“
Enno schüttelte den Kopf. „Das hättet ihr mir früher sagen müssen!“
„Du hast Recht“, sagte die Mutter.
„Hättest du dir denken können“, sagte der Vater. „Du machst morgens die Schweine, hast ab Mittags deine Ruhe. Herrgott, sein Abitur bekommt man nur einmal im Leben und dein Bruder ist nur eine Woche weg.“
Enno schüttelte wieder den Kopf. „Ich kann aber nicht!“ Nicht genug, dass Marten ihm Das karge Land versaut hatte, jetzt sollte er auch noch dessen Arbeit machen und die Schweine versorgen mit ihren unheimlichen Augen. Marten wollte den Hof übernehmen, dann sollte er sich auch darum kümmern.
„Das ist jetzt zwar überraschend, Enno, aber es geht nicht immer nach Lust im Leben“, sagte die Mutter.
„Gut", sagte der Vater, "dann mach ich die Schweine und du holst mit Ronny die Gerste rein!“
Enno schwieg. Auch sein Vater wusste, dass das keine Alternative war. Früher war er gerne auf dem Schlepper mitgefahren, aber die Gerste reinzuholen, würde seine Tage komplett auffressen. Mittags fertig sein, das war das Einzige, worauf er hoffen konnte.
„Um sechs geht’s los."
„Um sechs? Ich hab doch Ferien!“
„Marten fängt im Sommer um halb sechs an“, sagte die Mutter.
Der Stuhl kratzte über den Boden, als der Vater aufstand. „Stell dir den Wecker so, dass du noch frühstücken kannst.“

Vor der Haustür lag Basko.
„Komm, Großer!“, sagte Enno.
Sie verließen das Grundstück, folgten der asphaltierten Straße bis zur alten Eiche, wo ein Trampelpfad zwischen den Feldern hindurchführte.
„Ich sitz aufm Drescher“, äffte Enno seinen Vater nach. „Ist doch nicht mein Problem.“ Aber es war sein Problem. Wenn nur seine Angst vor den Schweinen nicht wäre. Als er fünf war, hatte er gesehen, wie ein Schwein einem anderen den Schwanz abbiss. Er hatte sich hinter Marten versteckt, aber das Schreien des Schweins hatte er trotzdem gehört und es hatte ihn bis in seine Träume verfolgt. Einen Monat lang schlief er bei Marten im Zimmer, auf einer Matratze, die auf dem Boden lag. War er seitdem nicht mehr im Stall gewesen?
Als sie am Bach ankamen, rannte Basko die Böschung hinunter und biss übermütig ins Wasser. Enno setzte sich ins Gras. Vor lauter Wut hatte er sein Handy vergessen. Er rupfte einzelne Grashalme ab und versuchte sie in den Bach zu werfen, aber sie waren nicht schwer genug, um so weit zu fliegen.
„Auf geht’s …“, sagte er schließlich zu Basko.
An der Eiche bog er wieder auf die Straße ein.
Jemand rief: „Enno … hey, warte mal!“ Tom kam leichtfüßig auf ihn zugelaufen.
„Hi!“, sagte Enno erfreut. „Ich hab mich schon gefragt, wann ihr endlich kommt. Bis wann bleibst du?“
„Bis Samstag.“
Nur eine Woche.
„Hier, für dich!“ Tom drückte Enno einen Holzlöffel in die Hand. „Hab ich geschnitzt. Ferienprojekt mit meinem Vater.“ Tom hockte sich hin und kraulte den Hund hinter den Ohren. „Na, Basko, morgen früh zum See?“
Enno schüttelte den Kopf. „Nee, ich muss im Stall helfen.“
„Was?“
„Zwangsarbeit, weil Marten campen ist. Ich könnt echt kotzen.“
„Immerhin, Schweine sind sehr intelligent, vielleicht bringen sie dir was bei.“ Tom lachte.
„Witzig.“
Tom sah zu ihm hoch. „Eigentlich krass, dass ausgerechnet du jetzt ein Teil der Schweineindustrie bist.“
Das stimmte zwar, war aber im Moment Ennos kleinstes Problem. Er fragte sich, wie er eine Woche im Stall überstehen sollte, ohne verrückt zu werden.
„Wie lange musste denn ran?“
„‘ne Woche.“
„Das geht doch noch“, sagte Tom.
Enno zuckte mit den Schultern. „Für dich vielleicht.“ Tom würde ausschlafen oder Holzlöffel schnitzen, während Enno um sechs im Stall stand. Eigentlich hatte Enno geglaubt, dass Tom wüsste, wie sehr er den Stall hasste. Oft genug darüber gesprochen hatten sie jedenfalls.

Am nächsten Morgen weckte ihn der Vater. „Enno! Es ist gleich sechs.“
Widerwillig stand er auf. In der Umkleide, die sein Vater Schleuse nannte, bekam er einen Overall und Gummistiefel.
„Ich bin gleich wieder da“, sagte der Vater und ging.
Enno zog den Overall über und schlüpfte in die kühlen Stiefel. Er stieg in die Wanne mit Desinfektionsmittel, öffnete die Tür zum Stall und stand im Futtergang des ersten Abteils. Der Stall bestand aus fünf hintereinander liegenden Abteilen, die durch Betonwände voneinander getrennt waren. Sie waren nur etwa zwei Meter hoch und reichten nicht bis zur Decke, sodass die Geräusche aller Abteile über die Wände hinweg hallten. Durch schmale Lichtbänder fiel nur wenig Tageslicht in den Stall. Weiter hinten flackerte eine Neonröhre, wahrscheinlich holte sein Vater gerade eine neue.
Vor Enno lagen jeweils zehn Buchten rechts und links vom Gang, in denen die Schweine lebten. Die Luft im Stall war gefüllt mit Ammoniak. Sie strömte in Ennos Lungen bis hin zu den kleinsten Lungenbläschen, fand den Weg ins Blut und nahm seinen Körper ein. Enno stand still. Und die Zeit stand still an diesem Ort der ewigen Dämmerung. Er atmete, erinnerte sich an die Schmerzensschreie, wartete. Aus der Tiefe des Stalls strebte Luft auf ihn zu, stemmte sich schwer gegen seine Brust. Enno holte tief Luft, ruckartig, als würde er sie schlucken. Kurz hatte er Atemnot. Dann wurde ihm schwindlig und er stürzte aus dem Stall in die Schleuse, öffnete die Tür nach draußen. Ein frischer Luftzug umwehte seine Nase, die Tür in der Hand, verengte sich das Sichtfeld von außen nach innen, bis alles schwarz war, und Enno sich, die Tür im Rücken, die Augen geschlossen, langsam zu Boden gleiten ließ.

„Was ist los?“ Der Vater stand vor ihm, hielt eine Leiter in der einen und eine Leuchtstoffröhre in der anderen Hand.
„Bei mir dreht sich alles“, sagte Enno und lehnte den Kopf an die Stalltür.
Sein Vater schaute besorgt. „Du bist auch ganz blass. Geh mal rein und iss was. Und trink auch was! Ich wechsle in der Zwischenzeit die Röhre.“
„Brauchst du was?“, fragte die Mutter, als Enno die Küche betrat.
„Mir ist schwindlig. Papa meint, ich soll was essen.“
Seine Mutter legte die Zeitung beiseite und stand auf. „Setz dich. Willst du Müsli oder Brot? Ich kann dir auch Rührei machen.“
„Ich leg mich besser hin“, sagte Enno.
„Iss doch erst mal was.“
Enno aß Müsli. Langsam und bedacht kaute er die knusprig-süßen Klumpen aus Haferflocken. „Er könnte mir auch eine andere Arbeit geben. Irgendwas anderes als den Stall.“
„Was soll er dir denn geben, Enno? Das Wichtigste ist doch, dass die Schweine versorgt sind. Du wirst nächste Woche fünfzehn, bist fast erwachsen und da heißt es eben manchmal Augen zu und durch.“
Enno nickte. Es gab ja doch keinen Ausweg.
„Man gewöhnt sich an alles, Enno“, fügte die Mutter hinzu. Wahrscheinlich hatte sie recht. Vielleicht sogar mit allem. Er hasste es. Alles. Den Hof, die Schweine, sich selbst und die Angst. Er könnte sich weigern. Aber er brauchte seine Kraft für Das karge Land. Für einen Konflikt mit dem Vater fehlte ihm die Energie. Vielleicht war ja die Arbeit im Stall am Ende gut für Das karge Land. Der Adlerjunge durchquerte das Land der Schmerzen und Enno den Stall.

Wieder im Stall atmete er flach durch den geöffneten Mund. Sein Herz schlug schnell, die Hände schwitzten und er wusste nicht, ob er sich auf seinen Kreislauf verlassen konnte. Er konzentrierte sich auf seine Bauchdecke, so wie Frau Jägerfeldt, seine Deutschlehrerin, es ihm und seinen Mitschülern beigebracht hatte. Er beobachtete, wie sie sich hob und senkte, hob und senkte. Tatsächlich schlug sein Herz langsamer und nicht mehr so hart gegen seine Brust. Mit geschlossenen Augen lauschte er den Geräuschen des Stalls. Von der Decke fiel ein merkwürdiger Hall auf ihn herunter. Unten war nur das Grunzen der Schweine. Keine Schreie.
„Kommst du?“, fragte sein Vater.
Enno folgte ihm in die erste Bucht.
„Du kontrollierst Futterautomaten und Tränken.“ Der Vater drückte den Hebel der Tränke nach hinten. Wasser floss heraus. Er schob ein Pendel am Futterautomaten zur Seite und eine Handvoll Getreideschrot rieselte in den darunterliegenden Trog. „Dann schaust du dir die Schweine an. Jedes Schwein! Ist es krank? Verletzt? Hier …“ Der Vater reichte Enno ein Klemmbrett, in das eine Tabelle gespannt war. „Da kannst du die Buchten abhaken. Wenn du durch bist, rufst du mich an.“
„Und wie sehe ich, ob die gesund sind oder nicht?“
„Du schaust sie dir an. Hier, die sind alle okay, siehst du? Die haben klare Augen. Manche sind neugierig, manche vorsichtig. Das ist alles okay, aber wenn sie rumliegen und nicht aufstehen, wenn du reingehst, wenn sie lahmen oder Gelenke geschwollen sind, du irgendwo einen Blutfleck siehst oder eine Bisswunde. Dann meldest du dich.“
„Okay“, sagte Enno. Es klang nicht allzu schwer, aber Angst, etwas zu übersehen, hatte er trotzdem. Obwohl er sein ganzes Leben auf dem Hof verbracht hatte, wusste er so gut wie nichts über Schweine.
„Du kriegst das schon hin, so schwer ist das nicht“, sagte der Vater. „Du gehst einfach durch alle Buchten. Und ich meine: alle!“
„Und dann bin ich fertig?“
Der Vater lachte. „Noch nicht ganz. Morgen früh kommt der Transporter. Die Auffahrt zum Verladeausgang muss frei sein und stell schon mal die Absperrgitter aus der Scheune an den Ausgang. Dann bist du fertig.“
„Okay“, sagte Enno wieder.
„Du weißt, was zu tun ist?“
„Tränken, Futterautomaten, Schweine. Auffahrt und Absperrgitter“, sagte Enno.
Sein Vater nickte und knuffte ihn freundschaftlich in die Schulter. „Wenn was ist, ruf einfach an … Ich geh jetzt mähen, am Mittwoch solls abkühlen, da will ich die Gülle endlich rausbringen.“ Er verließ den Stall und Enno war allein. Mit den Schweinen.

Er war froh, dass sein Vater nicht geblieben war, um ihm zuzusehen. Er hätte sowieso nur gesehen, wie ängstlich Enno vor der Tür zur zweiten Bucht stand. Seine Hand lag auf dem grauen Eisenrohr. Im Kopf zog er einen Panelrahmen darum. Dann schob er den Riegel zur Seite und öffnete die Tür.
Ein Schwein kam auf ihn zu, dann zwei weitere. Er hielt die Hände hoch, um Berührungen zu vermeiden, prüfte Tränke und Futterautomat, verließ die Bucht. Dann sah er sich die Schweine an. Sie sahen gesund aus. Keine Wunden oder Schwellungen. Die Augen waren klar. Er blieb, bis er sicher war, dass keines humpelte. Nummer Zwei von Hundert – erledigt.
So arbeitete er sich von Bucht zu Bucht. Mit jeder Bucht wurde die Angst kleiner, bis sein Herz schlug, ohne dass Enno es bemerkte. Es war, wie der Vater gesagt hatte, einige der Tiere waren neugierig, sie stürmten auf ihn zu, wenn er die Bucht betrat, andere hielten sich wachsam im Hintergrund. Die Schweine im vierten Abteil waren anders. Langsamer. Träger. Die Augen nicht trübe, aber seltsam leer, ohne Leben dahinter, als bestünden die Tiere aus nichts als Fleisch. Einige blieben liegen, als Enno die Bucht betrat. Die anderen bewegten nur langsam ihre massigen Körper. Enno rief seinen Vater an.
„Das sind die, die morgen rausgehen“, sagte er. „Die sind nicht krank. Die haben über 120 Kilo aufm Buckel. Die sind einfach fertig. So sieht man aus, wenn man fertig ist. Ist bei Menschen nicht anders.“
Enno nickte, legte auf.
Er betrat die nächste Bucht. Die Luft im vierten Abteil war wärmer, roch intensiver und machte ihn schläfrig. Er stand an der Tränke, als etwas Warmes, Feuchtes seine Hand berührte. Er stolperte rückwärts, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Hintern. Der Boden war hart, der Gestank hier unten atemraubend. Bevor Enno aufstehen konnte, stand das Schwein vor ihm. Auge in Auge. Der Schweinerüssel so dicht, dass er die feinen Borsten darauf sah. Ruhig stand das Schwein auf seinen lächerlich kleinen Hufen und sah durch ihn hindurch. Es grunzte. Und Enno floh aus der Bucht. Nachdem sein Herzschlag sich beruhigt hatte, erledigte er die restlichen Aufgaben. Als er fertig war, zog er in der Schleuse Overall und Stiefel aus, rief seinen Vater an, sagte, dass er mit der Arbeit fertig sei und starrte auf die Stiefel dabei. Zwei leere Hüllen, aus denen er geschlüpft war.

Der Transporter fuhr um 6 Uhr auf den Hof. Der Fahrer setzte rückwärts an den Verladeausgang, ließ die Rampe runter und öffnete die doppelflügelige Tür. Es gab zwei Ebenen, beide waren mit Stroh ausgelegt.
„Mach die Tür zum fünften Abteil auf, ich hol schon mal die erste Bucht“, sagte Ennos Vater.
Vierzehn Schweine schoben sich durch den Gang. Gemästet bis zum Rand. Es war ein Wunder, dass die Beine sie trugen.
Die Schweine im fünften Abteil wurden unruhig, als die anderen an ihnen vorbei zum LKW liefen. An der Rampe geriet die Gruppe ins Stocken, aber der Vater war da, trieb sie vorwärts. Er hatte Enno ein Plastikpaddel in die Hand gedrückt und sagte: „Gib ihm eins damit!“
Enno zögerte.
„Na los, gib ihm einen Klaps“, sagte der Vater noch einmal.
Enno gab dem Schwein vor ihm einen Klaps, doch es blieb vor der Rampe stehen.
„Nicht so zaghaft! Na los, hoch mit dir!“ Der Vater trieb das Schwein hoch in den LKW.
Enno gab einem anderen Schwein einen Klaps, fester dieses Mal und es fühlte sich merkwürdig befriedigend an, zu sehen, wie das Schwein die Rampe hoch in den Transporter lief. Es war das Geräusch des Paddels, das es vorwärtstrieb. Dann waren die vierzehn Schweine der ersten Bucht ausgestallt. Der Fahrer hängte ein Trenngitter ein und Enno verlud mit dem Vater die Schweine der zweiten Bucht. Auch heute war es so, wie die Mutter gesagt hatte: Enno gewöhnte sich an das Gedränge der Schweine, ihre Orientierungslosigkeit, das Zögern an der Rampe. Sie grunzten angespannt und quiekten, aber Enno hatte nur ein Ziel: die Schweine auf die Ladefläche des LKW zu treiben. Er haute ihnen das Paddel auf die Flanken und rief: „Los! Los! Los! Hoch mit euch!“ Es war warm, die Arbeit anstrengend. Enno schwitzte, ließ sich aber davon nicht ablenken.
„Nun geh schon!“, sagte er schroff und haute das Paddel so hart auf die Flanke des Schweins vor ihm, dass der Vater sagte: „Du sollst sie nur erschrecken, du musst ihnen nicht wehtun.“
Enno sah den Vater an, nickte. Er wollte den Schweinen nicht wehtun, wollte nur fertig werden, wollte raus aus dem Stall, sich duschen, Musik auf die Ohren. Wie beim Zeichnen blendete er alles aus. Es gab die Schweine, den Transporter und die nächste Bucht. Nachdem fünf Buchten ausgestallt waren, fuhr der Fahrer die erste Plattform hoch und die nächsten fünf Buchten waren an der Reihe. Nach zwei Stunden waren sie fertig. Der Fahrer schloss die Flügeltür, ließ die Rampe hoch, gab dem Vater die Hand und fuhr vom Hof.
„Gut gemacht!“ Der Vater klopfte Enno auf die Schulter.
Enno war erschöpft, aber zufrieden. War es das erste Mal, dass der Vater ihn gelobt hatte? Zumindest erinnerte er sich an nichts Vergleichbares.

Nach dem Verladen machte Enno die Runde durch den Stall und kam deutlich schneller voran als am Tag zuvor. Dann reinigte er die zehn leeren Buchten mit Besen, Schaufel und Schubkarre. Es war Mittag, als er fertig war.
Er duschte sich den Stallgeruch vom Körper, die Schweine aus dem Kopf. Zum ersten Mal fühlte sich Das karge Land wie eine Belastung an. Die Bewerbung bei der Kunstoberschule hing zwar nicht vom Wettbewerb ab, weder von einem Gewinn noch von der Teilnahme, aber für Enno war wichtig, dass jemand seine Arbeit für gut befand. Eine Person, die sich damit auskannte, die offiziell anerkannte, dass es keine Zeitverschwendung war. Aber er war zu erschöpft, um sich in seinem aufgeheizten Zimmer an den Schreibtisch zu setzen. Eineinhalb Blätter mit Panels warteten noch darauf kopiert zu werden, doch zuerst legte er sich im Schatten des Apfelbaums auf die Liege, wo ihm hoffentlich ein bisschen Luft um die Nase wehte. Später würde er am Käfer arbeiten, der ihm vorgestern in den Sinn gekommen war. Kaum hatte Enno sich auf die Liege gelegt, schlief er ein.
Tom weckte ihn und gemeinsam fuhren sie zum See. Sie folgten dem Trampelpfad, bis zu der Stelle, an der die Bäume bis dicht ans Wasser standen und es einen Anlegesteg gab. Vom Steg sprangen sie in den See, schwammen in die Mitte, wo sie versuchten, den Grund zu erreichen. Danach lag Enno auf dem warmen Holz des Stegs, das T-Shirt unter den Kopf geschoben, die Augen geschlossen. Tom saß neben ihm und schnitzte an einem Ast herum, ein gleichmäßiges Kratzen von Metall über Holz, während von der anderen Seeseite Kindergeschrei herüberwehte.
„Das sind meine letzten Sommerferien hier“, sagte Tom.
„Wieso das denn?“
„Meine Oma soll ins Heim. Und das Haus wolln die verkaufen.“
Enno setzte sich auf. Tom war zwar nur in den Ferien da, aber Ennos einziger Freund. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und Tropfen fielen aus Toms Haaren auf Ennos Hand.
„Richtig mies find ich das“, sagte Tom.
„Dann kommst du ohne deine Alten und pennst bei mir.“
Tom drückte das angespitzte Ende des Astes in seinen Daumen, fragte grinsend: „Willste Fische fangen?“
„Nee, bin immer noch Vegetarier.“ Tom und er hatten in den letzten Ferien diesen Entschluss gemeinsam gefasst.
„Ich auch“, sagte Tom, legte seine Hand auf den Steg und berührte Ennos Bein dabei. Hitze ging von ihr aus.

Das Bad im See hatte Enno gutgetan. Erfrischt setzte er sich in den Schatten des Apfelbaums, skizzierte Käferformen, bis er eine fand, die ihm gefiel. Nach dem Abendbrot arbeitete er in seinem Zimmer weiter am Kopieren der vom Kirschsaft ruinierten Panels. Es war nach Mitternacht, als er sich ins Bett legte, neben dem Basko im Schlaf zuckte. Er schlief schnell ein, träumte, er wäre der Adlerjunge. Seine Freunde gratulierten ihm zum fünfzehnten Geburtstag, trugen ihn auf ihren Schultern um einen großen Baum, sie aßen Fladenbrot, tranken Minzbrause, lachten die Angst vor der Zukunft weg und tanzten. Ein Abschiedsfest, trotzig und laut. Am Abend führten sie Enno zu einer Pforte, zweiflügelig und silbern trennte sie ihn vom Land der Schmerzen. Er wusste, er musste sie öffnen, sich der Herausforderung stellen, aber die Angst hinderte ihn. Eine Hand auf seiner Schulter, mit langen, knochigen Gliedern, schob ihn sanft vorwärts. Enno wachte auf, bevor er herausfand, wem die Hand gehörte. Er lag im Bett, in seinem Zimmer, spürte noch die Hand auf der Schulter und das Unbehagen, das ihn im Traum erfasst hatte.
Es war 5:24 Uhr, in sechs Minuten würde sein Wecker klingeln. Am Schreibtisch zeichnete er die Pforte, die ihm Traum begegnet war, ins Skizzenheft. Er erinnerte sich an die Kühle des Metalls. Als er den dunklen Spalt nachzog, der die beiden Flügel trennte, fröstelte er.

Nach der Stallrunde hatte Enno eine Pause. Kurz vor zehn rief sein Vater an, um sich mit ihm am Vorstall zu treffen und die neuen Ferkel einzustallen. Fünf Tage blieben sie hier, danach kam der Umzug in den Hauptstall. Die Ferkel waren klein und lebendig, ganz anders als die trägen Schweine von gestern. Sie wuselten Enno um die Waden, quiekten schrill und aufgeregt. „Ist schon gut“, sagte er sanft, während er mit einem Treibbrett am Eingang der Bucht stand. Nach dem Verladen blieb Enno bei den Ferkeln, die neugierig durch die Bucht liefen. Dann klingelte er bei der alten Frau Meyerhoff. Tom öffnete.
„Hi“, sagte Enno. „Willst du die neuen Ferkel sehen? Sind gerade angekommen.“
Tom schüttelte den Kopf. „Nee du, lass mal …“
Enno lachte. „Die sind echt süß. Kein Vergleich zu den fetten Dingern.“
„Ja, aber in fünf Monaten werden sie auch fette Dinger sein.“
Eine Ohrfeige in Worten. Warum hatte er Tom überhaupt gefragt? Als ob das alles so einfach wäre: hier richtig, da falsch. Enno dumm, Tom erleuchtet. Klar, er wurde zu dem, wogegen sie beide mal gewesen waren. Aber er war immer noch Enno, auch wenn er die Ferkel süß fand. Den Stall fand er immer noch scheiße. Und Massentierhaltung sowieso.
„Alles klar!“ Enno drehte sich um und ging.
„Enno, warte! Jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt!“, rief Tom, aber Enno überquerte die Straße und tat, als hörte er ihn nicht. Er ging zurück in den Vorstall, wo die Ferkel nervös quiekten, genau wie zuvor. Aber sie waren jetzt anders. Sie waren Schweine. Normale Schweine, massig und träge in fünf Monaten. Tom hatte recht und Enno wusste nicht mehr, was er vorher gesehen hatte.

Obwohl die Temperaturen gefallen waren, war Ennos Zimmer immer noch aufgeheizt. Er legte sich aufs Bett und daddelte am Handy. Dann setzte er sich an den Schreibtisch, nahm sich das letzte mit Kirschsaft befleckte Blatt Papier und dachte an die Pforte im Traum dabei. Bisher hatte er noch nicht überlegt, wie der Adlerjunge ins Land der Schmerzen gelangen würde.
Es klopfte. Tom stand in der Tür.
„Was willst du?“, fragte Enno, ohne ihn anzusehen.
„Mich entschuldigen. Ich find das nur so … komisch. Mit dir im Stall. Ich weiß nicht, wie ich mich da verhalten soll.“
Jetzt sah er Tom doch an. „Ich weiß das auch nicht. Und du machst es echt nicht besser mit deinen Witzen und deiner Moralkeule. Ich dachte, du weißt, wie’s mir geht.“
Tom trat ins Zimmer. „Ja, dachte ich auch. Dachte, du bist froh, wenn du hier rauskommst …“
„Bin ich doch auch!“
„Tut mir leid.“ Tom trat näher an Enno heran. „Ich will nicht, dass du dich mies fühlst, wirklich, das ist das letzte … ach, keine Ahnung. Ist das da der Comic? Kann ich mal sehen?“
„Nein, der ist noch nicht fertig.“
Tom zog einen Flunsch.
Enno grinste. „Aber du darfst im Skizzenbuch blättern.“
„Yes!“
Tom setzte sich aufs Bett, während Enno weiter die Panels kopierte.
„Wow“, sagte Tom nach einer Weile, „die Finger sind echt gruselig.“
„Welche Finger?“
„Die an der Tür …“ Tom deutete auf die Skizze der Pforte, die Enno am Morgen gezeichnet hatte. Sie stand einen Spalt offen. Drei knochige Finger griffen hinaus. Enno konnte sich nicht erinnern, sie gezeichnet zu haben. Kälte kroch ihm den Rücken hoch, während er mit dem Zeigefinger über die dürren Finger der Skizze strich. „Ja, gruselig. Aber ich weiß noch nicht, ob ich das so behalte. Im Skizzenbuch ist viel drin, was ich wieder verwerfe.“ Erst jetzt fiel ihm auf, wie sehr die Pforte der silbernen, doppelflügeligen Tür des Schweinetransporters ähnelte.

In der Nacht träumte Enno von Tom. Tom saß lachend zwischen den Ferkeln, die um ihn herumwuselten und mit ihren Rüsseln nach Leckerlis in seinen Taschen suchten. Er ließ sich in das frische Stroh fallen, das überall eingestreut war, und sah genauso glücklich aus, wie Enno sich fühlte.
Eine Gestalt tauchte hinter Tom auf, unheilvoll und fehl am Platz, zerriss die Idylle wie ein Donner die Stille. Sie sah aus wie eines der Wesen aus dem kargen Land, hatte den Körper eines Menschen und den Kopf eines Schweins. Aus den Ärmeln des langen Mantels ragten Hände mit vier knöchernen Fingern. Enno wusste, dass das der Ebermann war und dass er aus dem Land der Schmerzen kam, das hinter der Pforte lag. Er legte Tom die Hand auf die Schulter. Und Tom lachte, als wäre nichts, als gäbe es nur ihn und Enno und die Ferkel. Enno wollte rufen, aber sein Herz schlug so schnell, dass es ihn weckte. Es war bereits hell. Neben ihm lag aufgeschlagen das Skizzenbuch. Darin war ein Panel zu sehen. Es zeigte das Schlafzimmer seiner Eltern. Doch statt seiner Eltern lagen Schweine im Bett. Wieder erinnerte Enno sich nicht, es gezeichnet zu haben. Warum zeichnete er Schweine im Bett seiner Eltern? Er verabscheute die Schweine und wollte sie weder in seinem Skizzenbuch noch im Comic. Und doch waren sie da, hatte er sie gezeichnet.
Er schloss das Skizzenbuch und versteckte es im Schrank zwischen den Winterpullovern. Erst mal weg damit. Dann schrieb er Tom eine Nachricht: „Zum See später?“ Schlafen konnte er nicht mehr. Dann eben Frühstück. Mit vollem Magen startete es sich leichter in den Tag.

Von Osten her schien die Sonne über das Land, tauchte alles in ein warmes Licht und warf lange, reglose Schatten. Auf dem Weg zum Stall hörte Enno ein Rascheln sah im Augenwinkel etwas wie einen Mantel um die Beine seines Schattens wehen. Doch da war kein Mantel nur der Schatten seines Körpers und das leise Schlagen der Niedersachsenflagge, mit der hoch oben am Mast der Wind spielte. Er hörte ein Grunzen, das wie ein Echo aus dem Traum klang, aber schüttelte all die Seltsamkeiten ab.
In der Schleuse zog er sich Overall und Gummistiefel an. Heute musste er nur die Kontrollrunde machen und war kurz nach halb neun fertig. Er ignorierte das Gefühl, dass eine Hand auf seiner Schulter lag. Da war niemand. Niemand, der ihn schubste. Und doch stolperte er und schlug mit dem Kopf gegen die Betonwand. „Scheiße“, fluchte er und rieb sich die schmerzende Stirn, aus der ein dünnes Rinnsal Blut floss.

„Oje, was ist denn mit dir passiert?“, fragte die Mutter.
„Bin gestolpert“, sagte Enno und spürte noch immer die Hand auf der Schulter.
„Komm her, setz dich!“ Sie besah sich die Wunde, säuberte sie, holte ein Pflaster und ein Kühlkissen. „Leg dich erst mal hin. Aufs Sofa, da hab ich dich im Auge.“
Ennos Kopf dröhnte, aber nachdem er eine Schmerztablette genommen hatte, schlief er ein. Als er aufwachte, war es Mittag.
Die Mutter brachte ihm mit Wasser verdünnten Saft und einen aufgeschnittenen Apfel. Er war ungeschickt, ja, aber nicht so, dass er gegen Wände lief. Um nicht darüber nachzudenken, schaltete er den Fernseher ein.
Gegen zwei kam Tom, um mit Enno zum See zu fahren, aber Enno hatte wieder Kopfschmerzen und blieb zu Hause. Am Abend sagte der Vater: „Ich mach morgen den Stall. Du ruhst dich aus.“
Obwohl Enno am Vormittag geschlafen hatte, ging er früh ins Bett und schlief schnell ein.

Am Freitag wachte er früh auf, blieb liegen und schaute aus dem Fenster in den blassblauen Himmel. Kein Stall heute. Dann sah er das aufgeschlagene Skizzenbuch auf dem Schreibtisch liegen. Wann hatte er es aus dem Schrank geholt? Warum erinnerte er sich nicht? Er zögerte einen Moment, bevor er aufstand. In einem Panel war an einen Holzbalken mit einem Messer ein Zettel gepinnt, darauf stand: Du bist. Ein Auge. Eine Hand. Ein Griff. Ein Stück Fleisch. Meine Sprache ist Biochemie. Dein Wille ist Biochemie. Ich entnehme dich der Welt, spanne dich vor, straffe deine Muskeln, traktiere Nervenenden. Ich warte. In Gülle, in deinem Fleisch, zwischen Lidern, unter Zungen. Schweine sterben nicht. Leid verfault. Fault weiter. Durch dich durch. Du stirbst nicht.
Enno wusste: Das waren nicht seine Gedanken. Nicht seine Fantasie. Nicht seine Träume. Es war vielleicht seine Hand gewesen, die das gezeichnet hatte, zumindest erkannte er seine Schrift und auch seinen Strich. Aber das waren die Worte des Ebermanns. Er fuhr mit dem Finger über die Wunde an seiner Stirn. Sie tat noch weh.

Irgendwo zwischen den Seiten des Skizzenbuchs lebte der Ebermann, in der Tinte, im Papier. Das Beste war, es zu verbrennen, mitsamt seinen Bildern und Worten. In der Feuerschale im Garten zündete Enno das Buch mit Grillanzünder an. Die Flammen loderten auf, leckten am Umschlag. Er hatte ein Flackern erwartet, ein Zischen oder letztes Aufbäumen, aber es war nur ein gewöhnliches Feuer, das sich durch die Seiten fraß.
„Was machst du denn da?“, fragte die Mutter, die auf der Terrasse stand und um die Ecke schaute.
„Nichts.“
Sie umrundete die Hecke, stellte sich neben ihn. „Du verbrennst doch was.“
Konnte sie sich nicht um ihre Sachen kümmern? „Mein Skizzenbuch“, sagte er genervt, weil ihm so schnell keine plausible Lüge einfiel.
Schweigend schauten sie in die Flammen.
„Ich bin durch mit dem Zeichnen“, sagte er und erschrak, weil es stimmte.
Enno spürte ihren Blick und starrte weiter ins Feuer.
Nach einer Weile sagte sie: „Enno, ich will dir nicht reinreden, aber … es ist doch nicht vorbei, nur weil’s brennt.“
„Ist doch nur Zeitverschwendung.“
„Soll ich mal mit Papa reden?“
Enno schüttelte den Kopf.
„Oder ist was mit Tom? Habt ihr euch gestritten?“
„Nein.“
Das Buch war verbrannt und glomm in der Feuerschale. Enno ging ins Haus, machte sich ein Müsli und aß es vor dem Fernseher. Die Mutter folgte ein paar Minuten später. Er überlegte zu flüchten, bevor sie weitere Fragen stellte. Aber sie blieb in der Küche und ließ ihn in Ruhe.
Den ganzen Tag lang bewegte sich Enno nur vom Sofa in die Küche, um sich etwas zu Essen zu holen, und zurück. Er versuchte, nicht an den Ebermann zu denken, ließ sich vom Fernseher berieseln und dämmerte hin und wieder in einen unruhigen Halbschlaf. Zwischendurch hörte er seine Mutter an der Tür mit Tom reden. „Er schläft gerade, aber komm doch morgen noch mal vorbei.“

Gegen Abend waren die Kopfschmerzen verschwunden. Er hatte sich ausgeruht und war den Ebermann los. Als der Vater ihn beim Abendessen fragte, wie es ihm ging, sagte er: „Gut. Ich mach morgen wieder den Stall.“
„Dein letzter Tag. Du kannst stolz auf dich sein, hast die Woche durchgezogen.“
Enno schwieg, legte eine Scheibe Käse auf sein Brot und biss hinein. Lob von seinem Vater war echt zu viel für ihn.
Schwer hing das Schweigen über dem Tisch. Bis seine Mutter grunzte. Ein dumpfer, tierischer Laut. Als Enno sie anschaute, sah er den Rüssel. Der Aufschrei blieb irgendwo hinter dem Brustbein stecken. Er sah auf den Vater. Die Augen lagen zu weit außen am Kopf. Es gab kein Weiß mehr darin. Schweineaugen. Sein Mund sah aus, als würde er lachen, aber Enno hörte kein Lachen, sondern ein kehliges Grunzen. Er zwang sich zu atmen. Das war alles nicht echt. Konnte nicht echt sein. Der Ebermann. Er hatte ihn nicht verbrannt. Er war noch da. Enno schloss die Augen, suchte einen Ort des Friedens in seinem Inneren. Als er die Augen wieder öffnete, sah er die feinen Borsten auf dem Rüssel der Mutter. Er lief raus, rief nach Basko, der nicht kam, wusste nicht wohin. Vor dem Haus von Frau Meyerhoff spielte Tom Hacky Sack.
„Hi“, sagte Tom erfreut. Dann: „Was ist los?“
Enno sah Tom an, sah, wie sein Lachen einem besorgten Gesichtsausdruck wich. Tom war der einzige Freund, den er hatte. Sie kannten sich schon ihr ganzes Leben, sahen sich zwar nur in den Ferien, aber Tom war der Einzige, der ihn ehrlich mochte. Nicht einmal von seinen Eltern konnte er das behaupten, zumindest nicht von seinem Vater. In der Schule und auch zu Hause hatte er sich immer wie ein Alien gefühlt. Bei Tom fühlte er sich normal. Ohne nachzudenken, flüchtete er sich in seine Arme, vergrub seine Nase an Toms Hals, atmete seinen Geruch ein und konzentrierte sich nur darauf, wie seine Arme ihn umfassten, fest und sicher. Enno löste sich und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Was ist denn?“, fragte Tom. „Ist irgendwas mit deinen Alten?“
„Nein, aber ich hab gerade das Gefühl, ich werd verrückt.“
„Das ist der verdammte Stall. Der tut dir nicht gut.“
„Das ist es nicht.“
„Aber was dann? Du kannst es mir sagen. Ich hör nur zu und halt meine Klappe. Keine Moralkeule. Versprochen!“
Enno schüttelte den Kopf. Dass er von einem Wesen namens Ebermann verfolgt wurde, würde selbst Tom ihm nicht glauben. Er glaubte es ja selbst kaum. Und was, wenn er Tom damit reinzog? Wer wusste schon, was passierte, wenn man über ihn sprach. Vielleicht öffneten Worte dem Ebermann Tür und Tor.
„Willst du mit nach Hannover kommen?“, fragte Tom. „Du kannst den Comic auch bei mir in Hannover zeichnen.“
„Ach, der Scheißcomic ist doch an allem schuld!“
„Woran denn?“
Es war eine tröstliche Vorstellung, mit Tom nach Hannover zu fahren und alles hinter sich zu lassen. Aber er hatte sein Skizzenbuch verbrannt und der Ebermann war noch da. Er würde auch nicht verschwinden, wenn er die Stadt wechselte oder aufhörte zu zeichnen. Der Ebermann hatte ihn ausgesucht. Enno. Warum, wusste Enno nicht, aber der Ebermann war nicht da, weil Enno zeichnete. Die Panels waren entstanden, weil der Ebermann da war. Der Ebermann wollte, dass Enno die Pforte durchschritt, und ihm wurde klar: Es gab keinen anderen Weg.

Später schlich Enno durch die offene Terrassentür ins Haus. Er legte sich aufs Bett. Als seine Mutter klopfte und in sein Zimmer kam, schloss er die Augen und tat so, als würde er schlafen. Aber er schlief nicht. Er lag wach, starrte gegen die geschlossenen Lider, suchte die Umrisse einer Pforte. Der Ebermann wollte, dass er hindurchging. Aber es gab keine Pforte, sondern nur dieses Ziehen in der Brust, wenn er daran dachte.
Draußen war der Himmel schwarz geworden und aus dem Fenster konnte Enno die Sterne sehen. Wenn er sich die Erde aus dem Weltraum vorstellte, schrumpfte alles, der Hof, er selbst, sogar der Ebermann. Es war eine so beruhigende Vorstellung, dass Enno darüber einschlief. Ein Grunzen weckte ihn. Das Scharren von Hufen. Der Geruch von heißem Eisen. Der Ebermann war in seinem Zimmer. Enno wollte sich drehen, das Licht einschalten, aber sein Körper gehorchte ihm nicht. Panik presste seinen Brustkorb zusammen. Das Grunzen kam näher. Und mit ihm ein Kratzen, als würde etwas Schweres über den Boden geschleift. Die Erstarrung löste sich. Enno machte Licht. Das Herz hämmerte gegen seine Rippen, in den Ohren rauschte es, aber er war bereit. Er wollte den Ebermann sehen, wollte ihm endlich gegenüberstehen.
Doch er war allein. Die Hände an die Schläfen gepresst, versuchte er sich zu beruhigen, aber sein Herz hörte nicht auf, wild um sich zu schlagen.
Er ging zum offenen Fenster, atmete die frische Luft, wurde den Geruch von heißem Eisen nicht los. Er brauchte einen Plan, aber mit dieser Panik konnte er nicht denken. Er holte Mathebuch und -heft aus seinem Rucksack, setzte sich aufs Bett, löste lineare Gleichungen. Obwohl er Mathe nicht mochte. Aber Mathe war nicht verrückt, war Ordnung. Und tatsächlich, sein Herzschlag beruhigte sich. Im Land der Schmerzen sammelte sich so viel Leid zwischen den Felsen, dass Geister daraus entstanden, die von einem Besitz ergriffen, bis man selbst zum Geist wurde. Dein Auge. Deine Hand. Dein Fleisch. Enno betrachtete seine rechte Hand, bewegte die Finger. Es war seine Hand. Er kontrollierte sie.

Im Internet suchte er nach „ebermann“. Nichts. Dann nach „besessenheit“. Nach „dämon“. Nach „wie kann man böse geister vertreiben?“ Onryō wollten Rache. Dibbukim suchten Ruhe. Aber der Ebermann war kein Dämon aus alten Legenden. Er war aus Gülle und Stall geboren.
„Was willst du?“, fragte Enno in die Stille des Raumes, aber niemand antwortete.
Im Bad stellte er sich vor den Spiegel, zog einen imaginären Panelrahmen um sein Gesicht, um sich besser betrachten zu können. Er legte den Kopf schief, schaute ganz genau hin: Ein eckiges Gesicht, die braunen Augen seines Vaters mit dichtem Wimpernkranz. Die Nase zu groß. Der Mund der Mutter. Er sah aus wie immer, wie Enno, nur mit Schatten unter den Augen wie lavierte Tinte. Er ging näher heran, bis das Spiegelbild unscharf wurde, und flüsterte: „Was willst du?“ Bei jedem Wort beschlug der Spiegel, wurde wieder klar. Er wartete. Auf ein Zucken, einen Blick, irgendwas. Aber sein Spiegelbild schaute nur zurück.
„Sag schon was!“
„Was willst du?“
„Verdammt!“
Er stürmte zurück in sein Zimmer, las die ganze Nacht, fand im Internet verwirrend viele Informationen, unzählige Begriffe, komplizierte Zeremonien, angsteinflößende Beschwörungsformeln, und wusste noch immer nicht, was zu tun war.

„Enno!“ Der Vater stand im Zimmer. „Zeit für den Stall!“
Als Enno aufstand, stolperte er beinahe über Basko, der mit dem Boden zu verschmelzen schien. Nur sein wedelnder Schwanz hob sich gestochen scharf ab. Das erste T-Shirt, das Enno aus dem Schrank zog, roch unangenehm nach Waschmittel. Das zweite auch. Im Stall dann schlug der Gestank über ihm zusammen wie eine Welle, die ihm für einen Augenblick den Atem nahm. Die Schweine hatten sich an die hintere Wand zurückgezogen. Eine rosa Masse, in der einzelne Körper nur zu erkennen waren, wenn sie sich bewegten. Er blinzelte, aber das Sehen blieb verschwommen.
„Was ist los mit euch?“, brüllte Enno. Seine Stimme klang tief und kehlig. Er räusperte sich, rannte aus dem Stall, schlich in sein Zimmer. Der Ebermann kommunizierte über Panels, aber Enno hatte sein Skizzenbuch verbrannt. Er nahm das Matheheft, das auf dem Schreibtisch lag, zeichnete ein Panelrahmen auf das karierte Papier, in den er schrieb: Was willst du?
Dann verkroch er sich im Bett. Das Laken war grau, mit feinen schwarzen Strichen in unterschiedlichen Längen. Mit dem Finger fuhr Enno sie nach und zählte die kurzen, dann die mittleren –

Ein Klopfen riss ihn aus dem Schlaf. Die Tür wurde geöffnet. „Enno? Ich wollte tschüss sagen.“
Erleichtert schob Enno das Laken weg. Tom stand in der offenen Tür, schemenhaft und verschwommen, als er jedoch ins Zimmer trat, war jede Bewegung klar und deutlich.
Tom setzte sich neben ihn aufs Bett: „Du kannst anrufen, wenn du es dir anders überlegst.“
Enno rieb sich den Schlaf aus den Augen. „War total schön, dass du da warst.“
Tom nahm seine Hand. „Fand ich auch. Schick ne Nachricht, wenn Das karge Land fertig ist. Ich will das lesen!“
„Hast du gewusst, dass du mein einziger Freund bist?“
„Ich könnte auch bleiben …“
„Nein, ist echt nicht nötig, aber danke.“ Enno versuchte zu lächeln und stand auf. Er war froh, wenn Tom im sicheren Hannover war, außerhalb der Reichweite des Ebermanns.
Auch Tom stand auf. Sie standen sich gegenüber. Enno roch Zahnpasta, Shampoo, Schweiß. Es war ein Moment wie aus einem anderen Leben, surreal, als wäre er direkt aus einem seiner Panels in diese Welt gefallen, ohne Pforte, ohne Ebermann. In diese Welt, die Enno längst verloren hatte. Ihm war nie bewusst gewesen, wie leicht alles gewesen war. Er trat auf Tom zu und küsste ihn. Sanft und zart. Toms Lippen waren weich und Enno nahm sich vor, diesen Moment nicht zu vergessen. Er sog ihn auf mit allen Sinnen. Dann löste er sich und bevor er sagen konnte Ja, bleib hier!, schob er Tom aus der Tür. „Ich sag Bescheid, wenn ich fertig bin. Du bist der Erste, der ihn liest. Versprochen!“, log er.
Er schloss die Tür hinter Tom, legte das Ohr an das lackierte Holz. Eine Weile war es still, dann hörte er Toms Schritte auf dem Flur, dann die Treppe hinunter. Enno fuhr mit dem Zeigefinger über seine Lippen, auf denen er noch den Kuss spürte. War es richtig hierzubleiben oder sollte er Tom nachlaufen, sagen: Warte Tom, ich komme doch mit. Lass uns zu dir nach Hannover fahren, lass uns einen schönen Sommer haben weit weg von allem.

Da sah er das Matheheft offen auf dem Schreibtisch liegen, darin: das Schlafzimmer der Eltern. Das Bett leer. Am Fleischerhaken, der vom oberen Bildrand ragte, hing Basko über einer Lache Blut, neben ihm stand der Adlerjunge, dahinter der Ebermann.
Enno wurde erst kalt und dann übel. Er hörte Metall aufeinanderschlagen, wie das Zuschlagen einer Eisentür. Er würde Basko niemals etwas antun. Das Panel mit den Schweinen im Bett der Eltern, die Kopfverletzung, die Infos zu Besessenheit, Basko am Fleischerhaken. Alles schwebte lose im Raum, ohne Verbindung miteinander.
Panisch rief Enno nach dem Hund. Er lief durchs Haus, fragte die Mutter. Nichts. Draußen schließlich sah er Basko neben Marten im Gras liegen, der unter dem aufgespannten Sonnenschirm in einer Zeitschrift blätterte. Enno stürzte auf den Hund zu, streichelte ihm über den Kopf. Basko knurrte. „Ist schon gut“, sagte Enno. „Ist schon gut. Ich würde dir niemals etwas antun! Niemals!“
„Was ist mit dir?“, fragte Marten.
Enno antwortete: „Seit wann bist du wieder da? Und vor allem: Warum?“
Marten schaute ihn an, fragte: „Wann bist du eigentlich so ein Arsch geworden?“
Enno antwortete nicht. Er stand auf. „Komm mit, Basko!“, aber Basko rührte sich nicht.
„Alter, du siehst echt nicht gut aus“, sagte sein Bruder.
„Kann dir doch egal sein.“
„Isses aber nicht. Ich bin immer noch dein großer Bruder.“
Enno zuckte mit den Schultern.
„Sag doch einfach, was los ist! Du musst nicht immer alles mit dir allein ausmachen.“
Es wäre schön mit jemandem zu reden. Mit Marten, der ihm Kirschkernspucken beigebracht und ihn oft vor den anderen Jungs im Dorf beschützt hatte. Wann hatten sie angefangen, sich gegenseitig zu verletzen? Enno erinnerte sich nicht, aber er wusste, dass er seinen Bruder aus der Welt des Ebermanns raushalten wollte. Jetzt würde er ihn beschützen.
Auf dem Weg ins Haus brannte Martens Blick auf seinem Rücken. Basko ging es gut, er lag im Garten, ihm ging es gut.

Enno legte sich aufs Bett, starrte an die Decke, bekam das Panel nicht aus dem Kopf. Das Bett der Eltern, war es leer gewesen? War es wirklich ihr Bett gewesen? Ihr Schlafzimmer? Er stand auf, schlug das Matheheft auf. Die karierten Decken, der kleine Teppich, die Bettpfosten – ja, es war ihr Bett. Und es war leer. Er legte sich hin, bis ihn die nächsten Fragen an den Schreibtisch trieben. Wo genau hing der Fleischerhaken? War er gegen die Lampe ausgetauscht worden? Hatte der Ebermann die Hand auf die Schulter des Adlerjungen gelegt? Wieder stand er auf, studierte das Panel, legte sich hin, bis neue Fragen in seinen Kopf schossen und er wieder aufstand. Schließlich nahm er das Matheheft mit ins Bett und legte es neben sich.
Marten öffnete die Tür. „Gibt Abendbrot. Und danach einen Film. Ich guck auch einen Anime mit dir.“
„Ist Basko bei dir?“, fragte Enno.
„Ja, liegt unten in der Küche.“
„Gut!“ Enno zog sich das Laken über den Kopf, atmete die schwere Luft darunter ein, sagte: „Ich hab keinen Hunger“, hörte, dass die Tür wieder geschlossen wurde.

Als Enno zu sich kam, war es Nacht. Die Luft roch nach heißem Eisen. Er saß am Schreibtisch. Die Schreibtischlampe brannte. Das Matheheft lag genauso da, wie er es zuletzt hingelegt hatte. Doch ein Messer lag darauf. Die Klinge war blutverschmiert, und als er danach griff, sah er rotbraune Flecken auf seiner Hand.
„Basko!“, flüsterte er. Der Hund war nicht da. Er suchte im ganzen Haus, in dem alle schliefen. Im Zimmer seines Bruders, im Schlafzimmer der Eltern, in der Küche, im Wohnzimmer. Durch die Terrassentür trat er in den dunklen Garten, lief barfuß über die kühlen Steine, den feuchten Rasen, über den Hof, stieß sich den Zeh schmerzhaft an einem Stein, rief leise Baskos Namen, lief weiter zum Klettergerüst, auf dem Marten und er seit Jahren nicht gespielt hatten. Dort fand er ihn. Die Hinterläufe mit einem Seil zusammengebunden hing Basko am Balken der Schaukel. Unter ihm hatte der Boden sein Blut aufgesogen. Ein dunkler Fleck im Mondlicht.
Enno blieb stehen, verstand nicht, was er sah. Dann gaben seine Beine nach. Er sackte auf den Boden. Statt zu schreien, übergab er sich, dann noch einmal. Die Zeit hatte ihre Struktur verloren, implodierte zu diesem einen Moment, der alles andere verschluckte. Der Ebermann hatte Basko getötet. Enno hatte Basko getötet. Alles war still. Seit der Einschulung war Basko sein bester Freund gewesen, der Einzige, der immer für ihn da gewesen war. Nein, Enno hatte ihm das nicht angetan. Aber wer würde ihm das glauben?
Mit einem Messer aus der Werkstatt schnitt Enno den Hund von der Schaukel, wiegte ihn in seinen Armen. Tränen liefen über seine Wangen. Immer wieder sagte er: „Es tut mir so leid. So, so leid!“
Er vergrub ihn neben dem Klettergerüst. Niemand kam mehr hierher. Die Eltern waren zu beschäftigt, um die Spielgeräte abzubauen. Die Erde war hart gebacken von der Sonne. Jeder Spatenstich hallte in seinen Ohren. Er stieß auf Widerstand, steinharte Brocken aus Lehm, die er mit den Händen aufsammelte, bevor er weiter grub. Schweiß lief Nacken und Rücken herunter, überall an ihm klebte Erde. Neben ihm lag Basko.

Als er fertig war, fuhr er mit dem Rad zum menschenleeren See, um sich Blut und Dreck vom Körper zu waschen. Etwas in ihm wusste, was zu tun war. An der Stelle, wo Sand aufgeschüttet war und normalerweise die Kinder tobten, stellte er das Fahrrad ab, zog die Hose aus und ging ins Wasser. Er sah zu, wie er sich wusch, wie er sich auf den Grund des Sees sinken ließ und den Atem anhielt. Um ihn herum nichts als Wasser. Es war schön. Wenn er sitzen bliebe, würde er eins werden mit der angenehmen Schwere, die ihn umgab, müsste nie wieder auftauchen. Doch seine Lungen verlangten nach Luft. Es gab nichts zu wollen. Sein Körper holte sich, was er brauchte, brach aus dem Wasser und atmete.

Auf dem Rückweg stellte er sich vor, wie Basko ihm zur Schaukel gefolgt war, mit wedelndem Schwanz, die Ohren vor Neugierde aufgestellt. Enno weinte. Auf dem Hof stellte er sein Fahrrad in den Schuppen. Seine Eltern waren schon wach und er schlich an der Küche vorbei in sein Zimmer. Ein Film aus wahllos zusammengeschnittenen Szenen lief in seinem Kopf. Der Tag im Supermarkt, als er seine Mutter verloren hatte. Basko am Tag der Einschulung mit einer roten Schleife am Halsband. Eine Rauferei mit Marten. Marten, der mit Enno sein Eis teilte. Tom am See. Die Schwere unter Wasser.
Die Bilder fielen auf Enno wie schweres Geröll, das ihn unter sich begrub. Der Ebermann sollte sich bloß nichts einbilden. Er war nur ein Bild von vielen und Enno hatte genug Angst gehabt. Was sollte der Ebermann ihm noch antun? Er hatte Basko getötet.
„Fick dich!“, sagte Enno und setzte sich an den Schreibtisch. Sollte der Ebermann doch sehen, was Bilder konnten, auch Ennos. Er nahm das Matheheft, zog einen Rahmen und zeichnete: Das Bett der Eltern, die karierten Decken, Gardinen vor den Fenstern. Wo die Deckenlampe hing, platzierte er den Fleischerhaken, daran den Ebermann. Kopfüber, an den Füßen zusammengebunden. In einer Lache Blut stand der Adlerjunge, das Messer in der Hand.

Als Enno fertig war, legte er sich aufs Bett. Nach dem Erwachen wusste er, dass der Ebermann geantwortet hatte. Es gab kein neues Panel, aber das alte war verändert. Der Ebermann hing noch immer am Fleischerhaken im Schlafzimmer der Eltern. An drei weiteren Haken: Mutter, Vater, Bruder. Enno starrte auf die vier ausgeweideten Körper auf dem karierten Papier. Neben dem Ebermann stand der Adlerjunge, das Messer in der Hand.
Was wollte der Ebermann Enno damit sagen?
Es klopfte und Marten steckte seinen Kopf durch den Türspalt. „Enno, ist Basko bei dir?“ Er trat ein und setzte sich aufs Bett. „Ich kann ihn nicht finden.“
Enno schloss das Matheheft. Seine Hand blieb auf dem Umschlag liegen. Sollte das bedeuten, dass seine Familie starb, wenn der Ebermann starb? Vielleicht wollte der Ebermann ihm Angst machen, ihm drohen, weil er selbst Angst bekommen hatte. Wenn er dachte, das würde Enno aufhalten, hatte er keine Ahnung.
„Ich hab ihn schon überall gesucht“, sagte Marten.
Für einen Moment dachte Enno, Marten meinte den Ebermann und fragte: „Was?“
„Basko! Ich kann ihn nicht finden.“
„Ja …“ Basko war tot, aber der Ebermann konnte sich nicht ewig verstecken. Enno würde ihn finden. „Ich geh ihn suchen“, sagte er und verließ das Zimmer.
„Ich komm mit“, rief Marten ihm nach. „Such du auf dem Hof, ich fahr zum Bach und zum See.“
Marten fuhr mit dem Fahrrad vom Hof und rief Baskos Namen dabei. Enno rief nicht. Er hatte Basko begraben, bei der Schaukel, wo niemand mehr hinging. Enno dachte nicht an Basko, sondern an den Ebermann. Er hatte sich in Ennos Träume geschlichen, sich im Schlaf seines Körpers bedient, durch Bilder gesprochen.
Wie sollte er gegen den Ebermann kämpfen, wenn der nur wach war, wenn Enno schlief? Enno musste ins Land der Schmerzen gelangen. Aber wie sollte er eine Pforte öffnen, die es nur im Comic gab oder im Traum?
Er merkte erst, dass er zum Stall ging, als er davor stand. Er hörte das Grunzen der Schweine, doch statt nach Ammoniak roch die Luft nach heißem Eisen. Na, klar! Die ganze Zeit war das Land der Schmerzen direkt vor seinen Augen gewesen.
In der Schleuse nahm er einen der Permanentmarker und zeichnete auf das glatte Kunststoffgrün der Tür: die Umrisse der Pforte, den Spalt, drei knochige Finger.
Er schob die Kappe zurück auf den Marker und betrachtete, was er gezeichnet hatte. Enno wusste nicht, was ihn hinter der Pforte erwartete – wenn es überhaupt eine war. Der Marker schlug dumpf auf dem Boden auf. Enno zuckte zusammen, ließ den Marker liegen und legte die Hand auf die Klinke.


Er stand im Futtergang des ersten Abteils, die Tür fiel hinter ihm zu. Panels bedeckten die Betonwände, waren aber zu weit entfernt, um Details zu erkennen. Die Geräusche, die sonst durch den Stall hallten – Scharren auf Beton, Grunzen, Quietschen von Metall - waren verschwunden. Nur der Atem der Schweine war geblieben. Er bewegte sich durch den Stall wie feuchtwarmer Wind, strich über Ennos Wange. Dies war der Stall und war es nicht. Enno wusste, dass er das Land der Schmerzen betreten hatte. Irgendwo hier, in einem der Abteile, musste der Ebermann sein. Enno ging weiter in den Stall hinein, mit jedem Schritt wurde der Atem der Schweine dichter. Ein leises Stöhnen und Wehklagen lag darin. Er sammelte sich in Ecken, hing in der Luft wie Nebel, legte sich so schwer auf Ennos Körper, dass jeder Schritt anstrengend war. Enno ging durch das erste Abteil hindurch, das zweite, kein Ebermann. Im dritten Abteil begannen sich die Panels an den Wänden zu verändern. Schwarze Striche und Schattierungen wanderten ziellos über den Beton wie Käfer und bildeten immer neue Formen. Die Striche und Schatten bewegten sich auf einen schwarzen Fleck am Boden zu, der sich ausdehnte, wie ein Loch in der Welt, das langsam größer und dunkler wurde. Enno wartete, dass der Ebermann aus diesem Loch aufsteigen würde. Doch stattdessen zog der Fleck den Atem der Schweine an, der gerade noch durch den Stall gewabert und schwer auf Ennos Körper gelastet hatte. Der Druck auf seine Schultern ließ nach. Über dem schwarzen Fleck bildete sich ein dichter Nebel. Dann bewegte sich etwas. Eine schwarze Linie schälte sich aus dem Nebel, formte sich zu einem Knochen, dann zu Haut. Ein Kopf entstand mit Schweineohren, einem Rüssel, einer Schnauze voll unzähliger Zähne. Dann war er da: der Ebermann, entstanden aus Linien, Schatten und dem Atem der Schweine. Er stieß einen Schrei aus, der sich in Ennos Körper bohrte. Der Schmerz ließ Enno auf die Knie fallen. Er zitterte, aber rappelte sich wieder auf. Der Ebermann überragte ihn um eine Kopflänge. In seinem Körper wirbelte der Nebel, dunkel und leise stöhnend. Für diesen Moment war Enno hier.
„Was willst du?“

„Enno?! Was ist das hier?“ Martens Stimme schnitt durch die Stille des Stalls. Enno ließ den Ebermann nicht aus den Augen.
„Was soll das alles, die Panels an den Wänden, vorn an der Tür …“ Martens Schritte näherten sich, verstummten plötzlich und Enno wusste, dass auch sein Bruder ihn sah.
„Was ist das?“ Martens Stimme war jetzt ganz nah, leise und fremd, direkt hinter Enno.
„Geh wieder!“, sagte Enno. Er hielt den Blick weiter auf den Ebermann gerichtet. Marten würde es nicht verstehen. Wie sollte er auch.
„Als wär das Ding aus einem deiner Comics gestiegen …“
„Das ist der Ebermann.“
„Riecht er so?“
Ein tiefer, kehliger Laut kam aus dem Ebermann.
„Hat er Fleisch gesagt?“, fragte Marten. „Will er Fleisch essen?“
„Nein!“, sagte Enno. Er wusste nicht warum, aber er war sich sicher, dass der Ebermann kein Fleisch aß.
Der Ebermann machte einen Schritt auf sie zu.
„Was will er von dir?“, fragte Marten.
„Weiß ich nicht!“
„Dann lass uns gehen!“
„Ich hab die Pforte auf die Tür gezeichnet, darum der Geruch nach heißem Eisen.“
Wieder gab der Ebermann einen dumpfen, kehligen Laut von sich und kam einen weiteren Schritt näher.
„Ich hab schon wieder Fleisch verstanden“, sagte Marten leise. „Ist er gefährlich? Er sieht irgendwie gruselig aus.“
„Er hat Basko getötet“, sagte Enno und trat dem Ebermann entgegen.
„Was?“ Marten packte ihn am T-Shirt. „Lass uns gehen! Komm schon! Das ist doch verrückt.“
„Ist es nicht! Du gehst!“ Enno riss sich los, stolperte in den Ebermann oder wurde gezogen, so genau konnte er das nicht sagen. Der Atem der Schweine fuhr ihm in die Lungen wie ein Schwert, geschmiedet aus Feuer und Leid. Er schnappte nach Luft, doch die Luft war heiß. Alles in ihm brannte, verbrannte zu Asche. Dann war alles Licht.

Als Enno die Augen öffnete, sah er in zwei blaue Augen. Er setzte sich auf.
„Du hast nicht geatmet“, sagte Marten. Er nahm Enno fest in die Arme, der es geschehen ließ.
„Bist du okay?“
Enno nickte. Er erinnerte sich nicht.
„Können wir jetzt gehen? Du hast ihn irgendwie verschluckt.“
Wieder nickte Enno und stand auf.
Marten auch. „Ich werd als erstes dieses Ding von der Tür schrubben!“
Enno sah Marten an. Seinen Bruder. Es gab Worte, die er nicht fand. Er versuchte zu lächeln. Dann ging er an Marten vorbei aus dem Stall. Draußen blendete die Sonne. Er folgte der asphaltierten Straße bis zur alten Eiche, wo er in den kleinen Trampelpfad einbog, der zwischen den Feldern hindurch zum Bach führte, in dem leise das Wasser plätscherte. Klar hob sich die Bewegung des Wassers von dem Gras dahinter ab. Die Hitze trug Stille. Die Stille kroch unter die Haut, in Ohren und Nase. Enno lag auf dem Rücken und betrachtete den Himmel. Eine blaue Haut über gammliges Fleisch gespannt.

Als er später über den Hof ging, hörte er die Schweine nach ihm rufen. Marten hatte, wie angekündigt, die Zeichnung von der Tür geschrubbt und die Pforte zum Land der Schmerzen wieder geschlossen. Als Enno die Tür zum Stall öffnete, empfingen ihn die vertrauten Geräusche. Sie fielen von der Decke auf ihn und die Schweine herab. Er ging ins vierte Abteil, wo die Buchten der einen Seite noch immer leer waren, sauber und desinfiziert. In den anderen wartete das Fleisch, müde nach fünfeinhalb Monaten Mast. Enno setzte sich zu ihnen. Der Boden atmete Ammoniak. Es schnitt in die Schleimhäute wie ein Messer. Enno saß. Wartete. Zwischen dem Fleisch. Vorsichtig kamen die Schweine auf ihn zu, schnupperten an ihm. Ein feuchtwarmer Rüssel streifte seine Wange. Zart strich Enno mit den Fingerspitzen über die feinen Borsten. Er wusste, was der Ebermann wusste: Schweine sterben nicht. Leid verfault. Fault weiter. Durch dich durch.

 

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