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Das Kichern der zerfetzten Fratze des Todes

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12.08.2006
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Das Kichern der zerfetzten Fratze des Todes

Das Kichern der zerfetzten Fratze des Todes
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Der Wind lässt die Flügel knarren - o hohes Glück: Steigst Du noch auf? (Ebn Zaiat)
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Wir zwei Männer schritten nebeneinander die Schneise entlang. Links und rechts rauschte düster der Sturmwind durch das dichte Gesträuch. Eine gebildete Naturgasse, auf der wir liefen.

Es war mein Oheim Rudrich Tobenbock, der bedachte Worte aussprach. Das wilde Haar dabei von heftiger Luft zerzaust, mit den Händen und Armen erregt gestikulierend. Immer wieder wandte er mir sein zerfurchtes, finsteres Antlitz zu. Er war vom Text, den er sprach, selber vollkommen eingenommen. “Junge”, meinte er, “ich sage dir wirklich: Dort ist es nicht geheuer. Und ich spreche darüber nur zu dir, da mir bekannt ist, wie sehr die Vernarrung hier mit deiner ureigenen Persönlichkeit verwoben ist. Ha - wenn ich nur daran denke, wie du damals auf der Suche warst… Ich freute mich darüber, dachte mir: Lass den Kerl einfach noch ein wenig wachsen - einmal ist er reif genug für eine wahre Untersuchung…”

Mir war wohlbekannt, wovon mein Oheim erzählte. Wenn ich je im Leben vor einer Sache Angst gehabt hatte - und ich meine wahre Angst - dann spielte immer dieses Objekt eine Rolle. Mir ging dies jahrelang nicht aus dem Kopfe, doch da es ein Wagnis darstellte - ein sehr intensives gar - stellte und stellte ich das Problem immer wieder zurück. Verdrängen konnte man das allerdings nicht nennen, oder zumindest hatte ich diese bisher noch nicht geschafft - die absolute Verbannung von Gedanken, wenn es diese denn überhaupt gab. Jahrelang waren mir zwar Spintisierungen über jene Thematiken & Problemfelder ferner gerückt, schwächer geworden, doch gänzlich abgestellt hatten sie sich nie. Niemals! Ich konnte nicht anders…

Ein Teil meines Lebens, ein großer Teil, schien der Erforschung von SPUK gewidmet zu sein.

“Komm!”, brummte Rudrich Tobenbock, der Bruder meiner Mutter - “Lasse uns ins Haus gehen. Dort können wir genüsslich über die ganzen Dinge plaudern. Irgendwie bin ich auch froh darüber, mir gewisse Belange von der Seele zu reden. Immer nur ein hohes Schweigen bringt doch niemanden weiter.”

Wir bogen in eine noch schmalere Waldgasse ein, die direkt auf die stolze Villa meines Verwandten hinführte. Unter den Schatten des Abends, die sich nun hernieder senkten, erschaute ich die fast schwarzen Mauern, welche wirklich nicht erbaulich wirkten. Weit davor existierte noch das schiefe Eisentor, welches nun passiert wurde. Dann ging es schnurstracks auf das drohliche Haus zu, welches mit seinen finstrigen Eingeweiden immerhin recht schaurig war, doch nie die wahre Wahnsinnigkeit erreichte, welche das verdammte Ding aufwies, über das sich unsere folgenden Gespräche drehen sollten. Nun war es also soweit… Und zurück wollte ich nicht mehr.

Innerlich bauten sich verworrene Bilder auf. Es waren groteske, verwaschene Vorstellungen von Blut, Leid und Tod - von Liebe eines Vaters zur Missgeburt - von entsetzlichen morschen Wänden, hinter denen noch in der Gegenwart der Irrsinn lauerte. Die ganze Geschichte hatte ich vor Jahren schon gehört, aus dem Munde meines Oheims. Recht für Wahrheit gehalten hatte ich sie allerdings kaum. Nun beschlich mich ein Gefühl, dass Rudrich Details offenbaren würde. Einzelpunkte einer Geschichte, welche die Schrecken der Hölle noch übertreffen dürfte…

“Ich weiß mitnichten, ob du wirklich alles wissen willst”, bemerkte der immer schauriger dreinblickende Verwandte , als wir am mächtigen Portal seines altehrwürdigen Hauses angelangten. Sein Schweigen danach wirkte trocken auf mich, und ein wahrhaft festes Unbehagen ergriff schleichend Besitz von meiner Mentalwelt. Dann tat der groß gewachsene Mann das Tor auf. Ein unendlich langes Geknarr des Türflügels machte sich daran, gehörig die Nerven zu malträtieren. Säuerlich verzog ich das Gesicht, was Rudrich Tobenbock in seiner weitläufigen Aufmerksamkeit augenblicklich bemerkte. Er lächelte für einen Sekundenbruchteil und tätigte sogar eine launische Kurzbemerkung.

“Du wirst noch genug Knarren zu Gehör bekommen, Phillip! Und zahllose andere Geräusche.”

Ich nickte ernst und folgte dem Oheim in die geräumige Halle. Wir legten ab, erfreut darüber, den eisigen Windstößen entkommen zu sein, welche sich auf dem Grundstücke da draußen geduldig austobten. Und alsbald fanden wir uns bei einer guten Import vor dem Kamine ein, der lieblich im Schlunde seine Flämmchen schlängeln und zucken ließ. Kaum saßen wir auch nur eine Minute in den tiefen, recht weichen Sesseln, gab sich vor den Mauern auch trommelnder Regen ein Stelldichein. Heftig pochte es gegen die hohen Bleiglasfenster sowie die Steinsimse außerhalb.

“Müde, Phillip?”

Ich verneinte, obwohl dem so war. Rudrich schenkte zwei doppelstöckige Whiskey ein, platzierte die geschmackvollen Gläser auf dem geschnitzten Beistelltisch und legte hernach noch drei oder vier Scheite Holz im Kamine nach. Wieder im Sessel sitzend, begann er mit einer für ihn ungewöhnlich langen Rede, die ich selbst mit keinem Wort unterbrach. Letzten Endes ging es um diese verfluchte alte Windmühle, die in den einsamen umliegenden Dörfern seit langer Zeit mit ´Höllen-Mühle´ betitelt worden war.

“Weißt du, Neffe - ich habe sehr lange überlegt, dich nochmals nach deinen alten Interessen zu befragen. Schließlich sah ich dich vergangenes Jahr arg zögern bei meinen Vorschlägen. Nun jedoch freue ich mich, dass du umgedacht hast. Es wird nicht zu deinen Ungunsten sein, dies verspreche ich dir hiermit feierlich. Und ich bestehe darauf, dass du das Geld auch annimmst, Phillip! Übrigens hätte ich dich nie auch nur ansatzweise auf das Thema angesprochen, wenn du liiert wärst. Nein, Gedanken an die Frauenzimmer, Heimweh gar - sie zerstören nur alles. Es soll alles so sein, dass du Behagen im Grauen empfindest…”

Hier setzte ich mich doch gedehnter hin, was mein Oheim mit einem weiteren Lächeln quittierte, was bei dem Manne, wie schon leicht erwähnt, mehr als selten geschah. Man konnte dies schon als eine Art emotionalen Ausbruch ansehen bei seinem inneren Bollwerk voller Rationalität & Nüchternheit.

“Verstehe es bitte nicht falsch, Phillip. Es geht nicht um ein Suhlen im Terror, sondern sachliche Beobachtung. Und ich bitte dich inständig, der Stätte zu entfliehen und hierher zurück zu kehren, sobald du auch nur leise Anflüge von Todesangst empfindest. Du wirst Furcht in dir bemerken, keine Frage - doch ich möchte ehrlichsten Herzens nicht, dass diese Unternehmung in Qual ausartet. Um was es geht, ist Wissenschaft. Fachlich fundiert, scharf ins Blickfeld genommen, logisch und kenntnisreich dokumentiert sowie kommentiert. Die Aufzeichnungen wünsche ich mir umfangreich, säuberlich und genau, aber ich bin mir sehr sicher, dass ich mir hier keine Sorgen machen muss. Und wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich nun alles erzählen, was ich von dem verdammten Bauwerk weiß. Ich hoffte nur, es hätte sich nie in meinem Besitz gefunden…”

Rudrich erhob sich mit seinem Glase, ging tief nachdenklich einmal die Kehre im Zimmer, blieb danach unschlüssig am Sessel stehen. Er starrte, dabei irgendwie gemartert ausschauend, in den schmalen Rest Whiskey.

“Ich…”, stammelte er - und auch die folgenden Worte klangen lediglich brüchig auf - “…ich müsste eigentlich selbst nachschauen, mit eigenen Augen beobachten. Es ist traurig für meine Person, jemanden zu schicken. Ich… versteh´ mich bitte richtig, Neffe - am hellen Tage fand ich mich schon öfter am Orte ein - wage nichts mehr Handfestes, weißt du? Vielleicht fühle ich mich… zu alt. Eventuell zu kraftlos. Es ist eigenartig, schwer erklärbar. Es stellt eben ein Faktum dar, dass ich mich bei Nacht nie und nimmer hineinwagen würde. Komisch, nicht wahr?”

Er schaute mich merkwürdig interessiert an, schien eine Entgegnung zu erwarten. Ich nickte in mich hinein und murmelte zwischen zwei Whiskey-Schlucken, dass es so ´komisch´ sicherlich nicht sei. “Jeder verträgt” - so sagte ich - “solcherlei Erscheinungen anders. Dem einen macht es nichts aus, er denkt wohl ständig an natürliche Erklärungen, die freilich nicht vorhanden sind. Dem anderen ist mehr als mulmig zumut. Ein dritter setzt nicht einen Fuß in ein Spuk-Gebäude. Das ist eben alles sehr unterschiedlich.”

Mein Oheim nickte ernst. Weiterer Alkohol gluckerte ins Glas.

“Es war ja auch”, so fuhr er fort - sich dabei wieder hinsetzend - “mehr als bös-grotesk, was da geschehen ist. Man glaubt es eigentlich gar nicht, oder besser: will es nicht wahrhaben. Otto Müller hieß das Wesen - Mensch nenne ich ihn nicht - der die Getreidemühle einst bewohnte. Wie sein Name, so sein Beruf. Sein Weib war lange verblichen, als es in einer entsetzlichen Nacht seinen vernichtenden Verlauf nahm.

Er hatte Kinder gezeugt. Zwei Jungen. Sie waren seitlich zusammengewachsen, besaßen lediglich eine Lunge, einen Magen, einen Darm, doch zwei Herzen. Zwei Arme nur, zwei Beine. Siamesische Zwillinge. Der Fall ging damals durch die Presse und bald durch die Welt. Ein entsetzliches Schicksal. Kein Arzt im Lande nahm die Trennung vor. Ein Überleben nahm sich schwer vorstellbar aus. Bis hierher kennst du die Geschichte, nicht?”

Ich nickte. Um die Gedanken daran besser zu ertragen, schenkte ich mir neu ein. Mit monotoner und noch tieferer Stimmlage berichtete Rudrich Tobenbock weiter.

“Die Zwillinge wuchsen zu jungen Männern heran. Sie hatten ihre Bewegungen so perfekt koordiniert, dass sie in der Mühle sogar arbeiten konnten. Eine große Hilfe für Otto Müller. Doch zu schätzen wusste er es nicht, es schien ihm im Gegenteile selbstverständlich zu sein.

Das Scheusal betrank sich abends oft. Und er hatte schon länger vorgehabt, die Söhne aus seinen Augen zu schaffen. So besorgte er sich einen Eisenkäfig, den er in der Unterkellerung der Mühle unterbrachte.

Eines nachts schlug er, sturzbetrunken, die Zwillinge bewusstlos. In der späteren Gerichtsverhandlung sagte Müller aus, er hätte geglaubt, der Tod wäre eingetreten. Dem war nicht so. Lebend sperrte er sie ein. Und dies wusste er mit Sicherheit auch. Unten im Keller. In den alten, rostigen Eisenkäfig…”

Wie vereist saß ich da. Ich hing regelrecht an den schmalen, trockenen Lippen meines Oheims, der mir die gespenstische Sache erstmalig in voller Länge zu präsentieren schien. Und es wurde noch weitaus grauenvoller! Was ich zu hören bekam, verschlug mir regelrecht die Sprache.

Zunächst sah ich, dass Rudrich nervöser wurde. Er rutschte auf dem Sitze her und hin, stand letztlich auf. Unschlüssig starrte er auf sein geleertes Glas, stellte es schließlich hart auf dem Beistelltisch ab.

“Komm, Neffe!”, sagte er. “Ich kann bei weiteren Erläuterungen nicht still dasitzen. Lasse uns beim Reden ein wenig durch das Haus gehen!”

Ich hatte bestimmt nichts dagegen, und da es die augenscheinliche Unruhe des Verwandten vielleicht zu sänftigen in der Lage war, stand auch ich ruckhaft auf und legte die ausgegangene Import beiseite. So begannen wir denn unseren gemeinsamen Gang durch verwinkelte Räume und Flure, betraten sogar die Stiege zum Dachboden, kamen oben an, redeten auch dort. Und wieder hinab-hinunter ging es, redlich, sinnierend. Noch immer rauschte Regen, der - betrachtet hinsichtlich der Lautstärke seines Geprassels - hier leiser, dort lauter hörbar, je nach Aufenthaltsort. Die schon mystisch zu nennende Stimmung, die mich während seiner Reden nun ergriffen hielt, wird mir unvergesslich bleiben und ist ein wichtiger Begleitfaktor innerhalb meines durchstandenen Abenteuers, welches hier berichtet wird. Die Gefühlswelt beim Durchschreiten der Gemächer, Gänge, Abstellkammern und so weiter, hat mich unbedingt geprägt - noch heute weiß ich übrigens nicht, weswegen eigentlich. Mit sonorem Tone schwang die Stimme des Oheims in Verbindung mit den Lauten der Umgegend von Haus sowie trister Landschaft, und alles - vor allem natürlich der Inhalt des Gesagten - beeinflusste mein Inneres von da ab nachwirkend.

“Vor dem hohen Staate” - so mein Oheim - “sagte Müller etliches aus. Er beteuerte vor allem immer wieder, seine Söhne stets abgöttisch geliebt zu haben - doch gerade jene unendliche Zuneigung zum eigen´ Fleisch und Blut wäre - angeblich - das Verhängnis geworden. Müller konnte die Söhne nicht mehr in dieser Gestalt sehen, wie er behauptete. Sein Gram, der ihn überfiel, wenn er daran dachte, dass alles auch hätte anders kommen können, schuf derart furchtbares Mitleid mit den Zwillingen, dass er sie zunächst nicht mehr sehen konnte & wollte. Deswegen das ´Verwahren der vermutlich Toten als feste Planung´ in dem Käfig. Als er bald das Wimmern der Geschundenen aus den Tiefen seiner Mühle vernahm, welches auch weithin übers Land schallte, war er zunächst nach seinen Aussagen wie gelähmt. Er sah die Zwillinge nicht, doch er hörte sie. Tag und Nacht verfolgten ihn die entsetzlichen Geräusche der Eingepferchten. Doch nichts konnte ihn dazu bewegen, nach ihnen zu sehen. ´Er konnte nicht´ - dies sagte er immer wieder den Richtern. Hier sieht man, wie schwer gestört dieser Klotz war, denn diese Handlungen erscheinen nicht nur völlig unlogisch, sondern sind es auch. Wer kennt die wahren Beweggründe? Niemand mehr, denn die Zeit begrub dies alles unermüdlich unter sich.

Doch dann packte er sich in einer Nacht des absoluten Grauens eine scharf gedengelte Sense, beging unter - wie er sagte - ´nicht endendem Wehleide´ die Unterkellerung. Die siamesischen Zwillinge lagen reglos im Dunkel des Käfigs, aber sie lebten noch immer. Diese Tatsache animierte Müller zum letzten Schritt - er versuchte mit der Sense die Trennung der Zusammengewachsenen…

Ich muss sicher nicht näher erläutern, dass dies zum Tode der Zwillinge führte. Und - bei Gott - ich möchte nie & nimmer wissen, was für Szenerien sich dort unten abgespielt haben. Ein Keller voller Blut & Fleisch, mehr möchte man gar nicht sagen.

Für ihn aber war die Erlösung seiner Söhne erfolgt, wenn er auch bis zuletzt gehofft hatte, die Trennung erfolgreich durchführen zu können. Er wollte sie endlich - so seine Aussage - einzeln vor sich stehen sehen…”

Die ganze unbegreifliche Tragweite des Geschehens ließ mich in dieser Nacht des Regens schier über Parkett, Dielung sowie Teppiche schweben. Der Spuk in der alten Windmühle, welche ich aufzusuchen gedachte, hatte für mich endlich die noch deutlichere Ursache. Endlich wusste ich sehr viel zum Thema, besaß eine gedankliche Grundlage in relativ ausgereifter Form. Und Rudrich berichtete weiter von Otto Müller, dem selbsternannten Chirurgen mit der Sense der Vernichtung…

“Müller stellte sich.” sagte Rudrich Tobenbock. Wir standen mittlerweile im Obergeschoss der Villa innerhalb eines recht ausladenden Erkers mit drei nebeneinander liegenden, breitflügeligen Fenstern. Die karge Landschaft draußen konnte von hier aus recht gut betrachtet werden, doch der Blick lohnte wohl nur für Liebhaber von Melancholie & Schwermut. Ein paar Baumkrüppel, Ebene in Grau, trüber Horizont - mehr gab es nicht zu erschauen.

“Er stellte sich und wurde sofort verurteilt, nachdem man sich von dem Massaker in der Mühle überzeugt hatte. Das Geständnis brachte Müller nichts, er wurde zum Tode verurteilt. Im Winter vollstreckte man das Urteil. Man hatte dazu ein Objekt errichtet, das wir heute noch sehen können - den so genannten Müller-Galgen unmittelbar am Gebäude der Schreckenstat. Der Mann wurde unter wenigen Zeugen nackt aufgeknüpft und hernach - es waren 20 Grad Celsius unter Null - noch mit Wasser begossen. Der Tote gefror zu einem steifen Stock, und da in der Nacht des Erhängens noch heftiger Wind aufkam, baumelte und schlug die knochenharte Leiche beständig gegen die Westwand der Mühle. Du weißt ja, Neffe, wie nah der Galgen an jener Holzwand steht. Manchmal denke ich, man hat dies aus gewisser Perversität heraus mit Absicht so gemacht, dass ständig dieses Anschlagen an das Gebäude erfolgen konnte. Vielleicht wollte man eine wahre Nacht des Grusels erzeugen, hatte dafür extra diese Windnacht gewählt - ich weiß es nicht. Mir ist nur bekannt, dass es sehr verlässliche schriftliche Berichte über diese ganzen Geschehnisse gibt.”

Wieder liefen wir langsam durch das Haus. Mein Verwandter hatte sich eine neue Zigarre angezündet. In diversen Blumenkübeln, die zwar mit Erde gefüllt waren, aber keine Gewächse beherbergten, aschte er von Zeit zu Zeit ab.

“Tja…”, dehnte Rudrich seufzend, “und man soll dies ja noch heute mitbekommen - das Geräusch der baumelnden Leiche an der Mühlenwand. Nachts, bei Wind…”

Er blieb abrupt stehen und drehte seinen Kopf in meine Richtung. Im zuckenden schwachen Schein einer Wandkerze sah ich seine eisgrauen Augen auf mich gerichtet, stier und starrend, von geplatzten roten Äderchen umgeben, die dem Ganzen einen Ausdruck seltsamen Fanatikertums aufhauchten. Im Flüstertone fuhr er fort: “Willst du es wirklich? Wagst du es? Lasse dein Herz sprechen, Junge!”

Ich bejahte fest. Es war nicht meine Art, wie eine feige Katze den Schwanz einzuziehen. Mein Oheim klopfte mir ernst auf die rechte Schulter, und dies hatte etwas in der Art, wie man einen jungen Rekruten in den Krieg ziehen lässt. Wohl wissend, dass eine Rückkehr als Lebendiger nicht unbedingt stattfinden muss. Wir fanden uns im Anschluss an diese unheimliche Hausdurchschreitung im Salon wieder, wo Toddy, der irgendwie alterslos wirkende Lakai, zu uns stieß und sich näselnd nach eventuellen Wünschen seines Herren erkundigte. Rudrich schickte den Mann in seinen Feierabend. Mir selbo hatte sich der Anblick des hageren Mannes, der ein wahres Vogelnest an überdichtem schwarzen Haar auf dem langen Kopfe trug, merkwürdig intensiv eingeprägt. Allein der Name ´Toddy´ konnte als überaus lächerlich bezeichnet werden, und ich wusste natürlich, dass es sich hierbei nicht um den wahren Namen des Bleichen handelte. Die langen dürren Finger, die schiefen Zähne hinter den schnürenartigen Lippen, die gesamte Formung dieser verlorenen Gestalt - dies alles wollte zu einem Lachen animieren, welches aber schon im Ansatz im Halse stecken blieb. Man konnte nicht wissen, ob sich diese Witzfigur vielleicht wie ein Irrer auf einen gestürzt hätte, um die spitzen Fingerknöchel einer harten Rachefaust in Magengrube, Leber, Brustkasten und Antlitz zu rammen. Ich war auf alle Fälle froh, dass dieser nur selten erblickte Toddy wieder aus dem Raume verschwunden war.

Mein Verwandter betrank sich in jener Nacht noch bis zur Besinnungslosigkeit…

Den folgenden Tag nahm ich sehr bewusst in Angriff. Am Nachmittage wollte ich die Mühle aufsuchen. Mir war bekannt, dass es auf Weisung Rudrichs intensivere Vorbereitungsarbeiten gegeben hatte. So befanden sich Kerzen dort, die Wasserpumpe am Gebäude war überprüft worden. Handtücher sowie Dinge des täglichen Gebrauchs lagerten ebenfalls dort. Es schien besiegelte Sache zu sein, dass ich einzog. Dabei stand mir frei, wie ich es handhaben wollte. Ich konnte fortwährende Zeit in der Windmühle verbringen, doch gab es auch die Möglichkeit, lediglich die Stunden der Nacht zu bleiben. Für letztere Möglichkeit hatte ich mich entschieden, denn diesen Bau dort als Wohnstatt für mehrere Tage zu beziehen, erschien mir unbequem und gar sehr mit Langeweile verbunden.

Ich hatte einen Rucksack mit persönlichen Utensilien gepackt. Dies war am Nachmittag geschehen, an dem sich auch der Hauherr endlich aus seinem Lager erhoben hatte. Rudrich sah mich beim Hantieren. Er schaute mir kurz dabei zu, das gequälte, müde Antlitz schief verzogen. Er schwieg. Dann zog er wie ein Geist in einen anderen Teil des Hauses weiter. Ich blieb allein am breiten Erker zurück. An diesem Tage hatte ich - jetzt fiel es mir auf - noch kein einziges Wort gesprochen. Eigentlich war auch alles gesagt. Mein Oheim wusste, dass ich vorhatte, nur in den Nächten am Spuk-Ort zu verweilen. Ich hatte die Schlüssel sowohl für die Mühle als auch für die Villa ausgehändigt bekommen. Das Abenteuer begann somit. Begleitet wurde es vom Wind, der hinter den Fenstern raunte.

Schließlich begab ich mich auf den Fußmarsch zur Mühle, die vielleicht eine halbe Stunde Weg entfernt lag. Es war bedrohlich dunkel. Die Wolkengebirge präsentierten sich dicht und äußerst niedrig. Ich schritt sehr weit aus. Das Gefühl für bald einsetzenden Regen war vorhanden - ich hatte keinerlei Interesse daran, vor dem Betreten noch tropfnass zu werden.

Weite um mich herum, karge und öde Ebene. Nur hier und da von kleinen Hügeln durchzogen. Ganz hinten ging das Grau der Fläche in einen finsteren Horizont über, der wie ein Omen des Unglücks wirkte. Ein merkwürdiger Geruch lagerte über der dunklen Landschaft. Eine monotone innere Beklemmung hielt mein Innerstes umfangen, und die Gedanken verweilten in trübsinniger Erinnerung an hier schon durchstandene Tage und Wochen. Ich ging an einer Gruppe toter Bäume vorbei, in deren kahlen Kronen wild durcheinander gesponnene Weben im Winde zuckten. Mir war nicht klar, wovon sich Spinnen in dieser Gegend überhaupt ernährten. Doch vielleicht handelte es sich um uralte Fäden, die schon vor Jahrhunderten entstanden waren. Derlei merkwürdige Gedanken durcheilten mein Hirn, doch ein Wunder stellte dies nicht dar. Ein sehr flaues Gefühl hatte mittlerweile auch meine Magengegend erreicht. Ich fühlte mich alles andere als wohl. Die leise, schleichende Furcht vor dem Unbekannten. Die Entsinnungen an alles, was mir mein Oheim berichtet hatte. Der Erhängte, der Galgen gleich an der Mühle, der noch immer stand. Die Vorstellung erfüllte mich, nachts das Anschlagen des steifen Leichnams an der Mühlenwand zu vernehmen. Oder aber das entsetzliche, schmerzvolle Gewimmer der eingezwängten Zwillinge aus dem Keller… So vieles konnte geschehen. Für mich war es schrecklich, dass ortsgebundener Spuk so unvorhersehbar und eigenartig sein konnte. Buchblätter tauchten vor meinem geistigen Auge auf - Fachtexte, die ich gelesen hatte, handelnd von Totenerscheinungen, ektoplasmatischen Gebilden, bizarren Materialisationen von Gegenständen, Apportphänomenen. Alles notieren sollte ich, soviel wie möglich aufschreiben für Rudrich. Leicht schüttelte ich den Kopf über die unbegreiflichen Ängste des gestandenen Mannsbildes, die Windmühle bei Dunkelheit aufzusuchen. Mein Oheim schien sich nachts nicht einmal in die Nähe zu wagen… Dies wieder warf die Frage in mir auf, ob ich nun mutig oder lediglich verrückt war. Vermutlich eine Mischung aus beidem.

Ich stieg eine kleine Anhöhe hinan. Gleich würde ich sie zu Gesicht bekommen, jene berüchtigte ´Höllen-Mühle´… Würde diese mich ankommen sehen? War ich willkommen? Ich hatte nicht die geringste Ahnung. Mir war nur eines klar: Ohne Schrecken würde ich nicht davonkommen… Mit ziemlicher Sicherheit würde die Mühle sich mir offenbaren. Dass ich in diesem Punkte irrte, konnte ich zum Zeitpunkte meines Anmarsches nicht wissen.

Der Wind wehte tausend Stimmen um mein Ohr. Und alle schienen mich anzuflehen, noch umzukehren…

Als ich oben auf dem Hügel war, sah ich sie schon von Weitem - die alte, düstere Paltrockwindmühle, ein Umbau aus einer alten Bock-Version. Das Gebäude war ziemlich mächtig auf seinem Rollenkranz, und neben schwerer Maschinerie befanden sich gar drei kleine, gemütliche Wohnräumchen darin. Das Besondere war in der Tat die Unterkellerung unter dem Rollenkranz, zu Lagerungszwecken erbaut. Lediglich in einer bestimmten arretierten Stellung der Mühle konnte der Keller erstiegen werden. Man hatte hier keine Holländer-Mühle vor sich, von denen viele unterbaut waren. Das hier war eine ganz eigenartige, ja eigenwillige Aufbauform. Da die Mühle nicht mehr genutzt wurde, befand sie sich ständig in ihrer festen Stellung und verfiel allmählich. Die alten vier mächtigen Flügel nahmen sich längst kaputt und zerschunden aus, sie wirkten bereits aus der Ferne wie skelettiert.

Auf dieses Ungetüm lief ich nun langsam zu. Es ging nun sanft wieder abwärts, und die Winde heulten noch stärker um die Ohren. Bizarr empfand ich jäh eine Unschärfe; ich sah nicht mehr richtig. Alles wirkte verschwommen, was ich mir noch heute nicht erklären kann. Hinzu kam, dass es mir erschien, als entferne sich der alte Bau von mir, je näher ich herankam. Bemerkenswertes, schockierendes Erleben eines Wahnes…

Wankte ich nun gar? Sah ich nur noch Graubilder vor mir? Wirklich - ich erkannte alles lediglich noch in helleren, grauen und schwarzen Tönen - das welke Gras, soeben noch am Fuße des Hügels als GRÜNLICH gesehen und erkannt, zeigte sich itzo grau! Was war das? Während des Gehens schloss und öffnete ich abwechselnd wie im Krampfe die Augen, doch es nützte nichts. Mein rotes Taschentuch - ich zog es hervor. Es sah dunkelgrau aus…

Ich konnte nur mit dem Kopfe schütteln. Doch ein Bemühen erfolgte, dies nicht ernst zu nehmen. Und das sich das Bauwerk aus dunklem Holze nun meiner Meinung nach entfernte, statt näher zu gelangen, da ich ja darauf zu lief, schien mir plötzlich gar nicht mehr so bedenklich. Irgendetwas in mir war vermutlich auf den Kopf gestellt, die schlechte psychische Verfassung trug sicherlich die Schuld daran.

Mir kamen, während ich fiebrig auf eine kahle Baumgruppe rechts neben mir stierte, die drei Wohnräumchen in den gemarterten Sinn. Sie sollten meine Aufenthaltsgebiete innerhalb der Mühle werden - so hatte ich es mir zumindest vorgenommen. Farblos würden sie sein, muffig und voller Staub. Unbehaglich mit Bestimmtheit. Doch immerhin mit primitiv zusammengezimmerten Möbeln ausgestattet, wie mir bekannt war. Ich würde es noch sehen.

Dann kam ich der Mühle auch tatsächlich näher, bestimmt die ganze Zeit über schon. Doch erst jetzt geschah es ohne groteske Täuschung. Mein Taschentuch sah wieder rot für mich aus. Blutrot gar…

Näher heran! Noch näher! Ja, ich wankte. Wie ein Betrunkener lief ich. Warum nur versagte mir so denkwürdig der Gleichgewichtssinn? Eine Antwort gab es nicht für mich. Wie entsetzlich der Himmel wirkte! Noch nie zuvor hatte ich Wolkenungeheuer erschaut, die bedrohlicher gewesen wären als jene über mir. Und als ich nach vorne blickte, voller Schauder, geriet das Bild so fürchterlich ins Blickfeld: Der obere Teil des Baus ragte schon in Nebel- oder Wolken-Schlieren hinein. Ein absolut quälender Anblick. Ein Ambiente völliger Geisterhaftigkeit. Ein Fühlen wie am Ende von Welt und Zeit. Und dieser wuchtige finstere Klotz mit seinem linkerhand gelegenen Galgen schoss vor meinem Körper auf wie ein gigantisches Bollwerk aus der Geisterwelt. Wie viele Spinnweben mochten darinnen sein? Wie viele Schaufeln voller Dreck würde man herausbefördern können? Und das Schlimmste: Was sollte ich hier wirklich? Hatte ich nicht vor, nun lieber zu fliehen? Ängste ließen mich zittern und der Anblick schien mich höhnisch in den Irrsinn treiben zu wollen. Vor mir zeigte sich alles nur in Finsternis. Das Fauchen des Sturmes wandelte sich in ein unbeschreibliches Hecheln, welches um die Mühle hetzte und wie ein Geräusch aus der Hölle klang. An diesem Orte würde jeder Massenmensch augenblicklich umkehren - nicht aber ich. Nein, das tat ich mir nicht an. Jetzt nicht mehr. Ich war schon längst zu weit gegangen…

Ha - dieser verdammte, überhohe Müller-Galgen dort! Wie lang mochte der damalige Todesstrick für diesen Otto gewesen sein? Schon sehr lang, wenn er bis zur Mühlenwand baumeln konnte. Als ich so näher ging, teils mit Schritten her und hin, dabei nach oben starrte, dass es mir schon im Genicke schmerzte, zog gerade ein fast schwarzes Wolkengebilde vorbei. Die Silhouette des im Wind knarrenden Todesbalkens im Vordergrund bildete eine teuflische optische Einheit mit dem Geschehen am Firmament.

Ich war nun herangekommen, und in meiner Hand befand sich der Schlüssel zur morschen Tür. Die letzte Möglichkeit, doch noch umzukehren, war gekommen. Noch immer blickte ich aufwärts, hin zu den zerfetzten Flügeln, die sich mächtig streckten, zum Teil in den tiefen Wolkendunst hinein. Gebannt stand ich, in Ehrfurcht gar, und die Gedanken wirbelten um das Thema des vermeintlichen Inhaltes des Gebäudes. Nicht nur Staub, altes Holz, Mahlstein, Königswelle, Mehlboden, Sackaufzug, Stockrad, Mehlrohr, Hebetisch - dazu die drei Zimmerchen für den Aufenthalt, oh nein! Angeblich eine eigene Welt noch dazu - und zwar die schlimmsten Spukphänomene der Gegenwart, wie zumindest mein Oheim behauptete, der wahrlich kein Spinner, sondern unbedingter Kenner der Materie. Ja, da hinein sollte es gehen, und ehe ich noch länger in der Kälte stand, dachte ich mir einfach: `Gut, dann mal rein, alter Junge…´

Ich war hergekommen, um diesen Titan genialer Technik zu betreten, also tat ich es endlich. Der Fuß wurde auf die in der Luft hängende kleine Treppe gesetzt, die über dem Rollenkranz am eigentlichen Mühlenkörper hing, und am wackligen, noch verbliebenen Geländerstück zog ich mich hoch, direkt an die stinkende, spinnwebenumflorte Türe heran. Der alte Schlüssel tat seinen Dienst, und ich drückte das Brett nach drinnen. Das Geknarr dabei - im Verein mit den seltsam hechelnden Tönen des Windes - werde ich mein Lebtag nicht mehr vergessen können. Es wirkte wie Abschied von einer Dimension des Realen. Für mich bewiesen bereits meine Erlebnisse beim Anmarsch, die ich ja beschrieb, dass mit diesem zerfallenen Hort des Schreckens etwas nicht stimmen konnte. Nun hatte ich den Eintritt in das vermeintliche Reich harten Spukes getätigt…

Der eigentlich typische Geruch nach betagtem Holz und Staub empfing mich. Dazu ein absolut schwarzes Loch der Finsternis. Da aber die Tür noch aufstand und etwas Außenlicht eindrang, sah ich auf einem gleich hier stehenden Tische die zahlreichen Kerzen lagern, dazu gar einige Kerzenhalter mit stabilen Standfüßen. Rudrich hatte richtig gedacht, diese Dinge gleich neben den Einstieg zu platzieren. Es lagen auch reichlich Schwefelhölzer dabei, und so dauerte es nicht lange, bis ich meine erste brennende Kerze mit Halter in der rechten Hand hielt. Nun konnte ich auch die Tür wieder schließen, was ich tat. Gleich wurden die Geräusche des Windes leiser, doch das Gewimmer und Geächze war natürlich noch immer in abgeschwächter Form allgegenwärtig. Im Gebälk der Mühle hoch über mir knackte es bedrohlich, doch ich wusste auch, wie dauerhaft beständig das Material Holz war, wenn es richtig von Menschenhand zusammengefügt wurde.

Ich ging nun im Scheine meiner Kerze einige Schritte tiefer in die Mühle hinein, hin zu einer groben Bretterwand, die im Halbrund weiter führte und schließlich in die Nähe einer schiefen Tür einmündete, welche sich aus absolutem Schwarz heraus schälte. Jammernd klangen dabei die allgegenwärtigen, nie enden wollenden Geräusche, und das dicke, graue, fast schon pelzartige Netzwerk der Spinnen hing in zuckenden Fetzen über meinem Kopfe. Hier zog es an allen Ecken und Enden, und die Kerzenflamme bog sich immer wieder bedenklich um, so dass ich sie mit der freien Hand abschirmen musste. Glücklicherweise hatte ich auf dem Tisch mit den zahlreichen Kerzen auch vier oder fünf kleine Laternen entdeckt, welche dann vor Lufthauch schützen würden.

Nun stand ich also vor jener ersten Innentür mit der Vermutung, dahinter die Wohnräumchen vorzufinden. Warum also unschlüssig dastehen? Schnell hinein und heimelige Atmosphäre aufnehmen! Aber über diese Vorstellung schüttelte ich innerlich mit dem Kopfe, denn es würde nicht funktionieren mit der Gemütlichkeit. Schon hier an dieser Tür zog sich alles in mir in Gram zusammen, denn die Aura hier drinnen hielt mich bereits jetzt fest umkrallt. Eine Stimmung tiefer Sorge lastete in der muffigen Luft, und alles um mich herum schien mühsam einen Sterbeatem auszuführen. So war ich endgültig angekommen in jener vom Oheim so gemiedenen Welt ehemaligen Überschmerzes, der noch in der Gegenwart nachwirken sollte. Einen Toast aufs Grauen - ihn hätte ich nun am liebsten ausgesprochen, um mich selber ein wenig zu beruhigen.

In der Tat: Hätte ich in diesen ersten Momenten des betrüblichen Aufenthaltes ein Glas Wein in der Hand gehabt - ich würde der Finsternis, welche hier überall zu lagern schien, todesverachtend zugeprostet haben.

Vorsichtshalber kümmerte ich mich aber zunächst um die Kerzenflamme; ohne Schutz zeigte sich das wirklich zwecklos. So war ich an den Tisch mit den Gegenständen zurückgegangen und hatte die Kerze dann ins kleine, tragbare Laternengehäuse gesteckt. So lief ich nicht Gefahr, plötzlich völlig im Schwarz zu stehen.

Mit mehr Sicherheit ging es wieder hin zur Tür zum Räumchen. Die Hand wurde auf die verschmutzte Metallklinke gelegt, dann das düstere Brett unter schleifenden Geräuschen aufgezogen. Und es präsentierte sich der winzige, niedrige Verschlag, ausgestattet mit wackeligem Tisch nebst Stuhl sowie Schränkchen. Ein Fenster gab es, alt und eingestaubt. Ich schaute hinaus, und unter meinen Schuhen knarrten die Dielen. Und so konnte man sie auch hier sehen - die kalte, starre Totenlandschaft mit ihrem Winde, der das welke Gras da draußen in trauervollen Wellen gegen den fauligen Boden drückte. Es zieselte und knackte und knarzte alles - ich stand direkt im Wahnsinn… Gebückt die Haltung am Fensterchen, verloren die Gedanken im grambetäubten Hirn. Jedes Erinnern an die Thematik Spuk ließ mich itz tief schaudern. Seufzend wandte ich mich vom Anblick der Tristesse ab und ließ den Blick zur nächsten Tür wandern, welche ich ebigst gleich auftat. Die beiden übrigen Räumchen waren zu sehen - ausgestattet mit wohl einer ehemaligen Verbindungstür. Doch das Brett fehlte hier, man hatte lediglich den schmalen, niedrigen Durchgang vorliegen, durch den ich mich zwängte. Der dritte kleine Raum bog um eine Ecke ab und wirkte am gemütlichsten, wenn man den Begriff wirklich bemühen will in dem Zusammenhang. Die kleine Pritsche oder Liege gab es im mittleren ´Zimmer´. Das sollte also die Schlafstatt sein, wenn es denn dazu überhaupt kommen würde. Ich hatte zudem festgestellt, dass es in allen drei Verschlägen jeweils dieses kleine Fensterchen gab. Zwei davon waren gar mit einer verdreckten Gardine bedeckt.

Tief und fast unendlich gab sich mein Stöhnen, und die massierenden Daumen und Zeigefinger verrichteten ihren Dienst an der Stirn über der Nasenwurzel. Ich hatte die Augen zugedrückt und schüttelte immer wieder mit dem Kopfe. Dann aber stellte ich meinen Rucksack an der Liege ab, vielleicht nur, um irgendetwas zu tun. Hier gab es einen niedrigen Sims; auf ihn hatte ich die Laterne mit dem spärlichen Flämmchen gestellt. Ein Hocker befand sich am Fenster; auf ihn platzierte ich mich selber, wieder voller Unbehagen stöhnend. Nur eine Frage wirbelte durch meinen Kopf: Warum war ich hierher gekommen?

So saß ich denn, unter Staube und Spinnweben, vielleicht eine halbe Stunde lang reglos da. Unentwegt knetete ich mir die Stirne, als würde ich mir davon irgend etwas erhoffen können. Ab und an schaute ich auf, stierte grübelnd in die Dunkelheit der Räume hinein, spintisierte. Selbstgespräche führte ich, leise und murmelnd. Und ich fühlte mich alleingelassen von aller Welt an diesem Horte der Trübe.

Doch es war wohl besser, sich zu bewegen, zu handeln. Ich bekam den Eindruck nicht los, dass man - sobald hier einige Minuten nur gesessen wurde - in eine Art Starre verfiel, die immer stärker wirkte und vielleicht irgendwann einmal zur völligen Bewegungsunfähigkeit führte. Ein höchst unsinniger Einfall, doch unbedingt vorhanden. Wer wusste überdies, was hier tatsächlich Präsenz aufwies? Ich zumindest nicht… Und so verließ ich mit der Laterne die Aufenthaltsräume und begab mich, wieder über widerspenstig knackende Dielen hinweg, zu der Luke am Boden, die in die Unterkellerung hinabführte. Stand der alte Eisenkäfig noch da unten, in dem die gequälten Zwillinge gesperrt worden waren? Ich wollte es herausfinden. So zog ich die aufgelegte Klappe auf und stieg die schmale, steile Treppe hinab. Doch bereits auf etwa Mitte dieser blieb ich abrupt stehen. Denn von da unten waberte eine Atmosphäre herauf, die eigentlich nicht sein konnte…

Eine Aura tiefsten Grauens umgab mich schon einige Meter über dem Kellerboden, den ich noch gar nicht sehen konnte, denn das Licht reichte noch nicht tiefer. Und als es einen quäkenden Laut gab - zumindest glaubte ich, einen solchen vernommen zu haben - machte ich schleunigst kehrt. Wieder hinauf! Hinauf zu den drei Verschlägen!

Ich ahnte nicht im Entferntesten, dass es auch in diesen nun nicht mehr ruhig war…

So schlug ich denn die Bodenklappe zu, raffte mich mit meiner Laterne auf, dabei immer wieder einen Satz vor mich her sagend: “Die Höllen-Mühle - sie ist erwacht…”

Lange Minuten begriff ich jetzt gar nichts, und als ich - unbewusst übrigens - Schritte in den krummen Gang setzte - direkt auf die Tür zu den drei Zimmerchen hin - vernahm ich schon von außen eine merkwürdige, irgendwie identitätslose Stimme. Pestig hauchte sie etwas, hinter der verdammten Türe noch. Und als ich ganz nah war, hörte ich es genau. Nur ein Wort wurde gestöhnt…

“SÄURE! SÄURE!… SÄURE!!”

Ich erstarrte zur Salzsäule und tausend Eiskristalle rieselten meinen Rücken hinab. Ich machte mir keine Gedanken um die Bedeutung des immer wieder aufgesagten, gleichen Wortes. Vielmehr war ich bewegungsunfähig geworden durch lediglich einen Umstand: Das völlig Bizarre der Situation.

Jene Stimme wurde leiser, und bald hörte man nur noch ein eigenartig unrhythmisches Geklopfe. Dieses lief nun, linkerhand, die Bretter entlang. Unmittelbar an meiner Seite ging es schräg in die Höhe ab und schwand schließlich. Dort oben waren die Arbeitsbereiche der alten, längst stillgelegten Mühle.

Die Stille, welche jetzt herrschte, wirkte fast bedrohender als die soeben stattgefundenen Laute des ortsgebundenen Spukes. Nur der ewige Wind fauchte um die Bretter des grausigen Bauwerkes. Ich wagte kaum, die Tür vor mir zu öffnen, da ich neuerliches Grauen fürchtete, welches vielleicht jäh wie ein Wasserschwall einfiel. Doch der nüchtern denkende Forscher in mir gewann bald die Oberhand. Ich tat die Türe auf, betrat ´meine´ drei kleinen Reiche und ging ganz hinter in das letzte Zimmer. Hier nahm ich auf einem Schaukelstuhl Platz, der mir als das definitiv behaglichste Möbelstück hier erschien. Ich versuchte, das soeben Erlebte irgendwie zu verarbeiten, doch es gelang, wie man sich vorstellen kann, nicht. Das verflixte Wort `Säure´ tauchte in mir immer wieder auf. Als mein Blick nach rechts fiel, sah ich den Stapel Schreibpapier sowie Tintenfass und Kiel. Alles fein säuberlich abgelegt auf einem kleinen Schreibtisch mit Hocker. Der Oheim wollte ja, dass ich genau Tagebuch führte über die Dinge, die hier so vorfielen. Doch ich schüttelte nur müde das Haupt. Ich fühlte mich zum Aufschreiben viel zu matt. Es war besser, wenn ich es vorerst bleiben ließ. Zur Not konnte ich auch am Morgen Aufzeichnungen tätigen, da ich ja vorhatte, die ganze Nacht hier zu wachen. Bei einem Schlummer nach Sonnenaufgang am Morgen würde ich vielleicht frischer sein, doch im Ernst: Ich bezweifelte dies ernstlich…

Meine Taschenuhr zeigte bereits den Abend an, draußen war es dunkel geworden. Und es wurde noch schwärzer, so dass die kleine Laternenflamme regelrecht hervorstach. Mein Atem wurde heftiger und heftiger, und ich fühlte in mir eine eiskalte, tödliche Angst. Ein derartig intensives Gruseln hatte ich bisher noch nie kennen lernen müssen. Um die Situation abzumildern - denn mir ging neben ´Säure´ auch der Keller nicht aus dem Sinn, trat ich schließlich ans Fenster heran. Ich dachte daran, auch noch die übrigen Bereiche der Mühle in Augenschein nehmen zu wollen, als meine Aufmerksamkeit plötzlich abgelenkt wurde. Da draußen, in der Dunkelheit der trauervollen Landschaft, ging jemand. Eine Person, die schräg über die Ebene wandelte, näher kam, leicht von selbst heraus leuchtete! Was war das?

Es erschien mir nun wie eine Frau. Ja, alle Bewegungen nahmen sich ganz und gar unmännlich aus, und da diese - ich möchte sie nennen ´Erscheinung´ - immer noch näher kam und wie gesagt eigenartig Licht ausstrahlte oder glühte, erkannte man es klar: Eine weibliche Figur, ja eine alte Frau. Gebückt ein wenig, und mit - ich traute meinen Augen kaum - aus altem Kleide herauslugenden Hängebrüsten… Das Haar war wild und schien mir rötlich, und kurz - ganz kurz nur - konnte ich in das Antlitz schauen.

Ein Gesicht wie von einer Hexe. Wie man sie sich zumindest als Kind immer vorgestellt hatte… Was dies nun zu bedeuten hatte, wusste ich nicht. Und schlagartig wurde die merkwürdige Gestalt von der Dunkelheit einfach geschluckt. Verschwunden. Von einem Moment zum nächsten… Langsam wandte ich mich vom Fenster wieder ab und drehte mich langsam im Raume um, denn ich hatte plötzlich das Gefühl gehabt, direkt hinter mir stände jemand…

Ins Finster wurde geblickt. Aufmerksam, gespannt. Doch zu sehen war nichts. Auch war das Gefühl geschwunden, ganz jäh, es wäre jemand hier. Ich sah das schwache Laternenlicht, Möbel, Staub, die niedrige Decke mit ihren Spinnweben. Eigentlich war das alles. Kein Klopfen mehr jetzt, keine übermäßig dichte Atmosphäre. Nur Stille, vorgetragen vom Geseufze des Windes. Doch es wurde draußen nun richtig dunkel, und wer wusste, was noch nahen würde… Ich setzte mich auf den Rand meiner Pritsche, die mit einer alten, aber sauberen Decke belegt war. Hier überlegte ich. Mir ging diese hexenartige Figur da draußen in der einsamen Landschaft nicht aus dem Sinn. Ein altes Weib war es für mich, mehr nicht. Doch dass ich hatte ihre alten, schlaffen Hängebrüste sehen dürfen, warf Fragen auf. Irgendetwas klickte auf in meinem Hirne, doch ich entsann mich an nichts Genaues.

Dieses unsagbar hässliche Gesicht - nochmals tauchte es auf, vorm geistigen Auge. Runzeln hatte man gesehen, welke alte Haut, wirres und feuerrotes Haar, was verwundern ließ. Man hätte graue Strähnen erwartet, licht und verschlissen. Außerdem erinnerte ich mich plötzlich an die Stütze, die sie in der Hand gehalten hatte. Einen Holzstock. Ein jämmerlicher Anblick von der ganzen Sache her, doch trotzdem im seltsamen Kontrast stehend zu diesen ungewöhnlich ´frisch´ ausschauenden Haaren. Es gelang nicht, mir einen Reim auf dieses Ereignis machen zu können. Und ich legte mich auf der Liege zurück, schläfrig werdend. Und in der Tat nickte ich ein.

Mir träumte von dem Hexenkopf. Im dichten Dunkel schwebte er, umgeben von einem Gewirr grauer Fäden, die umherwirbelten. Ganz hinten schienen mir Baumleichen zu sein. Der Kopf stierte böse, und das Schlimmste waren die blutunterlaufenen Glotzer. Sie schienen mich durchbohren zu wollen. Dann riss sie das Maul auf, und mir gelang der Blick auf die verfaulten Zahnstümpfe. Ein mumpfiger Gestank wehte aus dem schwarzen Loch heraus - dann ein Kichern. Ein absolut irres Kichern, welches lauter wurde. So laut, dass ich aus dem Schlafe schreckte und entsetzt in die Höhe fuhr…

Es kicherte noch immer. Hier im Zimmerchen…

Mir erschien es wie eine Fortsetzung aus dem Alptraum. Das Kichern der zerfetzten Fratze des Todes!

Still war es nun. Nur das ewige Knarzen und Knacken und Stöhnen. Die Kerze in der Laterne zeigte sich als kurzer Stumpf. Meine Taschenuhr verriet mir, dass ich etwa 20 Minuten gedämmert hatte. Ich wusste, dass in den nächsten Minuten die Kerze erlöschen würde, doch wagte ich das Aufstehen nicht. Dieses wahnsinnige Gekicher lag mir noch immer in den Ohren. Irr hatte es geklungen, vollendet verrückt sowie überböse. Und freilich kam mir der Gedanke, dieses alte Hutzelweib würde nun - in diesen Augenblicken - gichtfingrig durch die Finsternis der Höllen-Mühle schleichen, tastend nach meinem Körper, um diesen zerreißen zu können.

Ich kroch unter die Decke und streifte die Schuhe ab, die auf den Holzboden plumpsten. Nein - ich würde jetzt nicht aufstehen und eine neue Kerze holen - nie & nimmer.

Jäh ebbte wieder diese verdammte Stimme hinter meinem Rücken auf. Es schien hinter der Wand hervor zu kommen. “SÄURE!! SÄURE!!…” Dann wieder das Klopfen wie von Fingerknöcheln. Ich zog mir die Decke über den Kopf, wie es eigentlich ein ängstliches Kind zu tun pflegt. Das Klopfen wanderte wieder ab in Richtung des ersten Zimmers und schwand dort. Es verhielt sich ähnlich wie beim ersten Stattfinden des Phänomens. Und es ging wirr zu in mir, sehr wirr. Der Hexenkopf spukte noch immer herum, ich sah die Hängebrüste. Dazu klangen die Säure-Flüstereien in mir nach, auch das Geklopfe. Verdammt - ich hatte meinen Spuk! Elendig hart bekam ich ihn präsentiert. Die große Frage hieß, ob ich willkommen war oder eben nicht. Für Letzteres hatte ich eher ein Gefühl…

Nun verhielt es sich wieder ruhig in der Mühle. Doch nur kurz. Denn plötzlich verlöschte - wie erwartet - das Licht. Und ich vereiste. Die Tür dort drüben zum ersten Zimmer ging langsam und knarrend auf. Unsagbar entsetzlich knarrend, ganz so, als sollte das Eintreten einer gespenstischen Persönlichkeit damit stark untermauert werden. Ich konnte nur noch lauern. Warten auf das, was mich ereilen würde…

Sollten diese drei verstaubten Zimmer der Höllen-Mühle mein letzter Aufenthaltsort auf Erden werden? Ich wusste nichts, doch vernahm überdeutlich die Schritte, die sich mir, der ich in völliger Dunkelheit lag, näherten…

Ich versuchte, mich nicht zu rühren. Die Schritte aber, welche sich aus den jammernden Tönen des rüttelnden Windes hervorschälten, kamen langsam - überquälend zäh - an mein Lager heran… Ich tat etwas, was ich äußerst selten praktizierte: Ich betete. Und im Hintergrunde des eigenen Gemurmels das unentwegte Knarzen und Ächzen der Dielenbretter unter der Last des vermutlich ankommenden Geschöpfes oder Wesens…

Kurz darauf verhielt es sich plötzlich still. Keine tappenden Geräusche mehr, kein zugehöriges Geknarre des Fußbodens. Ruhe. Irgendwie erleichtert seufzte ich auf. Dann erhob ich mich voller Aufmerksamkeit und tastete mich schleunigst, nachdem ich mir die lichtlose Laterne geschnappt hatte, in Richtung Eingangstür zur Mühle. Dort befanden sich weitere Laternen, die ich nun alle mit brennenden Kerzen bestückte und in den drei Zimmern auf Möbelstücke verteilte. Sanftes Licht schien nun überall. Eine wahrlich gruselige Ausleuchtung dieser Todesmühle, denn nun kamen Schatten hinzu, die sich zaghaft wegen der leichten Flammenbewegungen her- und hinrührten. Doch in letzte schwarze Ecken und Nischen vermochte das Schwachlicht nicht zu sickern. Hier gab es noch tausende unbekannte Punkte, auf denen sicher Schlimmeres lauerte als Spinnen oder Ratten…

Die entsetzlichste Frage, die für mich noch immer nicht geklärt vorlag (ich sprach sie bereits an): War ich hier willkommen oder nicht? Ein Thema, zu dem ich nichts, aber auch gar nichts, aussagen konnte.

Im letzten Räumchen stand ich alsbald am Fenster und erschaute den düsteren Müller-Galgen. Meine Fantasie beflügelte mich beim Anblick des Leichengebälks auf seltsamste Weise, denn zuckend und jäh glaubte ich in geisterhaften Intervallen den steif gefrorenen, gerichteten Sünder zu erkennen, wie er weit im Wind ausschwang - bis nah an die Wand heran. Allerdings waren keine Geräusche zu vernehmen, hier knallte wohl nichts an die Bretter. Meine graue Einbildung foppte mich arg. Aber den Blick vom Galgen nehmen konnte ich nicht, obwohl sich bald keinerlei grauenvolles Bild mehr heraufspintisierte. So stand ich denn da und grübelte über die Unterkellerung nach, die mir solch tiefen Schrecken eingejagt hatte. Sollte ich einen weiteren Versuch wagen, das Loch da unten genauer in Augenschein zu nehmen? Eigentlich stellte dies meine Pflicht dar, letzten Endes bekam ich reichlich Geld für die Untersuchung. Allerdings hafteten mir eine derart tiefe Melancholie und Müdigkeit an, dass ich es einfach nicht vermochte - zumindest im Moment nicht. Immerhin - ich hatte mich jenem Pfuhl des vergangenen Grauens schon intensiv angenähert, wenn ich denn auch noch nicht auf dessen entsetzlichen Boden gestanden. Nein, mir war es - zumindest in diesen Momenten bekümmertster, erstarrter Grübelei - nicht möglich, ein Hinuntergehen auch nur im Entferntesten zu erwägen. Im Gegenteile: Vielleicht, so dachte ich, würde ich das Wagnis überhaupt nicht auf mich nehmen, mir es selbst versagen. Wozu auch sollte es getan werden? Das Geld stand mir zu, in allen Fällen. Das war vereinbart. Und ich sollte, auch dies hatte mir der Verwandte ausdrücklich ins Gewissen geredet, nichts unternehmen, in dem ich auch nur leiseste Gefahr sah. Hier stand ich definitiv auf sicherem Ufer. Dennoch schlich sich mir neben Unbehagen auch Unzufriedenheit ein. Eine leise Neugier gab es. Auf das, was sich ganz unten verbergen mochte…

Die Spielereien der Gedanken wurden träger und träger, und das Verlangen nach Schlaf gewann eine unbarmherzige Oberhand. Zumindest setzte ich mich deshalb erst einmal auf den Rand der Liege, mir die Schläfen massierend. Ich durfte nicht unaufmerksam werden, dies lag auf der Hand. Das bereits erlebte, wenn es denn auch wenig war, ließ mich frösteln. Traurig schüttelte ich das Haupt. Ich - der immer Spukbesessene - stellte sich auf einmal die Frage, was es für Sinn machte, solch dunkle Phänomene zu untersuchen… Ich hatte, was ich jahrelang herbeigesehnt: Den Aufenthalt in einem echten Spuk-Gebäude. Doch tiefe Zufriedenheit darüber - so, wie ich mir das immer ausgemalt hatte - stellte sich mitnichten ein. Das Gegenteil, ich sagte es bereits, zeigte sich längst. Doch plötzlich erschallte wieder ein Geklopfe!

So heftig und unvermittelt war es gekommen, dass es mich schier durchrüttelte. Hinter mir schallte es auf, oberhalb der Liege an der rissigen Holzwand.

POCH POCH POCH… POCH POCH POCH…

Ein Dilemma! Ich vergrub das Gesicht unter meinen Händen, saß nur still da und hörte neuerlich das Wort: “SÄURE! SÄURE!”… Mir stellten sich sämtliche Nackenhaare auf. Der Spuk hatte mich wieder.

Alles, wirklich alles, stürmte herrisch auf mich ein. Die Landschaft vor der Höllen-Mühle, sämtliche Geräusche, die erdrückende Enge der drei Zimmer, die muffige und staubgefüllte Luft, der Spuk selbst. Dann kam ein Sog dazu, der mich endlich dazu animierte, mich auf die Beine zu stellen. Warum mein Blick nun nach oben ging, war mir sehr rätselhaft. Da gab es die niedrige Decke. Und da… Ja doch - ich sah es schwach im Flackerlicht. Da waren doch Ritzen, oder? Ich ging näher, während um mich herum das Wort SÄURE tobte. Das Pochen, welches dazu noch von links kam, war drauf und dran, mich die Beherrschung verlieren zu lassen. Ich fühlte auf einmal Wut im Bauch, und das war gut so!

Diese eigenartige Stelle in der Holzdecke… Ich streckte mich und tastete. Dann drückte ich. Eine Klappe! Ich tat sie vollständig auf. Staub rieselte mir entgegen. Und da war schummriges Licht…

Erschrecken sowie Erstaunen zugleich erfüllten mich. Ein Hohlraum. Kurz entschlossen sprang ich ab und zog mich ächzend durch das Viereck. Unter mir erstarb das Geflüster des verdammten Wortes.

Hier war es noch wesentlich muffiger und düsterer, auch enger. Kriechend bewegte ich mich vorwärts - auf dieses Schummerlicht zu. Seitlich ging es plötzlich im rechten Winkel nach unten. Überall doppelte Wände… Diese Mühle präsentierte sich nun als bizarr verschachteltes Versteck mit ungeahnten Hohlräumen. Und da - ich stand nun auf den Füßen, nachdem ich über die Holzkante gerutscht war - erblickte ich eine zusammengekauerte Gestalt, die mir irr entgegen stierte… Im dunklen Anzug, bleich, bizarres ´Haarvogelnest´ auf dem Kopfe. Toddy, der Diener meines Oheims…

Mir hatte es die Sprache verschlagen! Diese jämmerliche Gestalt vor mir - sie hatte wohl die ganze Zeit über diese Klopfgeräusche erzeugt. Wahnsinniger!

“Was soll das?” rief ich laut. Meine Stimme klang in der Enge, in der man sich kaum drehen konnte, dumpf und unwirklich. “Was hast du hier zu suchen, Toddy?”

Der hagere Mann erhob sich umständlich und fuchtelte verwirrt mit den Armen. “Ich… ich…” Er redete abgehackt, zittrig. “Ich sollte das tun! Ich… ich sollte auf Anweisung Tobenbocks vor ihnen hier sein und ein wenig Geklopfe produzieren. Es… es handelt sich um eine Anweisung, die ich befolgen muss, um meine Anstellung nicht zu verlieren!”

Er schaute mich flehend an, und ich konnte dem armen Manne nicht mehr böse sein. Doch die Frage nach dem Warum stellte ich freilich noch. Ich bekam die bebende, furchterfüllte Antwort, mein Oheim hätte mich nicht enttäuschen wollen. Es sollten auf alle Fälle sofort ´Phänomene´ auftreten, gleich nach meinem Eintritt in die Mühle. Rudrich Tobenbock wollte nicht, dass ich nach einer ereignislosen ersten Nacht das Handtuch warf und mich abwandte vom Unternehmen.

“Und das Wort SÄURE?” fragte ich unter Erstarren. “Wie hast du das gemacht, Toddy? Es schwebte durch den ganzen Raum. Welche technische Apparatur hast du dazu genutzt?”

Der Bedienstete blickte mich entgeistert an. “Säure? Was ist mit Säure?” Sein Erstaunen, seine Unkenntnis - sie waren echt, keineswegs gespielt.

“Ja - Säure!” bellte ich. “Durch die Mühle klang ein geflüstertes, manchmal auch lauter ausgesprochenes SÄURE! Du hast das Wort also nicht ausgesprochen, Toddy?”

Er schüttelte heftig das Haupt. Im Licht der kleinen Laterne, die er neben sich stehen hatte, sah ich seine Kopfschuppen herab rieseln. Er verneinte meine Frage heftig. Mir wurde klar, was sich hier abspielte. “Du hättest keine Geräusche erzeugen müssen, Toddy. Hier spukt es in der Tat seit meinem Eintreten. Nur verstehe ich nicht, dass du das Wort nicht hören konntest. Das ist sehr seltsam!”

Der Bedienstete nickte. Und er fragte mich zögerlich, wie es denn nun weitergehen würde.

“Ich werde zurück zu meinem Oheim gehen, jetzt gleich. Zuvor aber werden wir kurz die Unterkellerung dieser Mühle aufsuchen! So wahr mein Name Phillip ist!”

Der Diener Tobenbocks starrte mich an, als würde er vom Wahnsinn gegeißelt. Er schien kurz vor einem emotionalen Ausbruch zu stehen, den ich itzo noch nicht einzuordnen vermochte. Zunächst ließ ich mir von Toddy erklären, weswegen es hier doppelte Wände gab. Der Mann konnte mir die Frage nicht genau beantworten, murmelte aber etwas von Übersiedlern, die wohl ein früherer Besitzer der Mühle verstecken wollte. Dies erschien mir etwas fragwürdig, und auch der Bedienstete war sich seiner Sache nicht ganz sicher, doch unterließ ich nun ein weiteres Nachhaken.

Toddy griff zu seiner Laterne und hob sie an. Unsere zackigen Schatten huschten im extrem schmalen Zwischenraum umher. Überall lagen Flusen und Dreck herum. Weiter hinten lagerten einige Gewehre im Dunkel. Es schien mir doch ein altes Versteck zu sein. Wir wandten uns um, und als wir uns an einer flacheren Stelle auf die Decke der drei Zimmerchen zogen, ging mein Blick kurz zurück zur Rundung der Holzwandung. Weiter oben, knapp über unseren Köpfen und schräg hinter jener Fläche, über die wir nun krochen, mussten die technischen Einrichtungen der Mühle sein, die ich eigentlich auch noch aufzusuchen gedachte. Die entsprechende steile Treppe hatte ich längst entdeckt, sie befand sich linksseitig der Haupteingangstür. Sie war auch mit einer praktischen Säcke-Rutsche ausgestattet, auf der gar noch altes Mehl als feine Schicht lag.

Schnell waren wir wieder an der Luke angelangt, die nach unten in die Räume führte. Meine Hände umkrallten den rauen Holzrand, und ich spähte vorsichtig hinunter. Unheimlich flackerte das Licht der kleinen Laternen. Rechts sah ich das Fenster mit seiner Schmutzgardine. Und hinter jener trüben Scheibe - eingerahmt von Schwarz - ein furchiges, zerfetzt aussehendes Gesicht. Jene alte Frau… Im gleichen Moment, als ich dies realisierte, war die Fratze wieder entschwunden. Die alte Vettel hatte ins Zimmer gestarrt! Wie aber war sie von außen an das Fenster herangekommen? Sie hätte eine recht lange Leiter dafür nutzen müssen… Ich schwang mich in den Raum und hetzte zum Fenster. Nichts. Da gab es keine Leiter. Hatte mich meine Fantasie genarrt? Und während ich noch kurz und unschlüssig grübelte, polterte hinter mir dumpf Toddy auf die Füße. Es folgte eine hetzende Flucht. Er stellte die Lampe ab, rannte auf und davon. Schreiend… Er verließ diesen Bau der Schrecken und eilte in die kalte Nacht hinaus. Ich sah durchs Fenster, wie er wie ein Hase davonrannte. Grotesk flatterten seine viel zu weiten Kleider im Wind. Bald war er meinen Blicken entwichen. Was für eine bizarre Nacht! Er hatte Angst, ja wahrscheinlich gar Todesfurcht. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Sicher eilte er zum Hause seines Herren zurück, vielleicht auch, um meinen Verwandten über die missglückte Mission betreffs des handgemachten Spuks zu unterrichten.

Ich schüttelte müde mit dem Kopfe, knetete mir abermals die Stirne und ging durch alle drei Räume drei- oder viermalig her & hin. Dann fasste ich den Entschluss, nochmals den Abstieg in die Unterkellerung zu wagen. Dieser Todesort gab sich in meinen Vorstellungen elitär wichtig. Wenn ich nur leise daran dachte, was dort geschehen war, wurde ich von tiefster Ehrfurcht vor der Parallelwelt des Unbekannten erfüllt. Ich musste einfach dort hinunter - und wenn auch nur für kurze Augenblicke. Aber die Füße sollten dabei schon den Kellerboden berühren, dies war mir wichtig.

Alsbald stand ich vor der Luke nach unten. Mir kam der Gedanke, was geschehen würde, wenn jemand die Windmühle aus der Arretierung löste, wenn ich dort unten war. Dann geschähe es nämlich, dass die Öffnung über dem Kopfe durch die Drehung des Gebäudes verschwände. Gefangen im finstersten Grauen wäre ich dann. Ich traute so ein Tun mittlerweile vielen zu - Toddy, meinem Oheim, auch der gespenstischen Hexenhaften, die für mich zwar irgendwie unwirkliche Züge aufwies, jedoch auf der anderen Seite wieder existent schien. Auf ganz eigene Weise existent…

Wie dem auch war, ich zerrte die alte Klappe hoch. Die Laterne wurde aufgenommen. Ich leuchtete in die Tiefe. Ein gähnend schwarzes Loch. Hinunter! Ich zwang mich zu diesem Schritt. Und neuerlich quoll diese verdammte Aura des Bösen an meinen Körper heran. Doch den Fuß gesetzt, einmalig, zweimalig, dritter Schritt. Noch weiter hinunter. Etwas schnürte mir den Hals ab. Etwas wie eine Atmosphäre absoluten Schreckens setzte mir unbarmherzig zu. Aber ich wollte ganz nach unten, wenigstens den Fuß aufsetzen, kurz in die Runde leuchten. Und dann schnell wieder nach oben. Wirklich schnellstens dem blanken Entsetzen entschwinden!

Nach endloser Minute erreichte ich den Kellerboden. Mayhemischer Gestank erfüllte alles. Und ich leuchtete wahrlich umher - brachte den Mut auf in jener Muffigkeit der Panik und des Terrors…

Während das Licht zuckte, ging ich vorsichtig ein paar Schritte tiefer in den Keller hinein, weg vom unteren Ende der steilen Stiege. Links erkannte ich alten, feuchten, muffigen Mauerstein, aus dessen Ritzen irgendwelche trockenen, toten Pflanzen lugten. Dann kamen einige verschimmelte Regale ins Blickfeld, auf dessen Brettern man wohl einst Arbeitsutensilien untergebracht hatte. Ich blieb dann stehen, denn es war mir zunächst unmöglich, weiterzugehen. Es nahm sich aus, als wäre die ohnehin schon kaum zu atmende Luft dichter geworden, als würde sie ein Vorankommen unterbinden wollen. Weiter vorne lag noch immer alles im Schwarz, der Blick konnte nicht hingelangen.

Ich streckte schließlich die Laterne weiter vor und machte mich richtig lang dabei. Angestrengt schaute ich, die Augen brannten mir. Und da konnte ich ihn grob erkennen, den alten, rostigen Eisenkäfig - das Gefängnis der einstigen Zwillings-Männer. Und kaum sah ich diesen, drang ein unheimlicher Laut von dort an mein Ohr. Es war wie ein leises, schauriges Heulen, voller Wehmut und Leid. Auf der Stelle kehrte ich um und polterte die Stufen wieder hinauf. Glücklicherweise hatte sich meine Befürchtung nicht bewahrheitet - die Höllen-Mühle stand weiterhin in ihrer Grundstellung.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, mir nun noch die ganze Mechanik des Bauwerkes anzusehen, doch ich wollte jäh zu Rudrich Tobenbock, um ihn aus dem Schlaf zu reißen. Und während ich keuchend aus dem ´Loch´ kletterte, kam mir noch immer der gespenstische Ton hinterher…

Ich verließ die Mühle, die Laterne zurücklassend. Toddy hatte während seiner Flucht die Holzeingangstüre aufgelassen, sie schwang knarrend im Wind hin und her. Ich schloss das Brett sorgfältig ab. Dann ging ich, sehr schnell und mich nicht umschauend, in Richtung des Hauses meines Oheims. Dabei war es mir, als würde mich das Geheul begleiten…

Irgendwie hatte ich keinerlei Zeitgefühl mehr. Ich sah die Umrisse des Grundstückes, des Hauses. Und es war mir mein Weg hierher lang und kurz zugleich vorgekommen.

Durch den tobenden Sturm hindurch kam ich erschöpft und schwitzend am Portale an. Auch dessen Schlüssel hatte mir mein Verwandter überlassen. Ich tat schwer atmend auf und stand nur kurz danach wütend im Schlafgemach Tobenbocks.

“Was sollte das?”, brüllte ich laut. “Warum schicktest du Toddy vor? WARUM?”

Der Mond schaute durch ein seltenes, größeres Wolkenloch, spärlich wurde die Szenerie vor mir erleuchtet. Der Mann im Bett bewegte sich ächzend. Dann hob er den Kopf an. “Phillip?”, fragte er. Ich bejahte zornentbrannt. “Was - was ist… Ist etwas geschehen, Junge?”

“Sehr wohl ist etwas geschehen!! Weshalb sollte Toddy Geräusche veranstalten? Warum sollte ich auf diese primitive Art getäuscht werden? Ist deiner Meinung nach alles Schwindel, was die Mühle betrifft? Ist es das?”

Mein Oheim erhob sich stöhnend aus dem Bett. In seinem langen Nachthemd wirkte er wie ein Gespenst. “Ich… Du solltest nicht enttäuscht sein, wenn es eventuell ruhig gewesen wäre dort… Still und lautlos… Mitnichten Spuk…” Er schaute traurig drein, wie ich trotz des Schummerlichts erkennen konnte. Eigentlich tat auch er mir plötzlich leid - was war ich nur für ein verdammt gutmütiger Mensch…

“Nicht enttäuscht sein sollte ich? Komm doch mit! Noch jetzt! Dein ganzer Hokuspokus war ohne Sinn! Es geht dort mehr um, als du es in deinen kühnsten Träumen erlebst! Los, raufe dich zusammen, fasse Mut, komme mit! Noch jetzt - in dieser Nacht! Willst du das Wort SÄURE hören? Dann komm gleich mit!!”

Fassungslos stammelnd stand der Oheim dort, doch dann begann er merklich zu zittern. Er kramte in seinem Nachttisch herum, dann hielt er mir ein altes Papier unter die Nase. Ich ging damit ans Fenster, um im Mondlicht die Stelle lesen zu können, auf welche der gichtige Finger Rudrichs gedeutet hatte. Ich hielt da eine alte Handschrift in der Hand, stammend aus den Unterlagen dieser Villa, wie mir der angstgeschüttelte Mann brüchig verriet. Es handelte sich um einen dünn unterstrichenen Absatz…

Und es stand dort zu lesen: - Die Verbindung zwischen Mühle sowie Anwesen scheint auf einer metaphysischen Ebene in der Tat zu existieren. Erwähnenswert ist noch das ´Todeswort´, welches hier SÄURE heißt. Bewohner der Villa kamen sehr grausam ums Leben, nachdem jenes merkwürdige Wort, welches wohl nichts mit Säure im herkömmlichen Sinne zu tun hat, hörbar wurde. Des weiteren sei Mora erwähnt, die ´Hexe des Sterbens´. Hier im Landstrich taucht sie von Zeit zu Zeit auf. Ihre Erscheinung kündigt ebenfalls einen Todesfall an, wobei diese düsteren Vorfälle mit der barbusigen Alten auch in der Nähe der umliegenden Ortschaften geschahen. -

Ich ließ das Papier sinken und starrte durchs Fenster nach draußen, wo sich gerade wieder ein wahres Wolkengebirge vor den Mond schob. Es war, als hätte man mir diese kurze Zeit relativer Helligkeit lediglich und extra für das Studium dieser Worte zugestanden.

“Nun weißt du noch mehr, Neffe!”, hauchte mein Oheim. “Und ich muss jetzt einfach raus hier nach jenem, was du mir gerade gesagt hast. Gehen wir einfach in Richtung Mühle! Vielleicht zerstreuen sich meine angstvollen Gedanken dabei…”

Ich blickte den Verwandten scharf und prüfend an. Ich verschwieg, dass sich irgendwo da draußen auch Mora herumtrieb. Das, was ich zu diesem Thema gerade eben gelesen hatte, war mir bisher nicht bekannt gewesen. Während ich versunken sinnierte und wieder durchs Fenster in die Nacht schaute, kleidete sich Rudrich Tobenbock im Hintergrund schnell an. Am Schluss warf er sich einen schwarzen, langen Mantel über, der ihm einen sehr verwegenen Ausdruck verlieh. Er stellte ruckartig mit beiden Händen den steifen Kragen hoch, dann meinte er nur entschlossen zu mir, dass wir gehen könnten. Mir war nicht entgangen, wie er vorher noch eine Taschenflasche härtesten Stoffes in eine Innentasche hatte gleiten lassen.

Wir verließen das windumtoste Haus. Nach einigen Metern straffen Ganges stolperte Rudrich über etwas, konnte aber in letzter Sekunde noch verhindern, dass er fiel. Der Leichnam Toddys hatte im Wege gelegen…

Wieder lugte kurz der Mond hervor. Dem toten Diener musste es sehr übel ergangen sein, teilweise war er der Kleidung entledigt worden, die wir aber im näheren Umfeld auf die Schnelle nicht herumliegen sahen. Ich drehte den Leichnam herum, da ich die schreckensstarre Maske des zerschlagenen Gesichtes nicht mehr sehen wollte - dazu hatte ich vor, die Todesursache in Erfahrung zu bringen. Als der Rücken frei vor uns lag, schluckte ich bewegt und richtete mich sofort auf, während Rudrich nur mehr ein leises ´Mein Gott!´ hauchen konnte. Die Wirbelsäule Toddys hing aus dem zerfetzten Rücken heraus und war dabei noch brutal durchgerissen worden… Mein Verwandter und ich schauten uns fassungslos an, wohl wissend, dass hier kein Tier am Werke gewesen war.

Da oben schwand wieder die Mondscheibe, und ich hörte einige trocken ausgesprochene Worte Rudrichs. “Dunkle Mächte… Schon immer meinte man von dieser Gegend hier, es wäre allgemein nicht geheuer. Schlagworte wie ´Dämonentum´ und ´Teufelsanbetungen´ fielen. Der alte Otto Müller wäre überdies wohl zeitweise vom Leibhaftigen geplagt gewesen… Lauter grauenvolle Dinge…”

Innerlich fror ich. Es war das beste, jetzt wirklich einfach voranzuschreiten - raumgreifend in die Ödnis stiefeln, Gedanken auszutauschen. Vielleicht würden dabei Ängste vergehen können. Wir liefen in Richtung Höllen-Mühle… Noch nie vorher hatte ich eine derartige Nacht gespensterhafter Umtriebe erleben müssen, und in jeder Sekunde fühlte ich, wie sich verwesende, aufgeschürfte Hände um meine Kehle zu legen schienen. Meinem Oheim erging es wohl noch wesentlich schlimmer, denn man hörte den Mann die ganze Zeit über leise stöhnen, wobei er sich immer wieder an die Stirn fasste. Und wir wurden langsamer, je näher wir der Anhöhe kamen, hinter der sich die sperrige Windmühle präsentieren würde - als dunkler Scherenschnitt mit Galgen…

“Ich kann nicht mehr…”, keuchte Rudrich erschöpft. Und wir blieben stehen, atmeten durch. Ein eigenartiger Geruch lag in der Luft - es stank nach alten Lumpen und Erbrochenem. Und dann vereisten wir… Aus größerer Entfernung noch vernahmen wir ein leises, kreischendes Klagen, welches näher zu kommen schien und sich immer heftiger aufschwang zu widerlich klingenden Tönen, die ein menschliches Ohr nur schwer ertragen konnte. Ich ahnte nichts Gutes…

Rudrich kennzeichnete ein hoher Erschöpfungsgrad - er hatte die Arme auf die Knie gestützt, stand also gebeugt da und schüttelte immer wieder mit dem Kopfe. Er murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Ich selbst ließ meinen Blick durch die Runde streifen. Im Teer der Nacht verloren sich alle Objekte wie Büsche und Bäume. Dahinter noch war das Geräusch, welches eine weitläufige Runde um uns zu ziehen schien, denn dieses Gekreische - ab und an mit einem schauerlichen Heulen vermischt - zog unwahrscheinlich, ja unnatürlich schnell, weiter. Bald befand es sich in entgegen gesetzter Himmelsrichtung zum ersten Auftauchen.

“Es umkreist uns!” flüsterte ich.

Rudrich hob den Kopf. “Ja. Und es kommt näher. Mora - die Hexe des Sterbens…”

Leise nickte ich in mich hinein. Langsam drehte ich mich um die eigene Achse. In den nun noch lauter werdenden Tönen mischte eine gewisse Wut mit, wie mir schien. Auch schwang ein tierähnlicher Klang auf. Höchst ungewöhnlich, bisher nie gehört. Die Alte mit dem feuerroten Haar und den schlaffen Hängebrüsten also…

“Sie soll der Legende nach unter der Erde wohnen.” schnaufte mein Oheim, sich endlich wieder aufrichtend. Er drehte sich nun ebenso langsam im Kreise wie ich, aufmerksam die undurchdringliche Nacht sondierend. “Bizarre Dinge schreibt man ihr zu. Sie soll vegetieren in einem pockigen, ausgehöhlten Stück verwesenden Fleisches, tief im Erdboden. Groteske Geschichten, mehr nicht. Wo sie wirklich herkommt, weiß niemand. Schon seit einigen hundert Jahren wird von ihr berichtet - sie trieb sich immer hier in diesem Landstrich herum. Als Verkünderin des Todes…”

Es wurde wieder leiser. Entfernte sie sich von uns? Wir hatten bisher noch keinen Rockzipfel von ihr zu sehen bekommen.

Dann geschah etwas. Ein flatterndes Geräusch lag in der Luft. Wie auf Kommando drehten wir uns in die entsprechende Richtung. Etwas flog gegen unsere Köpfe und blieb da hängen. Muffige Kleidungsstücke. Ich zerrte mir eine zerrissene Weste vom Gesicht, bei Rudrich war ein dunkler Mantel gelandet. Kleidungsstücke des toten Dieners Toddy.

“Nicht zu fassen…” zischte mein Oheim. “Welch ein bösartiges, abgrundtief hasserfülltes Geschehen!”

Ich konnte nur stumm nicken und ließ die Weste zu Boden gleiten. Wir waren längst nicht mehr Herr der Lage. Eine wühlende Unruhe ergriff Besitz von mir. Und plötzlich kam das Kreischen zurück - verdammt nah jetzt. Ich fuhr heftig zusammen. Meinem Verwandten erging es nicht anders. Eine abscheuliche Geräuschkulisse vor uns, doch zu sehen war nichts. Aber wir wurden umkreist - noch immer. Das Ding kam näher und näher! Jaulend, schrill, und in diesem Gemisch aus erregten Tönen hatte sich nun noch ein seltsames Klackern eingeschlichen, ganz so, als würde man unmenschlich schnell zwei Hartholz-Stöcke aufeinander schlagen.

“ICH BIN DES TODES!” kam es aus Rudrichs Kehle heraus. “DAS ALLES GILT NUR MIR!”

Ich konnte und wollte dazu nichts erwidern. Was hätte ich sagen sollen? Diese Nacht unlösbar scheinender Rätsel wollte durchstanden werden, am besten ohne weiteren Todesfall. Und so bewegte ich meinen Oheim zum schnellen Weitergehen. Doch was war klug? Rudrich meinte, zur Mühle zu wollen. Ich plädierte für offene Landschaft oder zurück zur Villa. Das Geplärre und Geschrei war nach grober Einschätzung vielleicht 30 Meter von uns entfernt.

“Zur Mühle will ich!” zischte Rudrich Tobenbock herrisch. “Ich will noch SÄURE hören! Wenn ich schon umkommen soll, will ich alle Omen erleben…”

Der Mann schwankte am Rande zum Wahnsinn. Und obwohl er sich auf eigene Weise beherrscht gab, spürte ich seine brachiale Angst. “Gut”, meinte ich beschwichtigend, während der wütende Sturm skurriler Laute um uns tobte. “Gut, gehen wir zur Mühle. Schnell!”

So stiegen wir denn die Anhöhe ganz hinauf, während die fürchterlichen akustischen Attacken weiterhin tobten. Sie begleiteten uns regelrecht, dann entfernten sie sich plötzlich. Die Nerven lagen offen. Alsbald entschwand die gesamte Aktion der vermeintlichen Mora. Windwehen blieb zurück. Und wie gesagt: Direkt gezeigt hatte sie sich nur mir in dieser Nacht, vielleicht auch Toddy. Rudrich jedoch war vom Anblick noch verschont geblieben, wobei ich aber voll der bangen Erwartung steckte, dass die Vettel Spiele mit uns trieb, ja sich auch nochmals zeigen würde. In ihrer ganzen unfassbaren Hässlichkeit.

“Es hat einen Toten gegeben!” meinte ich, während wir schnell dahin schritten. “Vielleicht ist es genug? Auch das Kreischen & Plärren ist ja nicht mehr vorhanden…”

Abrupt blieb mein Oheim stehen, und weit vorne konnte man schon undeutlich die schwarze Mühle erkennen. “Mag sein… mag sein… Ich… weiß nichts mehr… Und du auch nicht, Neffe!”

Er hatte Recht! Wir wandelten im Unklaren. Seltsamerweise fiel mir der Verwandte plötzlich um den Hals und offenbarte mir, dass sein Testament bereits verfasst sei. Seine gesamte Barschaft würde an mich gehen - und das Haus nebst Mühle würde zum freien Verkauf für jedermann stehen, wobei das Geld auch hier meiner Person zufloss. Die Dinge - so sagte er mir im zitternden Tone - wären bereits amtlich geregelt. Es war gut & schön, dass er mir dies sagte, doch darüber freuen konnte ich mich nicht. Das mächtige Schwert der Bedrohung, welches hoch droben schwebte, unterband freudvolles Gedankengut. Und als mein Oheim von mir abließ und den Blick hinüber zur Mühle schickte, entrangen sich seiner Kehle sehr angstvolle, gramschwangere Sätze. “Das ist alles ein großer Wahnsinn!”, hauchte er. Im wieder kurz vorhandenen Mondlicht erschaute man die schreckgeweiteten Augen des Mannes, und in einer seiner Hände befand sich die Taschenflasche. Rudrich trank, schluckte gierig. Und keinen einzigen Tropfen bot er mir an. Er benötigte den Alkohol ohnehin wesentlich intensiver als meine Wenigkeit.

“Diese Mühle… nein Höllen-Mühle… Die drei Zimmer, die Unterkellerung… All dies winkt und droht zugleich, lockt und stößt ab! Doch Neffe - ich will hin! SÄURE… Ich will das Wort hören! Will es selber hören! Wie es aus Dunkelheit herauf fährt, umher schwingt, ans Ohr dringt! Ich muss die Zimmer sehen! Nicht den Keller - nur die Zimmer! Denn wenn ich in den Zimmern bin, wird das, was unten lauert, ohnehin zu mir kommen! Schleichend, vorsichtig, ganz langsam… Wie ein fratzenhaftes, unaussprechliches Etwas, welches als Symbol einen Totenschädel bei sich trägt. Doch wenn es mich erreicht hat, wird sich die Schlinge zuziehen, ohne jedes Erbarmen, das ist sicher! Der Kopf wird schnappen, mich zerreißen, zerfetzen, ausweiden - was auch immer. Ich kann dem nicht entgehen, Junge. Diese ganze Verseuchung der Gegend durch dämonische Machenschaft - sie wird mich dahinraffen, ganz so, wie es in vergangenen Zeiten mit zahlreichen weiteren Bewohnern dieses gottverlassenen Fleckens Erde geschah. Sieh nur zu, dass nicht auch du zermalmt wirst… Zur Mühle jetzt!!!”

Er schleuderte die geleerte Flasche weg. Dann setzte er sich in Bewegung, nach vorn zur Mühle stierend. Das alles geschah gesetzt, langsam. Mir schien es fast, als würde er diesen Gang auskosten wollen… Und ja, ab und an stöhnte er nun, gleich dem, als würde er mit einem üppigen Rasseweib wälzend die Bettstatt beschmutzen. Rudrich war mir vollendet fremd geworden, und was in diesen finstrigen Momenten in seinem Gehirn vor sich ging, tja… Ich war froh darüber, es nicht zu wissen.

Ich blieb an der Seite dieses wild entschlossenen Mannes, der sich nun - wie mir schien - irgendwie allein dünkte. Er hatte sich darin verrannt, in den alten Bau zu gehen. Das zerzauste, längere Haar zuckte und zappelte unter den Stößen des Sturmes, der um die Mühlenflügel herum wieder die eigenartig hechelnden Geräusche verursachte. Noch wollte ich Vorschläge unterbreiten, schnellstens die Gegend zu verlassen, mit einer Droschke in die große Stadt zu fahren, auch, wenn dies Stunden dauern würde. Doch gleichzeitig war mir klar, dass sich Rudrich Tobenbock nun nicht mehr davon abbringen ließ, die drei Räume zu betreten. Jene verdammten drei Räume des Staubes und des Erschreckens!

So standen wir nun im Wind am Mülller-Galgen. An der Wand pochte es laut, ganz so, als würde der steif gefrorene Gerichtete - der Schnitter der eigenen siamesischen Söhne - baumelnd dagegen schlagen. Spuk in reinster Form! Rudrich Tobenbock sah sich das kurz an und nickte nur. Wissend…

“Die Töne ebben ab. Hörst Du, Rudrich?”

Der Mann nickte. Dann eilte er um die Ecke herum. Es ging hin zum Mühleneingang. Ich schwang mich die wackelige Treppe hinauf und schloss erschüttert auf. Das Domizil der Düsternis schlechthin tat vor mir nochmals das hölzerne, knarrende Maul auf. Wir zwei Gebeutelten betraten den Bau, ich half meinem Oheim dabei ziehend. Nur mit Mühe kam er ächzend bei mir an, ein Stück des morschen Geländers war dabei abgebrochen. Wir hatten die Höllen-Mühle verletzt…

“Ich… ich blute ein wenig an der Hand.” Mein Oheim zog ein Taschentuch aus der Hose und drückte es auf die Verletzung. Dabei erstarrten seine Gesichtszüge. “Neffe - welche Farbe hat mein Taschentuch? Welche Farbe?” Ungläubig schüttelte er das Haupt. Im Mondlicht erkannte ich einen wohl dunkelgrünen Stoff, was ich auch sofort aussprach. Der Mund meines Verwandten ging noch ein Stück weiter auf. “Ich sehe es grau…”

Nun also auch er. Warum? Was hatte dieses Phänomen für eine Bedeutung?

“Neffe - die Umgebung… Sie verschwimmt! Ganz eigenartig… Mir schwindelt… Stütze mich!”

Ich hielt den schweren Körper krampfhaft fest, der bedrohlich zur Seite sackte, hinein ins Mühleninnere. “Warte, ich setze mich an die Wand hier, sie hält mich etwas.” Rudrich ließ von mir ab und schwankte vor. Er saß nun im Dunklen an der rund gebauten Wandung, hinter der die Treppe nach oben in den Arbeitsbereich führte. Ich zündete in der Zwischenzeit eine Kerze an - nach wie vor lagen die nützlichen Gegenstände auf dem bereitgestellten Tisch. Ich drehte mich mit dem Licht. “Danke übrigens, Onkel, dass du…” Meine Bewegung erstarb. Rudrich war weg!

Mein Blick raste nach rechts. Die Tür zum ersten Aufenthaltsraum stand offen. Und im Türbereich stand auch mein Oheim. Gemurmel klang auf. Er meinte, wieder normale Farben zu sehen. Jedoch: Wie nur war es möglich gewesen, dass Rudrich innerhalb weniger Augenblicke derartig die Position hatte wechseln können - noch dazu aus der Sitzposition heraus, ohne jegliches Geräusch beim Aufstehen? An der Holzwand hätte es dabei eigentlich schaben und rascheln müssen… Ich verscheuchte meine Grübelei jedoch schnell. Die gesamte Lage war ohnehin schon abstrus genug. Was sollte ich mir unnötige Gedanken machen? Nun stand ich hinter Rudrich und schaute ins Zimmer hinein. Die kleinen Laternen schickten noch ihr schwaches Leuchten ab. Nur… Hatten sie nicht auf anderen Stellen der Möbelflächen gestanden? Ja, ich war mir sicher! Ich hatte diese alle nahe der Wand abgestellt, nun standen alle Laternen - ich prüfte in den drei Räumlichkeiten fieberhaft nach - am äußeren Ende der Flächen, zum Absturz bereit… Nie hätte ich die Objekte derartig idiotisch aufgestellt - es gab ja die Gefahr, dass sie gleich von den Tischen oder Kommoden fielen, da die Standflächen der Laternen halb ohne festen Untergrund waren. Ich rückte die Leuchtquellen allesamt in Ursprungsposition, wobei mir mein Oheim mit nichts sagendem Ausdruck auf dem Gesichte zusah. Ich erörterte ihm aufgeregt meine Beobachtung.

“Verwundert dich das, Junge? Vergiss nicht - du bist hier in der Höllen-Mühle. Vielleicht sollten wir sie nun auch endlich mal umtaufen…”
“Umtaufen?”
“Ja - in Todes-Mühle…”

Die Flammen in den Laternenkörpern begannen plötzlich zu flackern und zu blaken. Wir standen im mittleren Raum. Jetzt setzten wir uns lieber hin.

Mir kam es vor, als würde es ganz langsam-langsam-langsam - kaum merklich - dunkler werden. Mein Oheim, auf wurmstichigem Stuhle sitzend, sah mit leichenbleicher Gesichtsfläche zu mir herüber. Er atmete keuchend. Bei mir selbst setzte beschleunigter Herzschlag ein. Irgendetwas schien zu nahen… Die Holzwände um uns herum erschienen mir wie eine bösartige Bedrohung. Die niedrige Decke hingegen wirkte, als würde sie sich unaufhaltsam absenken - geführt durch einen geheimen Mechanismus. Ich wusste, dass ich mich täuschte. Meine Sinne narrten mich. Wieder einmal. Ich dachte an die Verfälschungen von Farben, dachte an Verwischungen des Gesichtsfeldes. Wir wurden nur gefoppt. Getäuscht. Hereingelegt. Das alles hatte mit üblichem Spuk schon längst nichts mehr zu tun…

Wir schwiegen beide. Die Kehlen gaben sich einfach zu trocken. Die Dinge, die wir hier durchlebten, erfuhren wohl nur wenige Menschen. Vielleicht war das auch besser so, denn wie viele Leute mit unbegreiflichen Phänomenen wirklich richtig umgehen konnten - psychisch vor allem - lag im Gebiet des Unklaren. Und nun, da wir reglos saßen, gesellte sich ein Laut hinzu, ein Ton aus dem Unsichtbaren.

Plumps!

Es hatte geklungen, als wäre ein mit nassem Heu gefüllter Sack auf den Holzfußboden gefallen. Wir blickten schlagartig in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Der Bereich der Tür zum letzten Zimmer. Sehen konnten wir dort nichts; das dünne Licht der kleinen Laterne hier im Raum reichte ohnehin gerade für eine äußerst spärliche Beleuchtung der Stelle aus. Doch es folgten schleifende Töne. Es war, als würde jemand einen Gegenstand - den schon genannten Sack oder gar eine Leiche… - mit sich ziehen, bis hin zum anderen Durchgang und dort ins erste Zimmer hinein. Da öffnete sich jetzt die Tür, das Geräusch ging hinaus in den Eingangsbereich, dann knallte das Brett nach erbarmungswürdigem Knarren zu… Ich schnaufte durch.
“Verdammt - die Tür machte zwar immer knarrende Geräusche, doch nie derartig intensiv…”
“Vielleicht klang sie früher einmal so, Neffe…”
Ich nickte schockiert in mich hinein. Drei Figuren wuselten durch mein Gedächtnis - Otto Mülle nebst seinen Zwillingssöhnen. Doch so sehr wir jetzt lauschten im Düster der Höllenmühle - die Schleiflaute blieben entschwunden. Vielleicht ging dieses Scheuern jetzt unten im Keller weiter…

“Es fährt fort, Junge! Sieh nur!” Der zitternde Zeigefinger meines Oheims wies in Richtung Wand mit Fensterchen. Ich musste meinen Kopf etwas drehen. Was ich sah, wollte ich zunächst nicht glauben. Unter dem Fenster auf dem schmutzigen Boden materialisierte sich etwas… Es wirkte zunächst wie zerfetzter grauer Stoff, alt und zerschlissen. Das alles ging geräuschlos vor sich. Ein kleines Etwas knüllte sich zusammen - wie ein Ball. Die Größe nahm zu. Wie Häute einer Zwiebel umschalten immer mehr ´Stoff-Fetzen´ den Kern, bis dort ein unförmiger Klumpen war, der allerdings nicht mehr auf dem Fußboden befindlich, sondern in Höhe von wenigen Zentimetern darüber schwebte. Ektoplasma! Dieses Ding hatte die Größe eines menschlichen Kopfes angenommen und bewegte sich nun vorwärts - in Richtung erste Türe. Es hinterließ dabei einen unangenehmen Geruch - faulig alt.

Die verdammte Tür ging erneut auf, wie schon vorhin, das Ding schwand in die Dunkelheit des Vorraums. Wieder das laute, nervtötende Knarren mit anschließendem Zuknallen der Tür. Fast atemlos saßen wir da.

“Was meinst du, Onkel, was genau das war?”
“Ich kann es dir nicht sagen, Junge. Auf jeden Fall eine Materialisation. Ektoplasma - das Material der Totenerscheinungen.”
“Otto Müller? Die siamesischen Zwillinge?”
“Vielleicht alle drei, Junge… Man weiß ja, wie bizarr Spuk sein kann. Zum Glück verzieht sich der Gestank wieder.”

Ich nickte befreit und verstört zugleich und ließ einen wachsamen Rundblick durch den Raum gleiten. Alles wieder ruhig, keine optischen Anomalien. Nur das Raunen des Windes. Doch jäh erschien es mir wieder so, als würden die Lichter dunkler werden… Ja, diesmal eindeutig! Die Flammen in den Laternen wurden zeitgleich allesamt schwach & schwächer. Letztlich brannten die Flämmchen noch gerade so, wie kurz vorm Erlöschen eines Dochtes. Und sie blieben nun so. Eine unwahrscheinliche, bedrückende Stimmung hielt nun den Raum erfüllt. Ich hörte, wie der Verwandte tief durchatmete. Fassungslos schüttelte er mit dem Kopf. Im Dunkel sah ich gerade noch, wie er erregt seine Finger knetete. In Staubluft saßen wir, innerhalb schmutzerfüllter, elendiger Kubikmeter. Das Grauen, welches sich einst hier zugetragen haben mochte, hinterließ nun seine unbegreiflichen Nachwirkungen. Ob wir von ´dem Anderen´ überhaupt bemerkt wurden, entzog sich hart unserer Kenntnis. Es gab die Fakten, die wir sehen, hören und riechen konnten - dazu beigemengt unsere beunruhigten Mentalwelten. Innerhalb eines Spukes zu sitzen ist ein Gefühl, das sich nicht wahrheitsgetreu auf Papier niederschreiben lässt. Und dann erklang das Wort, das Todeswort… SÄURE! SÄURE…

Mein Oheim zuckte merklich zusammen, und mir selbo war ebigst mehr als unheimlich zumut. Zwar hatte ich das Wort schon mehrmals vernommen, allerdings schien es itz, da der Verwandte mit in der Kammer saß, bedeutend eindringlicher, ja tiefer, in der Gesamtwirkung zu sein. Es schallerte rauchig durch den Raum, wir hörten es konkret viermalig. Mal von der einen, dann von der anderen Ecke kommend. SÄURE!

Rudrich erhob sich von seinem Platz, stand wie ein Stock da, lauschte. Doch das Phänomen war bereits zu Ende. Diesmal war es in der Tat sehr laut aufgetreten, ausgesandt von neutral klingender Stimme in normaler Sprechlautstärke. “So hab ichs auch gehört…”, hauchte der Mann verstört. “Gehört, und - ich fühle nichts. Keine Abscheu. Keine Furcht. Aber es gilt mir!”

Es entspann sich eine kurze, aber heftige Diskussion unter uns betreffs der tödlichen Wirkung des Wortes. Dann gingen die Kerzenflammen vollständig aus… Wir steckten fest im Dunkel. Doch von da draußen, vom Gebiete außerhalb der höllischen Mühle, drang das schnelle Stockschlagen an unsere Ohren heran, und hinzu gesellte sich ein herzzerreißendes Wehklagen. Mora war gekommen! Das Todeswort und sie. Und mein Oheim. Nun verlor der Mann die Nerven, denn von seiner Seite klang ein Schnattern auf, welches mit einer derartigen Angst angefüllt war, dass mir sehr bange wurde. Mir war nicht klar, wie der eben noch so beherrschte Mann jäh derartig umschwenken konnte, doch es nahm sich ohnehin egal aus, da es nun Schlag auf Schlag weiterging. Rudrich sprang auf, tastete sich durchs Finster, wollte zur Tür. “Neffe! Raus hier - schnell!”

Aufgestanden war ich längst, doch ich warf noch rasch einen Blick durch das Fensterchen. Da stand sie, leuchtend, glühend. Mora… Ihre Arme waren Stöcke, die schnell aufeinander hämmerten. Die Gehstütze trug sie diesmal nicht bei sich, doch ihre Hängebrüste lagen wie bekannt frei.

Rudrich Tobenbock hatte die Tür erreicht, nachdem er im Gang der Länge nach aufgeschlagen war. In der Hast musste er gestolpert sein. Nun schwang er sich ins Freie hinaus, und ich folgte ihm zwangsläufig, um ihn nicht ins Verderben rennen zu lassen. Das düstere Gelände da draußen war hell erleuchtet durch die Hexe des Sterbens, die sich nur 10 Meter vor uns befand… Fassungslos war ich stehen geblieben, während Rudrich brüllend in die Nacht flüchtete. Ich musste ihm hinterher, doch ich konnte es noch nicht. Mora faszinierte mich, ihr Anblick hatte mich erstarren lassen. Und diese wahnwitzige Gestalt sah derart haarsträubend aus, dass es jeden Menschen Zittern machte. Ein zahnloses Mundloch, weit aufgerissen und grausame Schreie entlassend. Dazu die ständig aufeinander schlagenden Ast-Arme, die schlaffe, wackelnde Brust. Die Gestalt in Lumpen gehüllt, Leichengestank ausstrahlend, pure Trauer sendend wie ein Klageweib - doch auf ihre, sehr heftige Art. Das Haar wild und feuerloh rot. Es zuckte im Sturm, der die Mühle hinter mir fast umzustoßen drohte. Das Gebälk dort ächzte, und die sparrigen Flügel gaben schier donnernde Geräusche ab. Wie in Trance drehte ich mich zur Mühle um, deren Tür hart auf- und zusprang. Der Bau schien mir gigantischer, ja schier ums doppelte angewachsen zu sein. Wahn! Dann löste ich mich, sah nicht mehr hinüber zur Hexe des Sterbens, sondern rannte, rannte, rannte - immer hinein in die Richtung, die Rudrich eingeschlagen hatte. Bald schon traf ich auf ihn. Er stand mitten in der Landschaft. Entrückt, wie unter einem Banne stehend.

“Zurück muss ich! Zurück zur Mühle, Phillip!”

Ich wollte den Verrückten festhalten. “Verdammt! Mora ist dort! Sie will dich vernichten!”

“Nein! Sie trauert um mich. Mein Tod ist unausweichlich.” Und mein Oheim hetzte zurück Richtung Mühle, von der noch immer glänzender Schein herüberstrahlte. Es stimmte ja: Die Hexe selbst tötete nicht, sie verkündete lediglich. Doch was, in aller Teufel Namen, wollte mein Oheim noch in dem verdammten Spuk-Gebäude, welches sich aufzublähen schien zu einem wahren Vorort der Hölle? Was blieb mir, wenn ich ihm beistehen wollte? Ich musste nochmals hinterher. Und so lief ich schnellerschnell dahin, mich wundernd, wie die Beine diese beachtliche Leistung verbringen konnten, obwohl es sicher die Verstörung war, welche da antrieb. Das knallende Weinen der Hexe schlug mir im Lauf entgegen, doch ich versuchte, weder hinzuhören noch hinzuschauen. Ich behielt die Tür im Blickfeld, die plötzlich abfiel und über die kleine Treppe mit geborstenem Geländer nach unten rutschte. Ich kam keuchend an und sprang zum schwarzen Viereck hinauf - hinein in den Schlund…

Die staubige Stickluft hüllte meinen Körper sofort ein. Es lagen undefinierbare Gerüche in der Luft. Hinter meinem Rücken - draußen auf der welken Wiesenlandschaft - erstarb jegliches aufdringliche Toben. Ich musste mich nicht wenden und nachschauen, um zu wissen, dass Mora jetzt nicht mehr dort stand. Und mit absoluter Klarheit wusste ich auf einmal, dass sich mein Oheim Rudrich Tobenbock unten im Keller aufhielt…

Die Klappe lag offen. Der Mann war hinab gestiegen! Und ich folgte ihm, wobei ich kein Licht benötigte, denn von dort unten waberte ein Leuchten herauf, wie von einigen Fackeln. Eigenartig nahm sich aus, dass zwar genau wieder diese sich mir entgegenstemmende Luft & Atmosphäre da waren, die mich wohl zurückhalten wollten, wieder nach oben drängen - doch es interessierte mich einfach nicht. Ich sprang ganz hinab auf den steinernen Boden, auf die absolute Talsohle der Höllen-Mühle. Ein Regal riss ich dabei um, mit Getöse fiel es in sich zusammen, wobei in dem undefinierbaren Licht die Staubwolken wirbelten. Dort hinten! Dort hinten in der Ecke… Dort musste sich dieser verdammte Käfig befinden!

Ich rannte kurz vor und blieb dann abrupt stehen. Blieb stehen bis zum bitteren Ende der Szenen, die sich mir hier nun offenbarten. Er war da, mein Oheim! Er stand im Käfig, leidend. Er schrie. Ich hatte keinerlei Ahnung, ob er mich sah. Er wirkte entrückt. Aus seinem schreienden Mund sabberten Bahnen von Blut. Und dann zuckte hinter meinem Verwandten die groteske Gestalt auf…

Ein Mann. Ein kräftiger, völlig nackter Kerl. Der war aber nicht allein, denn aus seinem bulligen, behaarten Oberkörper ragten links und rechts zwei hagere, zerfetzte Gestalten. Blutverkrustete, sich zuckend bewegende Figuren. Sie wandten sich ständig unter den mächtigen Oberarmen der Hauptfigur und gaben quätschende hohe Töne ab, die mir fast das Trommelfell zerrissen. Otto Müller mit seinen getrennten Zwillingen - als tobende Gestalt erschaffen von den unbegreiflichen Mächten, die hier in der Gegend existierten… Ich hatte den Eindruck, als säusele kurz das Wort SÄURE an mein rechtes Ohr. Ich konnte mich getäuscht haben…

Pranken fielen auf Rudrich. Kleinere Hände bohrten sich durch die Kleidung meines Oheims, dem nicht mehr zu helfen war, wie ich schon jetzt erkannte. Es knackte allgemein. Ein Gewirbel und Gebrülle von Fleisch in dem rostigen Käfig, der längst als kleine Hölle für sich stand. Ein unbarmherziger Gestank lagerte über dem reißenden Ereignis. Der Tod war nicht nur nahe - er befand sich nun hier.

Rudrich Tobenbock wurde innerhalb der rostigen Stangen auseinander gerissen. Ich bekam jene lautstarken, blutrünstigen Szenen lediglich mit schwarzweißem Sichtfeld präsentiert. Und während diese bizarre Materialisation der Hölle sich drehend & drallend auflöste, blieben von Rudrich im Käfig nur noch zerfetzte Körperteile zurück. Der Mann hatte mit seinen ureigenen Ahnungen völlig Recht gehabt. Er, der seit Jahrzehnten auf dem Vorhof des Gehörnten vegetierte…
_____

Ich selbst wohne nun schon etliche Jahre in der Villa. Ich besitze Geld, viel Geld. Doch in mir ist kein Leben mehr. Die verdammte Mühle dort drüben steht noch immer, doch ich habe nie wieder einen Fuß hineingesetzt. In diversen Aufzeichnungen Rudrichs fand ich Beschreibungen. Der Mann hatte ebenfalls erlebt, wie enge Verwandte in der Mühle umkamen - gemeuchelt durch den Gespensterdämon des einstigen Müllers sowie seiner Söhne. Diese Tatsachen bewegen mich nicht mehr. Ich stehe hier, leide nicht, existiere ohne Sinnfindung. Es ist egal, alles egal. Verstecken kann ich mich nicht mehr…

Oft stehe ich an meinem Lieblingsplatz im Hause - an den schönen Erkerfenstern. Ich erschaue die Trostlosigkeit, die Tristesse der winddurchkämmten, kargen Ödnis. Manchmal spiele ich dabei auf meiner Violine eigenartige Melodien. Gerade so, wie sie mir in den Sinn gelangen. Wie lange ich hier noch Zeit habe, weiß ich nicht. Irgendwann wird das Wort kommen. Irgendwann wird auch Mora wieder hierher finden. Dann - wenn sie gezählt sind, meine Tage…

ENDE

(Karsten Breitung, Sommer/Herbst 2006. Zu Buchholz.)

 

Zerbrösel-Pistole schrieb:
Hallo Leichnam,

du kannst deinen Text nicht derart formatieren. Oder um nicht von 'können' zu sprechen: Ich fände es wesentlich besser, wenn die Geschichte als ein Beitrag dastünde. Ob zulässig oder nicht, soll wer anders entscheiden.

Z-P


Habe ich gemacht, weil ich schon dumme Überraschungen mit Überlängen erlebt habe. (Stellen fehlten, Buchstabengewirr usw.)

Deswegen will ich auf Nummer Sicher gehen und bringe einen langen Text in Abschnitten. Habe ich auch schon bei anderen Texten hier so gehandhabt und wurde deswegen nicht verwarnt. Weswegen denn auch?

 

Habe ich gemacht, weil ich schon dumme Überraschungen mit Überlängen erlebt habe. (Stellen fehlten, Buchstabengewirr usw.)
Das liegt doch nicht daran, wie lange ein Text ist.
Habe ich auch schon bei anderen Texten hier so gehandhabt
Habe mir gerade deine gesamte Geschichtenliste durchgeschaut - es ist nur hier so :susp:
Weswegen denn auch?
Sinnlose Erhöhung der Beitragszahl vielleicht?

Ich hab ehrlich versucht, deine Geschichte zu lesen. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber du kannst mich einfach nicht packen. Sehr komisch. Je mehr ich lese, desto mehr sinkt meine Motivation, ich weiß nicht, woran das liegt, den schlecht ist der Schreibstil ja eigentlich nicht!

Sorry.

Tserk!

 

Oha - stimmt. Hatte mir eingebildet, "Und Eiter trieft vom Totenkopf" als Stückwerk gepostet zu haben. War doch nicht so. Und nein: Beitragszahlen sind mir absolut sche...egal! Ob ich nun 5 Millionen Beiträge stehen habe oder 14, juckt mich nicht die Bohne.

Gruß Leichnam

 

Hallo Leichnam,

mir hat deine Geschichte echt super gefallen, bin auch mit dem Schreibstil sehr gut klargekommen. Wundert mich eigentlich, da ich sonst bei etwas geschwollenen Texten nicht so motiviert bin, aber du hast mich gepackt. Wirklich Kritik kann ich also leider nicht geben.

Was mich noch interessieren würde, wie bist du ausgerechnet auf Säure gekommen?

mfg
pina colada

 

Grüße dich, pina colada!

Den ganzen Text gelesen? Thanx!!! Ich glaube, da bist du bisher allein.

Wegen SÄURE: Ich versuchte, mir Worte vorzustellen, die gewispert und geflüstert sehr unheimlich klingen. Ich wisperte und flüsterte beim Schreiben also vor mich hin, als es um dieses Problem ging. Irgendwie fiel mir auch das SÄURE ein, ganz spontan. Ich flüsterte und wisperte auch dieses Wort vor mich hin. Und siehe da: Nichts klang unheimlicher als SÄURE... (Zumindest meiner Meinung nach.)

So einfach war das.

Gruß vom Leichnam

 

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